Die interaktiven Leiden des jungen Werther

Selbstmordforen im Internet

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Suizidalität als Medienwirkung war trotz des häufig zitierten Werther-Effektes ein wenig aus der Mode gekommen, doch jetzt hat der Spiegel das Thema für sich neu entdeckt. Gleich zweimal in drei Monaten waren sogenannte "Selbstmordforen" im WWW Gegenstand einer größer angelegten Berichterstattung.

Suizidalität von Jugendlichen ist ein ernst zu nehmendes Thema: Selbstmord ist in Deutschland die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter. Der Imitationssuizid könnte sich sogar als einer der wenigen nachweisbaren Medieneffekte erweisen. Allerdings sind im Zusammenhang mit der Berichterstattung im Spiegel auch die Art der Berichterstattung, die Reaktion der deutschen Netzwelt auf die Berichterstattung, und die Rückkehr der Eigengefährdung in die Gruppe der gefährlichen Aspekte der Mediennutzung zu beachten.

Der Bericht im Spiegel 51/2000, Sterben ist schön!, war erschreckend schlecht recherchiert. Ein Anzeichen hierfür ist die Vorliebe der Reporter für Zahlenmystik: 3222 war lediglich die Identifikationsnummer des ersten Todesforums beim Anbieter Parsimony. Ansonsten spielt die Zahl keine Rolle, wie im Artikel impliziert wird. Aber die Reporter scheinen ganz versessen darauf zu sein, den Code der von Ihnen implizierten Selbstmordszene zu knacken: "Sechs Tage vor ihrem gemeinsamen Tod ... das Video '187 - Eine tödliche Zahl'." Aha, wieder eine Zahl ...

Das Bestreben, den Sprachgebrauch der Benutzer der Foren zu verstehen, ist nachvollziehbar, handelt es sich doch offensichtlich um einen esoterischen Sprachgebrauch, der dazu dient, Außenstehende auszugrenzen. Nur ist das Verstehen eines fremden Sprachgebrauchs eben keine triviale Angelegenheit. So viel sollte eigentlich von den Erkenntnissen der Sprachphilosophie des XX. Jahrhunderts inzwischen zur Allgemeinbildung gehören.

Das Dilemma ist aus der Auslandsberichterstattung bekannt: Durch die größere Mobilität der zur Produktion notwendigen Technik wurden im Laufe der Jahre immer mehr Auslandsredaktionen geschlossen und durch mobile Einsatztruppen ersetzt. Nachteil: Den nur für kurze Zeit am Krisenherd Anwesenden fehlt es an dem Hintergrundwissen, auf das eine stationäre Redaktion zurückgreifen konnte. Ähnliches passiert nun in der Netzwelt: Niemand ist stets vor Ort, nur wenn ein Brandherd ausgemacht wurde, dann wird eine punktuelle Berichterstattung ohne erforderliches Hintergrundwissen betrieben.

Der zweite Artikel, Wie hänge ich mich richtig auf?, ist pointierter geschrieben: Er verzichtete auf die x-te Beschreibung der Dark Wave-Szene als Szenario. Als Neuigkeit - und als Aufhänger im wahrsten Sinne des Wortes (s. Titel) - kommt hier nun die Vermittlung von geheimem Wissen hinzu: In einer Gesellschaft, in welcher der Freitod als Handlungsmöglichkeit tabuisiert wird, ist folgerichtig auch das hierfür nötige Wissen tabuisiert.

Tabu meint hierbei etwas, das man unter keinen Umständen tun darf, ohne eigentlich recht zu wissen, warum nicht. Über ein Tabu wird nicht diskutiert. Ein Tabu muss im übrigen nichts Schlechtes sein, z. B. schützt das Inzest-Tabu vor Erbkrankheiten. Es ist jedoch wichtig, den Tabucharakter des Freitodes anzuerkennen und festzuhalten, dass ein Tabu letztlich auf gesellschaftlicher Übereinkunft basiert. Für Menschen, die sich nicht als Teil dieser Gesellschaft definieren, hat das Tabu keine Gültigkeit. Im Gegenteil: Die freiwillige Stigmatisierung durch Tabubruch kann sogar eine identitätsstiftende Funktion haben.

Traditionelle Medien sind auf Konsens angewiesen, d. h. die von ihnen vertretenen Meinungen müssen Akzeptanz bei vielen Menschen (sprich: Käufern) finden. Dementsprechend wird mit Tabus vorsichtig umgegangen. Im Web, wo ein jeder mit minimalen Voraussetzungen publizieren kann, verhält es sich anders. Hier kann ein jeder ohne Bindung auch nur an einen minimalen gesellschaftlichen Konsens publizieren, weil die Kosten, die für ihn entstehen, so gering sind, dass das Produkt sich selber genügen kann.

