Die tiefrote US-Bilanz

Die Verfassung der US-amerikanischen Staatsfinanzen bietet weltweit Grund zur Besorgnis. Hier die Details zur öffentlichen Verschuldung der USA

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Die Verschuldung der US-Bundesregierung hat zuletzt Schlagzeilen gemacht. Einige Experten sehen dabei nur das Kreditrating der USA in Gefahr, während andere längst vom Bankrott der wichtigsten Wirtschaftsmacht der Welt sprechen.

Immerhin sind die meisten US-Behörden verpflichtet, detaillierte Berichte über ihre Finanzen abzuliefern, so dass die Daten recht klar auf dem Tisch liegen: So veröffentlicht das Finanzministerium tagesaktuell den Stand der von der Öffentlichkeit gehaltenen Staatsschulden („Debt Held by the Public“: 7.019,3 Milliarden USD) und die von Regierungsstellen gehaltenen Staatsschulden („Intragovernmental Holding“: 4,302,3 Mrd. USD), was per 29. Mai zusammen das „Total Public Debt Outstanding“ von 11.321,5 Mrd., also rund 11,3 Billionen Dollar USD ergibt.

Diesbezüglich schreibt der Kongress übrigens eine Obergrenze vor, die früher etwa alle zwei Jahre, neuerdings aber halbjährlich angehoben wird. Dies zuletzt im Februar auf 12,104 Billionen Dollar, so dass dank der projektierten Schuldaufnahmen im April/Juni-Quartal von 361 Mrd. USD und den für Juli/September geplanten 515 Milliarden USD schon im Sommer eine weitere Anhebung des Limits erforderlich sein wird.

Dazu kommen die Schulden der Bundesstaaten, Städte und Gemeinden, die den Flow of Funds-Statistiken der Fed zu entnehmen sind und für Ende 2008 mit 2836,2 Milliarden USD angegeben werden. Insgesamt ergibt dies eine Summe von rund 14,447 Billionen, pro Kopf der 298,5 Millionen US-Amerikaner also 48.100 Dollar. Bei diesen Schulden handelt es sich um tatsächlich begebene Anleihen und aufgenommene Kredite. Sollten die USA ihren daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen nicht nach kommen, wäre ein Insolvenzverfahren mit anschließendem Staatsbankrott die Folge.

Anders sieht es mit den Verpflichtungen aus, die der Regierung aus den Zusagen der Pensions- und Gesundheitsversorgungssysteme Social Security und Medicare/Medicaide erwachsen. Hier geben die “Trustees of the Social Security and Medicare trust funds” alljährlich Rechenschaft über die angesammelten Fonds und die absehbaren Verpflichtungen. Als Trustees fungieren aktuell Finanzminister Timothy F. Geithner, der auch die Managementverantwortung trägt, Arbeitsministerin Hilda L. Solis, Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius und der „Commissioner of Social Security“ Michael J. Astrue sowie zwei vom Präsidenten noch zu ernennende „Vertreter der Öffentlichkeit“.

The financial condition of the Social Security and Medicare programs remains challenging. Projected long run program costs are not sustainable under current program parameters.

Trustees Message to the Public

In ihrem aktuellen Report weisen die Trustees eindringlich auf die “herausfordernde finanzielle Situation von Social Security und Medicare“, deren „projektierte langfristigen Kosten nicht tragbar sind“.

Das Problem liegt wie überall in den westlichen Industriestaaten in der demografischen Entwicklung. So erreichen in den USA nun die ersten von rund 78 Millionen „Baby-Boomers“ das Rentenalter. Sie wurden nach den gängigen Definitionen in den USA zwischen 1946 und 1965 geboren, wobei 1962/63 jeweils fast 4,3 Millionen Geburten gezählt wurden, die durch den „Pillenknick“ bis Mitte der 1970er Jahre auf 3,15 Millionen zurückgingen. Das sorgt für eine massive demografische Lücke, die sich ähnlich, wenn auch oft mit einigen Jahren Verzögerung und in unterschiedlicher Ausprägung, in praktisch allen westlichen Industriestaaten findet.

Bei einer Einwohnerzahl von rund 300 Millionen erreichen nun also elf extrem starke Jahrgänge das gesetzliche Pensionsalter, so dass sich – bei Fortschreiben der aktuellen Regelungen – das Verhältnis der Einzahler, zu denen, die nur noch Leistungen konsumieren, dramatisch verändert.

Laut den Trustees werden die jährlichen Überschüsse der Steuereinnahmen über die Ausgaben bei der Social Security (vor allem Pensionsvorsorge) aufgrund der Wirtschaftskrise in diesem Jahr deutlicher als erwartet zurückgehen und auch dann nicht mehr zunehmen, wenn sich schon bald wieder ein Aufschwung zeigen sollte. Ab 2016 würden insgesamt Defizite geschrieben, die aus den bestehenden Reserven gedeckt werden müssten. Bis 2036 werden diese jedoch vollständig aufgezehrt sein. Demnach ist der “Disability Insurance Trust Fund” (DI) für Arbeitsunfähige bereits seit 2005 im Minus und 2020 am Ende, während der gesamte Bereich des “Old-Age and Survivors and Disability Insurance (OASDI) Trust Fund“ 2016 ins Minus rutscht und 2037 aufgebraucht sein wird.

