Die neue Landkarte des Gehirns - die Rückseite

Wo verwalten wir Sucht und Furcht, welche Nervenzellen rechnen? Der zweite Teil einer kleinen Landkarte des Gehirns, die aktuelle Untersuchungen per Magnetresonanztomograf aufgestellt haben.

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Vorgemerkt sei auch hier, dass die Vorstellung, ein ganz bestimmte graue Zelle würde jahrein, jahraus nur die Farbe von Großmutters Nachthemd speichern, von der Wissenschaft schon seit längerem abgelehnt wird. Das Gehirn ist eben kein Archiv, in dem es nach den Regeln der Bibliothekskunst zugeht und fixe Schubladen bestimmte Daten enthalten. Vielmehr arbeitet unser Denkorgan dynamisch und in Strukturen. Eben diese lassen sich mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie gut aufspüren - wenn Nervenzellverbände aktiv sind, sind sie durch einen stärkeren Blutfluss gekennzeichnet. Und der ist im Magnetresonanztomogramm deutlich erkennbar. Eine Zusammenfassung der jüngsten Ergebnisse.

Teil 1: Wo ist das Fach für die peinlichen Erinnerungen, in welche Schublade ordnet unser Gehirn die Familienfotos ein? Untersuchungen per Magnetresonanztomograf ergeben eine sich ständig ändernde Landkarte des menschlichen Denkorgans.

Das Suchtzentrum

Wie würden Sie entscheiden, müssten Sie Jörg Draeger gegenüberstehen und sich in „Geh aufs Ganze!“ für ein Tor oder für den vom Showmaster gebotenen Geldbetrag entscheiden? Ob Sie sich dabei eher nicht zu einem Deal überreden lassen, sondern auf den Hauptgewinn hoffen, hängt offenbar weniger vom Inhalt des Geldbriefs ab als davon, was in ihrem Gehirn passiert. Pulsiert nämlich ihr ventrales Striatum nur so von Aktivität, gehören Sie wohl zu den impulsiven Entscheidern, die ihre Belohnung im Hier und Jetzt suchen. Ob jemand die sofortige Befriedigung sucht oder auch länger darauf warten kann, ist jedoch direkt mit Impulskontroll-Problemen verknüpft, wie sie für Spiel- und Drogensucht typisch sind.

Das Furchtzentrum

Tragen Sie auch schon lange die Entscheidung mit sich herum, sich endlich mal einen neuen Zahnarzttermin zu besorgen? Klar, für den kurzen Anruf war bisher einfach keine Zeit… Das Bestreben, Entscheidungen mit erwartbar unangenehmen Folgen herauszuzögern, teilen Sie immerhin mit vielen Mitmenschen. Aber wenn der Termin dann herangekommen ist, dann wollen Sie ihn vermutlich so schnell wie möglich hinter sich haben - ein typisches Zeichen dafür, dass die Furcht vor dem Ereignis schwerer auszuhalten ist als das Ereignis selbst. Forscher haben diese Furcht im Labor untersucht - die Probanden mussten sich hier entscheiden, entweder sofort einen schmerzhafteren Elektroschock zu erhalten oder für gewisse Zeit auf einen weniger schmerzhaften Stromschlag zu warten. Immerhin ein Viertel der Versuchsteilnehmer entschied sich für die „Ende mit Schrecken“-Strategie. Dabei war insbesondere der Teil ihres Gehirns aktiv, der sich mit Schmerzen befasst - in ihrer Verbindung zu Aufmerksamkeit - nicht aber die Teile, denen man eine Rolle bei Ängsten zuschreibt. Das heißt aber auch, dass man diese Art Furcht im Wortsinn zerstreuen kann - mit einer Ablenkung, die den Aufmerksamkeitsfaktor dämpft.

Das Rechenzentrum

Der intraparietale Sulcus im Schläfenlappen ist anscheinend für die quantitative Auffassung zuständig. Sogar bei Vierjährigen, die ihre numerischen Fähigkeiten erst noch entwickeln müssen, scheint das der Fall zu sein.

Das Lügenzentrum

Der Lügendetektor, im US-Gerichtswesen nicht ganz unbekannt, spielt aus gutem Grund hierzulande keine Rolle. Dass er als Beweismittel nichts taugt, hat aber nicht nur mit den bürgerlichen Rechten Verdächtiger zu tun, es hat auch handfeste physiologische Ursachen. Die Kennzeichen, die der Lügendetektor misst, sind nämlich trainierten Probanden durchaus auch bewusst zugänglich. US-Forscher haben nun untersucht, ob sich auch im Gehirn selbst Anzeichen für Lügen finden lassen. Ein echtes Lügenzentrum fanden die Wissenschaftler (abgesehen von erhöhter Aktivität im Frontallappen) zwar nicht. Aber bewusst zu lügen ist schwieriger, als einfach nur die Wahrheit zu sagen - und so zeigte sich beim Lügen Aktivität in immerhin 14 Gebieten, blieb der Proband bei der Wahrheit, aktivierte er nur acht Bereiche.

Das Stresszentrum

Stress zeigt sich im Gehirn im rechten anterioren Teil des präfrontalen Kortex - einem Gebiet, dem man schon länger Angst und Depressionen zuordnete. Die höhere Aktivität ging nicht einmal zurück, wenn Forscher den Stresstest an ihren Probanden beendet hatten - ein Hinweis auf die schädigende Wirkung von Stress.

Das Liebes- und das Sex-Zentrum

Und wo steckt die Liebe? Auf der Suche danach testeten US-Forscher 17 junge Männer und Frauen, die sich selbst als neu und stark verliebt bezeichneten. Ihre Erkenntnisse dürften konservativen Eltern gefallen: Die frühe romantische Liebe hat demnach mehr mit Aspekten rund um Motivation, Belohnung und Antrieb zu tun als mit Gefühlen oder gar Sex. Es werden zunächst Gebiete aktiviert, die wir evolutionär mit anderen Säugetieren teilen. Die frühe romantische Liebe, folgerten die Forscher, könnte demnach ein Überbleibsel früherer Zeiten darstellen, als uns eine Art Jagdinstinkt dazu brachte, den gewünschten Partner auszuwählen und schließlich zur Strecke zu bringen. Gefühle wie Euphorie oder Angst und selbst sexuelle Erregung, das geben die Forscher gern zu, stellen sich früher oder später ebenfalls ein - doch zunächst versuche eben das evolutionär ältere Belohnungssystem zu seinem Recht zu kommen.