Die perfekte grüne Welle

Wellenreiter – nur wohin? Robert Habeck und Annalena Baerbock. Bild: Grüne.de

Der Telepolis-Wochenrückblick mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

während die Parteien mit Blick auf die Bundestagswahl im September ihre Kandidat:innen aufstellen, zeichnet sich immer deutlicher die heiße Phase des Wahlkampfes und damit das nahende Ende der Ära Merkel ab. Wenn auch vieles unklar ist, kann eines als gesichert gelten: Deutschland wird nach dieser Bundestagswahl grüner sein. Bündnis 90/Die Grünen liegen mit ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in den Umfragen stabil bei einem Viertel der Stimmen.

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Unwirklich wirkt das nicht nur, wenn man an die Ursprünge der Ökopartei zurückdenkt, die frühen Parteitage, die Turnschuh-Vereidigung von Umweltminister Joseph "Joschka" Fischer Mitte Dezember 1985 im hessischen Landtag.

Oder auch nur an die letzte Bundestagswahl 2017, bei der die Doppelnamen-Partei noch bei knapp neun Prozent der Stimmen lag. "In jedem Fall sind die Grünen viermal so stark wie nach der Wahl 1998. Das macht sich in jeder Koalition bemerkbar", sagte das Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele bei Telepolis im Interview, um – wenig anfechtbar – von einem "Erfolgsmodell" zu sprechen.

Unsere Redakteurin Claudia Wangerin ärgerte sich indes, die ihr auch wegen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik nicht sympathische Grünen-Kandidatin Baerbock gegen bieder-sexistische Kampagnen verteidigen zu müssen. Auch das ist ein Ausdruck der politischen Kultur in Deutschland 2021.

Unser Autor Nick Reimer schrieb über einen der Gründe für den Erfolg der Grünen. Die Umweltbewusstseinsstudie 2020 habe gezeigt, dass die Wahrnehmung von Umweltbelastungen und Klimawandel zunehmend wichtig wird. Noch wichtiger als Klima- und Umweltschutz finden die Deutschen nur die Themen Bildung (78 Prozent), Gesundheitssystem (73) und soziale Gerechtigkeit (66).

Sicherlich ist - wie so oft im bürgerlichen Parlamentarismus - der Erfolg der einen Partei Ausdruck der Krise der anderen. Bei Telepolis werden wir uns mit der nahenden Bundestagswahl 2021 daher verstärkt auch den Prognosen und Hintergründen widmen. Der Frage etwa, warum "grün" nicht automatisch "ökologisch" heißt, von der Friedensfrage mal ganz zu schweigen.

In der vergangenen Woche etwa haben wir die Frage beleuchtet, weshalb es der SPD gelungen ist, den (laut UN und SPD) rassistischen Thilo Sarrazin aus der Partei zu werfen, während der rechtskonservative Ex-Agentenführer Hans-Georg Maaßen für die CDU mit über 80 Prozent nominiert wurde – wenn auch nur in Thüringen.

Corona-Maßnahmen vergleichen, diskutieren, ändern

Und damit sind wir wieder bei der Corona-Pandemie. Unsere Autorin Andrea Seliger beleuchtete den auch hierzulande viel beachteten "Sonderweg" Schwedens. Die Inzidenz dort zählt zu den höchsten in Europa, die Zahlen der täglichen Corona-Toten aber liegen auch im Verhältnis unter denen von Deutschland, so Seliger in ihrem Bericht.

Konkret heißt das: In Schweden wurde die Marke von einer Million offiziell registrierten Corona-Fällen durchbrochen. "Rein rechnerisch hat sich damit bald jeder Zehnte infiziert in dem 10,3-Millionen-Einwohner-Land, und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen", schrieb unsere Autorin. Warum dennoch weniger Menschen sterben und was die Rückschlüsse für andere Länder sind, können Sie hier noch einmal nachlesen.

Und, ja, das muss man diskutieren können. Und, nein, damit schmälert man nicht das Leid der Menschen, die hierzulande auf den Corona-Intensivstationen sterben.

Weshalb das zu betonen wichtig ist, beschrieb Sebastian Seidler bei Telepolis: "Unter den Kritikern der Corona-Politik gibt es eine Gruppe, die man vereinfachend als Verteidiger der Freiheit bezeichnen kann. Die Argumente der Akteure, die von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer über Philosoph Julian Nida-Rümelin bis zur Journalistin Franziska Augstein reichen."

Seidler ist sich sicher: "Das Mantra ‚Aber es sterben doch Menschen‘ verdecke all die anderen Probleme (Existenzängste, Depressionen), die im Zuge der Pandemie auftauchen." Diese Erkenntnis, in der Tat, tritt nicht erst seit der Künstleraktion #allesdichtmachen in den Vordergrund der Debatte und wird auch bei Telepolis weiterhin eine zentrale Rolle spielen.

Dass ein kritischer Blick auf die Pandemie-Politik, wie ihn Telepolis von Beginn an eingenommen und gegen jede Kritik beibehalten hat, wichtig ist, zeigt der Blick der Neuen Zürcher Zeitung, der zufolge Modellrechnungen zum Verlauf der Pandemie "oft fehlerhaft" sind. Trotzdem hätten Politiker und Journalisten damit Stimmung gemacht, heißt es in dem Blatt. Auch die Berliner Zeitung hinterfragte in der vergangenen Woche die Arbeit des lange gelobten SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach und dessen jüngste gesundheitspolitische Fehleinschätzungen.