Noch wesentlich schlechter steht es nach Angaben der Trustees um die Krankenversorgung Medicare/Medicaide. Der „Hospital Insurance (HI) Trust Fund“ verzeichnete etwa bereits im Vorjahr erstmals ein Defizit, und so werde es bleiben, bis der Fonds 2017 aufgebraucht ist.

Von den vier unterschiedlichen Fonds verfügte der OASDI Ende 2008 über Anlagen von 2.023 Mrd. USD; der DI hatte 215,8 Mrd. USD, der Krankenhausfonds HI hatte 321,3 Mrd. USD und der SMI, der verschreibungspflichtige Medikamente, ambulante Behandlungen und Arztbesuche finanziert, verfügte noch 60,3 Milliarden Dollar. Das klingt besonders beim OASDI nach sehr viel, reicht aber nicht einmal aus, um die aktuellen Leistungen des Fonds drei Jahre lang zu bezahlen.

Die Fondsgelder sind fast ausschließlich in US-Staatsanleihen angelegt und machen den Löwenanteil der eingangs genannten, von Regierungsstellen gehaltenen 4,3 Billionen an Staatsschulden aus. Da im Vorjahr davon nur der HI mit 4,7 Mrd. USD im Minus war, hatten die Fonds netto für 195 Mrd. USD Staatspapiere angeschafft, also mehr als ein Zehntel der Emissionen des Vorjahres von 1,470 Billionen USD. Im Dezember 2008 bezogen übrigens 41,6 Million Menschen Leistungen aus dem OASDI, 9,3 Million vom DI und 45,2 Million von Medicare – Ansprüche erworben hatten zu diesem Zeitpunkt 162 Millionen Menschen an die Social Security Funds und 166 Million an Medicare.

Lange bekannte Schieflage

Die Trustees führen in ihrem Bericht auch ein so genanntes „Generational Accounting“ an, bei dem für einzelne Generationen oder Jahrgangskohorten versucht wird, die jeweils geleisteten Beiträge den bezogenen Leistungen über die gesamte Lebenszeit gegenüberzustellen. Dieser ursprünglich von den Ökonomen Laurence J. Kotlikoff, Jagadeesh Gokhale und Kent Smetters entwickelte Methode ermöglicht es, eine Summe zu berechnen, die den aktuellen Gegenwert der erworbenen Leistungen beziffert. Dabei werden einfach die absehbaren Ansprüche der Versicherten den vor allem aus Einkommenssteuern erwachsenden Einnahmen gegenübergestellt. Auf die Gegenwart abgezinst ergibt sich eine gewaltige Summe, die im Bericht der Trustees bei 100jähriger und damit teuerster Betrachtungsweise für OASDI mit 18,7 Billionen USD und für Medicare/Medicaid mit 89 Billionen USD (!!!) beziffert wird. Um diese Beträge, die insgesamt ungefähr dem siebenfachen aktuellen BIP der USA entsprechen, müssten die jeweiligen Fonds also derzeit höher dotiert sein, um den bestehenden Verpflichtungen nachkommen zu können.

Diese Schieflage ist freilich schon länger bekannt und hat Kotlikoff schon vor Jahren davon überzeugt, dass die USA eigentlich längst bankrott sind. Sein 2006 in der Review der Federal Reserve Bank of St. Louis veröffentlichter Aufsatz hat dann auch vorübergehend etwas Aufsehen erregt, denn Kotlikoff bezifferte die Verbindlichkeiten der USA damals schon mit 65,9 Billionen USD, wobei er sich auf Gokhale und Smetters berufen konnte. Deren Berechnungen beruhen – ebenso wie jene der Trustees, die sich methodisch an Gokhale/Smetters orientieren – allerdings auf sehr vielen Annahmen mit wesentlichen Auswirkungen auf die numerischen Ergebnisse. Entscheidend ist etwa der angenommene Diskontfaktor, um den zukünftige Einnahmen und Ausgaben abgezinst werden. Würde der im Rechenbeispiel etwa um zwei Prozentpunkte angehoben, dann würde sich der Gegenwartswert der Verpflichtungen rechnerisch in etwa halbieren. Zudem sind weder künftige Produktivität und Beschäftigung auf so lange Zeiträume vernünftig einzuschätzen, so dass bei diesen Berechnungen vermutlich nur die Größenordnung, nicht aber die exakte Summe wirklich relevant sein dürfte.