Meinungen benötigen Bestätigung, um sich zu festigen. Sogenannte "irrige", vom gesellschaftlichen Konsens abweichende Ansichten finden im unmittelbaren sozialen Umfeld nur selten Bestätigung. Durch die Nutzung des Internet wird diese Kontrollfunktion des sozialen Umfeldes (Eltern, Freunde, Arbeitskollegen) jedoch relativiert: Wer keine Bestätigung im sozialen Nahbereich erfährt, kann seine Meinung im Netz verifizieren lassen: aktiv, in dem er selbst publiziert, und passiv, durch die Lektüre entsprechender Inhalte. Die Frage ist nun, ob wir dies generell für wünschenswert halten oder nicht. Im Fall der "Selbstmord-Foren" wohl nicht, aber: Können wir von diesem Fall auf alle Diskussionen außerhalb des gesellschaftlichen Konsens schließen?

Ein weiteres Thema, das in dem zweiten Artikel angesprochen wird, ist das gesellschaftliche Vertrauen in die Internetkommunikation. Auf die Feststellung, dass es innerhalb "der Chatrooms sogenannte Flüsterräume (gibt) - abgeschottete Bereiche, in denen sich zwei Personen unbelauscht von anderen unterhalten können", folgt das Bedauern, dass "wenn es der Polizei im Einzelfall doch einmal gelingt, solche 'Flüstereien' mitzulesen" kaum eine "Beihilfe zum Selbstmord im Sinne des Strafgesetzbuches nachzuweisen" sei. In jedem anderen Kontext wären hier auch wohl im Spiegel der Begriff "Überwachungsstaat" gefallen. Dass dies nicht passiert, mag auf das schreckliche Thema und die Hilflosigkeit der Gesellschaft in Bezug auf die Kontrolle über die Mediennutzung von Jugendlichen zurückgeführt werden. Dennoch wird deutlich: Es geht um mehr.

Privatheit, verstanden als das Recht, auch "unter vier Augen" kommunizieren zu dürfen, basiert auf gesellschaftlichem Vertrauen darauf, dass die kommunizierten Inhalte legitim sind. Deswegen wird in unserer Gesellschaft auch nicht jedem, dem psychisch Kranken eben so wenig wie dem Kriminellen, ein Recht auf Privatheit in diesem Sinne zugestanden. Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob der spezielle Fall ein generelles Misstrauen gegenüber "Flüsterräumen" rechtfertigt.

In diesem Kontext ist es interessant wie die deutsche Netzwelt auf die Berichterstattung reagiert hat. Der Forenanbieter Parsimony hat es sich inzwischen zur Regel gemacht, Selbstmord-Foren keinen Platz mehr zu bieten, ohne dies - anders als bei anderen nicht erwünschten Inhalten - zu begründen. Der Betreiber des neuen, modifizierten Selbstmordforums zog sein Webangebot zurück und veröffentlichte statt dessen den Spiegel-Bericht. Dies zeugt nicht nur vom Verantwortungsbewusstsein der Anbieter, sondern zeigt auch, dass der im anglo-amerikanischen Raum verbreitete "just words"-Ansatz in unserem Denken seine Einschränkung da findet, wo die Grenze zwischen Äußerung und Tat nicht klar ist (z. B. Propaganda).

Erstaunlich finde ich nur, dass jemand, der ein inhaltlich neutrales Diskussionsforum zur Verfügung stellt, in dem das Pendel eben nach beiden Seiten ausschlagen kann, sich dieses Umstandes erst so spät bewusst wird. Dabei waren im Spiegel-Forum zum Thema durchaus Beiträge von Betroffenen zu lesen, welche die Todesforen als eine Hilfe zur Überwindung einer Krise empfunden haben. Man hätte also den negativen Berichten positive Erfahrungsberichte entgegen halten können. Statt dessen wurden die Foren komplett aus dem Netz genommen. Dies ist bedauerlich, weil Interessierte sich nun keine eigene Meinung über die Diskussionsinhalte bilden können.

Dass nun gerade der Topos "Anstiftung zum Selbstmord" wieder an Bedeutung erlangt, ist in Zusammenhang zu sehen mit der Unergiebigkeit der Netzwelt hinsichtlich des bei anderen Medien üblichen Topos "Gewaltverherrlichung", also der Fremdgefährdung. Von extremistischer Propaganda abgesehen hat das Netz in dieser Hinsicht wenig Originäres zu bieten. Man denkt vielleicht noch an Computerspiele, die über das Netz vertrieben und gespielt werden; diese werden jedoch zumeist als Thema für sich behandelt.

