Die redaktionellen Tricks des Gehirns

Wie das Gehirn mit der zeitlichen Verzögerung zwischen Signaleingang und bewusster Wahrnehmung verfährt

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Live, Gleichzeitigkeit oder Echtzeit: so soll Information erlebt werden, möglichst ohne Verzögerung zwischen dem Aussenden eines Signals und dessen Empfang. Zumindest wird die Errungenschaft der elektronischen Medien auch in der erstmals ermöglichten globalen Gleichzeitigkeit der Ereignisse gesehen, an die man sich annähert. Eine Fortschrittsachse der Technik ist jedenfalls die Verkürzung der Zeit zwischen dem Absenden und dem Empfangen einer Nachricht. Gleichzeitigkeit hieß einstmals, dass man als Beobachter am selben Ort sein musste, an dem das beobachtete Ereignis stattfand. Anwesenheit war also erforderlich, während ansonsten der vom Boten und der Botschaft zu überquerende Raum die Verzögerung bestimmte. Praktisch mögen Botschaften, die in Lichtgeschwindigkeit reisen, bei den Größenverhältnissen der Erde nahezu Gleichzeitigkeit realisieren, aber das stimmt natürlich nicht ganz. Der Raum spielt weiterhin eine Rolle und führt zu Verspätungen, die natürlich bei wachsenden Entfernungen immer deutlicher werden (interplanetares Internet). Aber Verzögerungen treten auch dann auf, wenn Signale vom Aufnehmenden, gleich ob es sich um eine Maschine oder ein Lebewesen handelt, verarbeitet werden müssen, um überhaupt zu - stets interpretierten - Informationen zu werden, auf die dann erst reagiert werden kann.

Die Verzögerungen haben damit zu tun, dass natürlich auch innerhalb von Systemen Signale Entfernungen überwinden müssen. Doch bei biologischen Systemen scheint diese Verzögerung auch die Möglichkeit zu bieten, einen redaktionellen Prozess zu ermöglichen. Auch Live-Sendungen sind oft nicht live, sondern werden mit einer dreisekündigen Verspätung gesendet, damit die Fernsehanstalten noch die Möglichkeit zum Eingriff haben, wenn etwas Unvorgesehenes und Unerwünschtes passieren sollte. Und einen ganz ähnlichen Verspätungseffekt zwischen 20 und 500 Millisekunden gibt es auch bei unserem Bewusstsein, obgleich die Sache hier etwas komplizierter als Live-Übertragungen im Fernsehen ist. Reize benötigen eine bestimmte Zeit, bis sie von den Sensoren ins Gehirn gelangen. Da die Reize aber nicht für das Gehirn mit einem Sendedatum versehen sind, es aber wichtig ist, zur richtigen Zeit zu reagieren, übt das Gehirn einen Trick aus, mit dem es das Bewusstein täuscht: Wir erleben den Reiz nicht zu dem Zeitpunkt, an dem das Gehirn ihn registriert, sondern für unser Bewusstsein wird die Verzögerung, sofern es sich um einen sensorischen Reiz handelt und nicht direkt das Gehirn stimuliert wird, sozusagen weggerechnet, so dass wir beispielsweise einen Schmerz unmittelbar mit dem Stimulus spüren.

Doch das ist nicht die einzige zeitliche Täuschung, denn eine ähnlich verschleierte Verzögerung zwischen einem neuronalen Ereignis und dem Bewusstsein davon gibt es auch bei Handlungsentschlüssen. In diesem Fall "betrügt" uns - die bewussten Beobachter - das Gehirn, lassen wir es bei dieser Vereinfachung, jedoch auf andere Weise. Wenn wir einen bewussten Entschluss treffen, etwas machen zu wollen, beispielsweise etwas zu sagen oder einen Knopf zu drücken, tritt das Bewusstsein des Entschlusses, diese Handlung auszuführen, etwa 350 Millisekunden nach dem Zeitpunkt ein, an dem das entsprechende Bereitschaftspotential von einem äußeren Beobachter registriert werden kann. Einmal also wird das Erlebnis zurückdatiert, das andere Mal haben wir den Eindruck, dass wir mit unserem bewussten Willen eine Handlung starten, während die entsprechende Gehirnaktivität schon früher eingesetzt hat.

Interessant sind nun natürlich die Versuche, diese immanenten Täuschungen des neuronalen Systems zu erklären. Sie hängen auch, aber nicht nur mit der Langsamkeit des neuronalen Systems ab, das beispielsweise Punkte, wenn sie in einem zeitlichen Abstand von unter 30 Millisekunden aufleuchten, als gleichzeitig, ab einem Abstand von 60 Millisekunden als (Schein)Bewegung und oberhalb von 200 Millisekunden als nacheinander aufleuchtend interpretiert. Diese Langsamkeit ist auch Bedingung dafür, dass wir in Filmen Bewegung und nicht eine Aufeinanderfolge von einzelnen Bildern sehen. Die beiden Bewusstseinstäuschungen über die zeitliche Folge wurden von Benjamin Libet in den 70er Jahren entdeckt und in späteren Experimenten von ihm bestätigt. So meint er beispielsweise, dass angesichts der Verzögerung des bewussten Willens die Funktion des Bewussteins wahrscheinlich nicht darin liege, Handlungsketten zu initiieren, sondern willensbestimmte Ereignisse zu selektieren, was auch heißt, dass sich Handlungspotentiale, die vor dem Erleben des bewussten Willens einsetzen, durch eine Art Veto-Aktion abgebrochen werden können.