Zweifellos besteht aber eine gewaltige Deckungslücke, die allerdings anders als die unmittelbaren Staatsschulden die USA kaum in den Bankrott treiben können. Denn bevor er den Staatsbankrott erklärt, wird der Kongress sich wohl genötigt sehen, die Beiträge zu erhöhen und die Leistungen zu kürzen, von einer weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit ganz zu schweigen. Das größte Einsparungspotential dürfte jedoch in den Kosten der medizinischen Versorgung liegen, bei denen die USA die weltweit höchsten jährlichen Zuwachsraten aufweisen. Klar ist jedenfalls, dass die jüngeren Generationen weder bereit noch im Stande sein werden, den Älteren den Lebensstandard zu finanzieren, den ihnen die verschiedenen US-Regierungen versprochen haben.

Unabsehbare Risiken

Neben den Verpflichtungen aus der Sozialversicherung und den direkten Schulden hat die Regierung zudem noch eine Reihe von Eventualverbindlichkeiten, die nicht in der offiziellen Schuldenbilanz aufscheinen, aber schlagend werden könnten, sollte sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtern. Am höchsten dürfte dabei das potentielle Risiko der staatlichen Einlagensicherung Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) ausfallen, die mit 45 Milliarden Dollar an Reserven rund 4,8 Billionen Dollar an Einlagen versichert hat. Der Staat hat sich zudem verpflichtet, für die Kreditgarantien (CDS) des ehemals weltgrößten Versicherers AIG gerade zu stehen, die sich auf 1,6 Billionen USD erstrecken. Ebenso garantiert der Staat auch diverse private Pensionsfonds, was im Ernstfall nochmals rund 100 Mrd. USD ausmachen könnte. Ebenfalls nicht in der offiziellen Schuldenbilanz verzeichnet sind die Schulden und Garantien der beiden im letzten Sommer verstaatlichen Hypothekenagenturen Fannie Mae und Freddie Mac, die zusammen gut die Hälfte der ausstehenden US-Hypotheken garantieren oder finanzieren, was inzwischen mehr als fünf Billionen Dollar ausmacht.

Bezüglich der Risiken der Hypothekenagenturen und der FDIC dürfte es vor allem darauf ankommen, wie sich die Eigenheimpreise entwickeln. Sorgen macht dabei, dass diese trotz des bislang rund 20prozentigen Preisverfalls noch immer um fast 70 Prozent über den Preisen des Jahres 2000 liegen, als der Immobilienboom so richtig in Fahrt gekommen war. Laut dem Ökonomen Charles Kindelberger fallen nach einer spekulativen Blase die Preise in der Regel aber auf ihr Ausgangsniveau zurück, was noch weit niedrigere Hauspreise und in der Folge noch mehr Kreditverluste, Zwangsversteigerungen und Bankenpleiten verursachen würde. Das hätte entsprechend negative Folgen für das Staatsbudget, da dann wohl etliche Garantien tatsächlich zu Auszahlungen führen müssten. Und obwohl derzeit immer wieder zu lesen ist, dass sich auch am Immobilienmarkt die Lage beruhige und immerhin die Änderungsrate, d.h. die 2. Ableitung des Preisverfalls, inzwischen wieder positiv geworden sei, ist davon in den aktuellen Statistiken der Eigenheimpreise nichts zu bemerken.

Für Kotlikoff könnte der Verfall der Immobilien- und Aktienpreise allerdings auch einen positiven Aspekt haben. Für ihn liegt das Grundproblem ja in der Bevorzugung der „Alten“ gegenüber den „Jungen“. Denen könne nicht - wie vom bestehenden System aktuell vorgesehen – zugemutet werden, um mehrere Billionen Dollar mehr in das System einzuzahlen, als sie aus diesem beziehen, während es bei den „Alten“ umgekehrt ist. Durch den Preisverfall, der vor allem die Alten trifft, bekämen die Jungen nun wenigstens die Chance, diese Assets billig zu erwerben, wenn sie dies finanzieren könnten. Aus seiner Sicht erfordere die demografische Situation zudem eine Umstellung des Steuersystems auf fast ausschließlich Verbrauchssteuern, so dass die Alten doch noch zur Kasse gebeten werden könnten, wenn sie ihre Sozialversicherungsleistungen konsumieren.

Bisher haben allerdings auch die Jungen lieber konsumiert als investiert. So stieg die Bruttoverschuldung der Haushalte von 71 Prozent des BIP Anfang 2001 bis Ende 2008 auf 97 Prozent, was dem Durchschnittsamerikaner erlaubt hat, seinen Konsum um rund 40 Prozent zu steigern. Das war zwar für rund 70 Prozent des in diesem Zeitpunkt erfolgten Wirtschaftswachstums verantwortlich, dafür wurde nichts beiseite gelegt, so dass die Sparquote 2005 erstmals in einem westlichen Land mit 0,7 Prozent negativ wurde. Vielmehr wurden innerhalb von fünf Boomjahren rund 2,3 Billionen Dollar an neuen Hypotheken auf bestehende Eigenheime aufgenommen, die vor allem für Konsumzwecke, Renovierungen und Aktienkäufe verwendet wurden. Dies hat sich inzwischen jedoch geändert: Im ersten Quartal 2009 stieg die Sparquote auf 4,2 Prozent, was vorerst aber nicht viel an der langfristigen Untragbarkeit der US-Finanzen ändern dürfte.