"Die neue Sprache des Antisemitismus ist die Sprache der Menschenrechte"

Schnell knickt die Bundesregierung vor allem gegenüber der jüdischen Reaktion ein und will Beschneidungen straffrei möglichen machen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ganz schnell will die Bundesregierung auf ein Urteil des LG Köln reagieren, das die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Kinder aus rein religiösen Gründen als prinzipiell strafbare Körperverletzung gewertet hat. Regierungssprecher Seibert ließ Ende letzter Woche verlauten, "verantwortungsvoll durchgeführte Beschneidungen müssen in diesem Land straffrei möglich sein". Diese Reaktion der Bundesregierung hat nur wenige Tage gedauert - wenige Tage, nachdem sich die Europäische Rabbinerkonferenz mit der Aussage aus dem Fenster gelehnt hat, das Kölner Urteil sei "der schwerste Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust", und: "Die neue Sprache des Antisemitismus ist die Sprache der Menschenrechte."

Das Urteil selbst ist allerdings schon zwei Monate alt - inhaltliche (sprich: rechtliche) Gründe scheinen es also eher nicht gewesen zu sein, die die Bundesregierung von der dringenden Notwendigkeit einer Rechtsreform überzeugt haben. Damit handelt die Bundesregierung sich und der gesamten Gesellschaft ohne jede Not ein riesiges Problem ein.

Kurz zur Vorgeschichte: Am 7. Mai spricht das LG Köln einen Arzt vom Vorwurf der Körperverletzung frei, der auf den religiös motivierten Wunsch der (muslimischen) Eltern eine Beschneidung an einem Kleinkind vorgenommen hatte. Allerdings stellt das LG fest, dass der Arzt nur freizusprechen war, da er sich der Strafbarkeit seines Handelns nicht habe bewusst sein können, da die Praxis der Beschneidung bis dahin gesellschaftlich als normal angesehen wurde und eine gerichtliche Bewertung noch nicht stattgefunden hatte. Tatbestandsmäßig handele es sich aber um eine Körperverletzung, da die Eltern weder ihr Erziehungsrecht noch das Recht auf freie Religionsausübung geltend machen könnten, um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen.

Am 26. Juni berichtet dann die SZ vom Kölner Urteil, was zwar zu einem gewissen Medienecho führt, aber noch zu keinen gewichtigen politischen Stellungnahmen. Erst als am 12. Juli deutsche Medien darüber berichten, dass der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, das Urteil gleich neben den Holocaust gestellt hat, kommt richtig Bewegung in die Sache. Nur einen Tag später lässt die Bundesregierung verkünden, dass Straffreiheit in solchen Fällen ein Muss sei. Das Wort "Rechtssicherheit" fällt allenthalben, und eine Sprecherin des Justizministeriums sagt in einer Stellungnahme: "Ziel der Bundesregierung ist, dass Juden und Muslime in Deutschland ohne Zweifel daran leben können, dass sie hier willkommen sind und ihre Religionen ausüben können, auch die religiösen Rituale."

Holocaust-Vergleich

Zunächst zwei Worte zu den Bemerkungen offizieller Vertreter der jüdischen Religion, ihrer Wortwahl und ihrer Argumentation. Laut Goldschmidt und seinen Rabbinerkollegen, die ihm explizit zustimmten, ist also seit der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums im Holocaust jüdisches Leben nicht mehr so gefährdet gewesen. Interessant ist daran zuerst, dass auch ein entfernter Vergleich mit dem Holocaust in der Regel sofort zu wütenden Protesten gegen den führt, der den Vergleich wagt - Bischof Mixa, der einmal darauf hinwies, dass auch in heutiger Zeit noch Millionen Menschleben geopfert würden, weiß davon ein Lied zu singen. Zu recht wurde darauf hingewiesen, dass die Leiden der Opfer trivialisiert würden. Weder Goldschmidt noch irgendein anderer europäischer Rabbiner braucht allerdings zu befürchten, dass ihm von irgendeiner offiziellen Stelle mit demselben Recht derselbe Vorwurf gemacht würde. Anders gesagt: Wenn es um jüdische Belange geht, dann kommen auch jüdische Organisationen sehr schnell auf die Idee, dass etwas wie der Holocaust eben nicht geschichtlich einzigartig ist, sondern tatsächlich wieder passieren könnte und wir (wiederum völlig zu recht) solchen Anfängen - welche Gruppe auch immer sich in der zukünftigen Opferrolle finden könnte - wehren sollten.

Und dann noch die Idee, "jüdisches Leben" werde "unmöglich" gemacht, sollte ein Beschneidungsverbot Bestand haben. Moslems werden mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, dass ein Verbot spezifisch auf jüdisches Leben abzielt. Nicht zuletzt weist ja auch Goldschmidt darauf hin, dass es sich ganz bestimmt um Antisemitismus handele, der da unter dem Mäntelchen der Menschenrechte durchscheine. So beiläufig wie er die Menschenrechtsbedenken wegwischt, scheint er weder viel von Menschenrechten zu halten noch scheint er je auf die Idee gekommen zu sein, dass religiöse (zumal jüdische) Praktiken jemals gegen sie verstoßen könnten. Jedenfalls ist es all das für ihn nicht wert, sich auf die Ebene von Argumenten herabzulassen.