Was aber könnte der Grund für die Rückdatierung von Wahrnehmungseindrücken sein? Wissenschaftler vom Salk Institute for Biological Studies haben ähnliche Experimente wie Libet durchgeführt und erneut festgestellt, dass wir mindestens 80 Millisekunden mit unserem Bewusstsein zurückliegen: Wir leben also gewissermaßen in der Vergangenheit, weil das menschliche Gehirn bewusste Wahrnehmung als eine Art der Nachbearbeitung herstellt. Die Ergebnisse ihres Experiments deuten sie so, dass sie einer üblichen Interpretation der visuellen Wahrnehmung widerspricht, nämlich dass das Gehirn etwa in der Wahrnehmung einer Bewegung künftige Ereignisse vorausprojiziert und vorwegnimmt, wodurch es zu bestimmten Wahrnehmungseffekten kommt (D. M. Eagleman und T. J. Sejnowski: "Motion Integration and Postdiction in Visual Awareness", Science, 28, 5460)

Schon seit langem ist bekannt, dass es unter bestimmten Bedingungen zu einer charakteristischen Verzögerung bei der Deutung des Wahrgenommenen kommt, wenn Versuchspersonen einen sich bewegenden Kreis beobachten und plötzlich in der Mitte ein Lichtpunkt aufblitzt: "Auch wenn sich der aufblitzende Lichtpunkt physikalisch in der Mitte des Rings befindet", so David Eagleman, Leiter des Salkteams, "wird er so wahrgenommen, als würde er hinter dem Ring zurückbleiben. Man kann das manchmal beobachten, wenn man nachts ein Flugzeug sieht - die blinkenden Lichter können so erscheinen, als würden sie hinter dem Flugzeug zurückbleiben." Normalerweise interpretiert man dieses Ergebnis so, dass das Gehirn von der Kontinuität der Bewegung des Rings ausgeht und daher seine künftige Position vorwegnimmt, während es das plötzlich aufleuchtende Licht gewissermaßen "richtig" lokalisiert. Eagleman meint, dass es durchaus einleuchtend wäre, wenn das Gehirn Dinge, die sich bewegen, richtig lokalisieren will, vorausberechnet, um die Verzögerung auszugleichen, die entsteht, bis das Licht von der Retina in das Gehirn gelangt und dort verarbeitet wird.

Um diese These zu überprüfen, führten die Wissenschaftler einige einfache Experimente durch, bei denen der Ring, in dem der Lichtpunkt aufblitzt, sich nicht kontinuierlich weiter bewegte, sondern beim Aufblitzen gestoppt wurde oder seine Richtung umkehrte: "Wenn die prädiktive Hypothese richtig ist, "so Eaglemen, "dann würde man in jedem Fall dasselbe Ereignis erwarten, d.h. der aufblitzenden Lichtpunkt sollte dem Ring hinterher folgen, weil das Gehirn annimmt, dass der Ring seine Bewegungsrichtung beibehält." Das Experimente führte jedoch zu anderen Ergebnissen: die Lokalisierung des Lichtpunkts hängt davon ab, wohin sich der Ring nach dem Aufblitzen bewegt. Wird der Ring gestoppt, so erscheint der Lichtpunkt im Zentrum, wird die Bewegung des Rings umgekehrt, so folgt er in der entsprechenden Richtung hintennach. Dasselbe Ergebnis tritt auch dann auf, wenn der Lichtpunkt in der Mitte des stillstehenden Ringes aufblitzt und dieser erst danach in Bewegung versetzt wird.

"Das ist ein verrücktes Ergebnis", meint Eagleman. Es bedeutet, dass das Gehirn Informationen über die Zukunft eines Ereignisses sammelt, bevor es sich entschließt, wie es das, was es zur Zeit des Ereignisses gesehen hat, deuten soll." In dem Experiment wird die Wahrnehmung in einem Zeitfenster von durchschnittlich bis zu 80 Millisekunden überarbeitet, d.h. der Ring muss erst 80 Millisekunden nach dem Aufblitzen bewegt werden, um den Effekt zu erzeugen, dass der Lichtpunkt in der jeweiligen Bewegungsrichtung nachhängt. Die verarbeitete Wahrnehmung löscht gewissermaßen die Zeitspanne und kombiniert ein späteres Ereignis mit einem früheren Eindruck. Wenn Eagleman sagt, dass eigentlich das, was "man zu einem gegebenen Zeitpunkt zu sehen glaubt, durch die Zukunft beeinflusst" sei, so ist das mit Berücksichtung der von Libet festgestellten Verzögerung wohl nicht ganz richtig. Die Rückdatierung ermöglicht offenbar in einem bestimmten Zeitfenster eine Korrektur des Gesehenen durch die unmittelbar darauf folgenden Ereignisse, die nur physikalisch zukünftig sind, vom Gehirn aber dank der notwendigen Verzögerung bei der Signalübertragung in die erlebte Gegenwart hineingerechnet werden können.

Da das Bewusstein sowieso nicht alle von den Sensoren einströmenden Daten registrieren kann, sondern sozusagen ein bereinigtes Bild aufgrund der geringen Kapazität des verfügbaren Arbeitsspeichers erstellt, sind gegenüber der These der Projektion solche Korrekturen innerhalb des Zeitfensters und der Rückdatierung äußerst sinnvoll, um nicht völlig falsch zu reagieren, wenn es auf die Geschwindigkeit der Reaktion ankommt. Von den vielen Millionen Bits, die in jeder Sekunden von den Sinnesorganen an unser Gehirn gesendet werden, werden durch redaktionelle Verarbeitung - hinzu kommt, dass Signale verschiedener Sinnesorgane unterschiedliche Zeitfenster haben - die meisten ausgeschieden. Man nimmt an, dass unser Bewusstsein gerade einmal zwischen 15 und 40 Bit pro Sekunden verarbeiten kann.