Leider gibt es Anzeichen dafür, dass im Fall der Suizidalität der Einfluss von Medien nicht unterschätzt werden darf, und dies betrifft zunächst und insbesondere die gewählte Methode. Die Wahl der Methode ist jedoch nicht unwesentlich für das "Gelingen" eines Selbstmordversuches. Katja Becker und Martin H. Schmidt fassen in ihrem Aufsatz "Es hätte mich nichts davon abhalten können, Gott und die Welt nicht!"1 den Stand der medizinischen Forschung wie folgt zusammen:

"Schmidtke und Schaller (2000) postulieren, dass es zahlreiche Belege für Imitationseffekte bei suizidalem Verhalten gebe. Im Umkreis von Menschen, die eine suizidale Handlung durchgeführt haben, nimmt suizidales Verhalten zu. Das Modell kann dabei so prägend sein, dass sogar die Suizidmethode imitiert wird. Es scheint, dass suizidales Verhalten durch Imitation erlernt werden kann, insbesondere bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Schmidtke & Schaller 2000). ... Das Modell kann dabei real oder fiktiv sein und das suizidale Verhalten kann Suizidgedanken, Suizidversuche oder einen Suizid umfassen (Schmidkte 1986, Schmidtke & Häfner 1986, Schmidtke & Schaller 2000)." (Becker & Schmidt)

Entscheidend zur Beurteilung von Selbstmordforen wäre also die Beantwortung der Frage, ob die anderen Poster in einem Forum und die Gesprächspartner im Chat zum genannten Umkreis zu zählen sind und ob ein entsprechendes Imitationsverhalten zu befürchten ist. Hierzu kommt die Tatsache, dass der "Imitationseffekt ... von mehreren Faktoren abhängig [ist], wie Alter, Geschlecht, Rasse und Sozialstatus des Modells sowie dem Grad der Verstärkung. Kinder und Jugendliche sind möglicherweise leichter durch Modelle beeinflussbar und Adoleszente imitieren häufiger ihre Peers als Erwachsene" (Becker & Schmidt 2000). Nun haben wir es mit Netzpublikationen zu tun, die von Mitgliedern und für Mitglieder einer peer group produziert werden, also einer homogenen Gruppe. Hier können Meinungen publiziert, rezipiert und verifiziert werden, in denen Suizid kein Tabu, sondern eine attraktive Möglichkeit darstellt - vielleicht auch nur zur Abgrenzung zum Konsens der Gesellschaft. Ist deshalb von einer besonderen Gefährdung für die Teilnehmer von einem Selbstmord-Forum auszugehen?

Die Frage kann kaum auf Basis der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen befriedigend beantwortet werden, zumal es sich eher um begründete Vermutungen als um bewiesene Thesen handelt. Die Fragestellungen weisen jedoch die in der Medienwirkungsforschung leider typische Schwachstelle auf: Zwar kann man anhand einiger Fälle einen Zusammenhang zwischen Darstellung und Handlung postulieren, der Frage, warum andere (und dies ist in den meisten Fällen die Mehrzahl) kein Imitationsverhalten zeigen, wird nicht nachgegangen.

So gesehen lässt sich an der Existenz von Selbstmord-Foren auch Positives ablesen, nämlich die Bereitschaft von Suizidgefährdeten (wenn sie es denn wirklich sind), sich unter geeigneten Rahmenbedingungen über ihre Befindlichkeit zu äußern. Hinzu kommt die Behauptung einiger, dass ihnen diese Foren geholfen habe, ihre Krise zu überwinden. Hier zeichnen sich positive Möglichkeiten der Intervention ab, wie z. B. die aufsuchende Betreuung nach Vorbild der Jugendsozialarbeit (Streetworker) oder die Bereitstellung von entsprechenden, durch Experten moderierten Angebote. Dabei darf das Problem der Suizidalität im allgemeinen eben so wenig aus dem Blickfeld geraten wie netzspezifische Probleme, das Potential von virtuellen Selbsthilfegruppen ebenso wenig wie die Privatheit der Nutzer, die Kommunikationskultur in virtuellen Foren und die Mediennutzung überhaupt, und im letzten Fall wiederum die von Jugendlichen im speziellen. Deswegen bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Berichterstattung nicht das letzte Wort zum Thema hat.

Michael Nagenborg