Übergriff auf die Freiheit anderer

Mit solchen Argumenten hätte er immerhin das Terrain betreten, das vom Urteil des LG Köln abgesteckt wurde. Hier ging es um eine Abwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht, dem Erziehungsrecht der Eltern und der Religionsfreiheit. Die meisten gläubigen Juden - wenn auch nicht alle - halten es für eine religiöse Pflicht, ihre männlichen Kinder beschneiden zu lassen. Aber von Theodor Herzl bis zu einigen heutigen Gruppierungen des Reformjudentums hat es auch Juden gegeben, die ihre Kinder nicht beschneiden lassen, aber trotzdem in allen anderen Belangen ein "jüdisches Leben" führen. (Für den muslimischen Bereich gilt das genauso, wie ein Statement des Bundes der Alevitischen Jugendlichen zeigt.) Was bedeutet: Es ist eine offensichtliche Frage der Auslegung religiöser Vorschriften - und damit Theologie -, ob man die Beschneidung als lebensnotwendig ansieht. Und daraus folgt sofort etwas anderes: Die Behauptung, straffreie Beschneidungen "müssen möglich sein" in Deutschland, ist faktisch die Unterstützung einer bestimmten theologischen Position einer einzelnen Religion von Staats wegen. Dass ein angeblich säkularer, aufgeklärter Staat im 21. Jahrhundert auf eine solche Idee kommen will, ist kaum zu glauben.

Des Weiteren ist der Glaube an die Beschneidungspflicht durchaus grundrechtlich geschützt, was bedeutet, dass dem Halter des Glaubens daraus keine diskriminierenden Nachteile erwachsen dürfen. In dieser Hinsicht steht er auf derselben Stufe wie der Glaube, dass Homosexualität eine Sünde ist oder Geschlechtsverkehr nur der Kinderzeugung zu dienen habe. Jede dieser Ansichten, die alle Nichtgläubigen mutatis mutandis natürlich auch für Schwachsinn halten dürfen, sind von einem Recht geschützt, das jeder Mensch für sich hat. Abenteuerlich wird es allerdings, wenn Gläubige nun behaupten, ihr Recht auf freie Religionsausübung beinhalte auch das Recht, bestimmte Handlungen an Dritten vorzunehmen. Wie jedes andere Freiheitsrecht auch ist die Religionsfreiheit das Recht, andere (in diesem Fall: mit ihren nicht vernunftbasierten Ideen) nicht in meinen persönlichen Bereich eindringen lassen zu müssen. Es existiert also überhaupt erst, um Übergriffe auf die Freiheit anderer zu unterbinden. Wer für sich etwas anderes in Anspruch nimmt, macht sich zu einem expliziten Feind der Freiheit.

Als einzige Zuflucht bliebe nun dem, der die Beschneidung Dritter für wichtiger als deren Freiheitsrechte hält, dass er sein Erziehungsrecht als Elternteil geltend macht - geradezu, als ob Eltern für ihre Kinder nicht nur Verantwortung trügen, sondern als gehörten sie ihnen. Mit derselben Begründung haben Generationen ihre Kinder körperlich gezüchtigt oder das sogar in der Schule in Auftrag gegeben. Und bei dieser Züchtigung blieben (in der Regel) noch nicht einmal körperliche Anzeichen zurück. Zweifellos haben sich auch dabei Eltern und sogenannte Pädagogen gefunden, die mit der absoluten Notwendigkeit von Körperstrafen argumentiert haben, ohne welche Erziehung schlicht unmöglich sei.

Und völlig zu recht findet solcher Blödsinn heute kein Gehör mehr - solch perverser Blödsinn, der das Zufügen von Schaden ohne Einwilligung des anderen auch noch als in dessen bestem Interesse darstellt. Dem haben wir Einhalt geboten: Das Kind ohrfeigen, weil man an pädagogische Märchen glaubt, ist im Zweifel strafbar. Und zwar weil das Kind Rechte hat, die nur gegen vernünftige Gründe abgewogen werden dürfen. Dem Kind hingegen die Vorhaut abschneiden, weil man daran glaubt, dass der Schöpfer von 100 Milliarden Galaxien mit jeweils 200 Milliarden Sonnen und ihren unzähligen Planeten einen Pakt mit einem auserwählten Stamm einer halbintelligenten Affenspezies auf einem dieser Planeten dadurch besiegelte, dass er sie sich einen Teil ihres Genitals abschneiden ließ - richtig: Das muss "in diesem Land straffrei möglich sein".

Wir reden immer viel von westlichen, abendländischen oder aufgeklärten Werten. Aufklärung bedeutet, Menschen Verantwortung für ihre Handlungen und ihre Ansichten (soweit sie Dritte betreffen) übernehmen zu lassen. Aufklärung wird verraten und verkauft, wenn man ihre Werte bei ernsthaften Bewährungsproben sofort wie eine heiße Kartoffel fallenlässt.