"Aktion gegen Sie und Ihre Familien: Heise Medien stellt Strafanzeige

Diese Debatte ist für den Zustand von Demokratie und Meinungsfreiheit im zweiten Pandemiejahr immens wichtig, weil sie unmittelbar die Frage berührt, was Fake News ist und was versehentliches Irren; was wissenschaftliches Vorantasten und was vorsätzliche Lüge.

Dieses sensible Thema wird unsere journalistische Arbeit bei Telepolis weiter bestimmen, wenn etwa begründete Repliken unseres Autors Christoph Kuhbandner – dessen Thesen, wie auch andere, diskutiert werden sollten – im Leserforum mitunter als "Lügen" und "Schwachsinn" bezeichnet und mit "Boshaftigkeit" oder "Unkenntnis" zu erklären versucht werden. Ein Ton, den sonst nur Corona-Leugner gegen Lauterbach und Co. anschlagen.

Diese Polarisierung gilt es auszuhalten, Meinungsfreiheit zu verteidigen. Übrigens auch gegenüber dem verfassungsrechtlich fragwürdigen Medienstaatsvertrag – der uns in dieser Woche befassen wird.

Natürlich heißt Meinungsfreiheit nicht, dass alles gesagt und geschrieben werden darf. Bei aller Toleranz und allem Gleichmut, mit dem wir bei Heise unser traditionell offenes Leserforum moderieren, sind irgendwann auch bei uns Grenzen erreicht. Wenn etwas ein User Vertreter der Foren- und Redaktionsleitung als "abartige, geisteskranke Drecksau" und "widerwärtigen Biomüll" bezeichnet und anfügt: "Es gibt keine Aktion gegen Sie und Ihre Familien, die unangemessen hart wäre." In Gänze:

Wegen dieser und weiterer Äußerungen des betreffenden Users haben wir bei der Staatsanwaltschaft Hannover Strafanzeige wegen Verleumdung, Beleidigung und Bedrohung gestellt. Ebenso wie unsere Kollegen vom Redaktionsnetzwerk Deutschland sind wir der Meinung, dass die Freiheit der Presse auch an dieser Front verteidigt werden muss. Wie es weitergeht, werden Sie hier erfahren.

Bis dahin, bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber

Eine Antwort an das Forum: Telepolis und Netzkultur – war's das?

Das letzte Stück Netzkultur der TP

Ruhe sanft.

Danke für die Jahre – es wird fehlen, das Beste der beiden Anzeichen, dass Freitag ist.

User SockenPuppe_1

So lautete eine Reaktion auf die Einstellung der wöchentlichen <tk>Telepolis<tk>-Videoschau des Kollegen Ernst Corinth zum Monatswechsel. Vorab: Wir hatten den Schritt über Wochen hinweg diskutiert und uns dann für eine neue Kolumne entschieden. Der User-Kommentar soll nun aber Anlass sein, die Umstellung zu erläutern und auf die Frage einzugehen, ob sich das Thema Netzpolitik – von Anfang an identitätsstiftend für Telepolis – wirklich erledigt hat.

Zwei Gründe haben zur Änderung der Wochenkolumne beigetragen. Zum einen war das Feedback auf die Videoschau, nun ja, überschaubar. Wir hatten Anfang des Jahres überlegt, ob wir die Videoschau aktualisieren und modernisieren, dann aber keinen richtigen Weg dafür gefunden.

Ausschlaggebend aber war ein anderer Aspekt: Wir halten einen zunehmenden Austausch mit dem Leserforum, also Ihnen, für zunehmend wichtig. Daher sind wir mit dem Kollegen Corinth übereingekommen, dass er künftig eine neue Kolumne mit dem Titel Drei Fragen aus dem Forum betreuen wird. Ähnlich wie in dieser Wochenkolumne soll es darum gehen, Anmerkungen, Lob oder Kritik aufzugreifen.

Wir werden aus der gemeinsamen Arbeit heraus entscheiden, wie sich die eigenständige "Drei-Fragen-Serie" und dieses Format im Rahmen dieses "Wochenrückblicks mit Ausblick" zueinander verhalten. Wichtig ist uns in beiden Fällen ein engerer Dialog mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern.

Nun zur Frage der Netzpolitik. Tatsächlich hat Telepolis 1996 als Magazin der Netzkultur die Arbeit aufgenommen. In den Jahren seither hat sich dieses Medium aber erheblich erweitert. Das hat sich auch im Namen gezeigt. Heute findet sich der etwas sperrige Beisatz: "Kritisch, meinungsstark, informativ! Telepolis hinterfragt die digitale Gesellschaft und ihre Entwicklung in Politik, Wirtschaft & Medien."

Wie in der vergangenen Woche schon erwähnt, wollen wir auch diesen "Claim" erneuern – und sind mitten in der Meinungsbildung. Auch dabei werden Sie, die Leserinnen und Leser, eingebunden.

Wenn es bei Telepolis heute auch um viel mehr als "nur" Netzpolitik und Netzkultur geht – also auch um Geopolitik, technische Neuerungen und die Entwicklung unserer Gesellschaften in all ihrer Breite –, spielt das ursprüngliche Thema nach wie vor eine wichtige Rolle. Sei es die Frage der Sicherheit von Patientendaten, die Verwendung der Steuer-ID, der Umgang mit Whistleblowern oder die diversen Corona-AppsTelepolis wird auch künftig die netzpolitischen Trends verfolgen und Akzente setzen.