Die zarteste Versuchung seit es Phallussymbole gibt

Italien verklärt einen Rehbockmutanten zum Einhorn

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Im Wildreservat von Prato in der Nähe von Florenz wächst einem Rehbock nur ein Horn – und das nicht links oder rechts, sondern genau in der Mitte. Seit es Bilder des Tiers gibt, schwärmen italienische und mittlerweile auch ausländische Medien vom "Unicorno". Gilberto Tozzi, der Direktor des Centro di Scienze Naturali di Prato erklärte werbewirksam, das Tier sei der "Beweis, dass das legendäre Einhorn wirklich existiert haben kann". Auch Hirsche oder andere Tiere (wie etwa Oryx-Antilopen) mit ähnlichen Missbildungen könnten seiner Ansicht nach als Vorbild gedient haben.

In Europa kennt man Darstellungen einhörniger Wesen seit der Antike. Der griechische Gott Zeus bricht der Ziege Amalthea, die ihn säugt, ein Horn ab (das als "Füllhorn" mythologische Berühmtheit erlangt) und verwandelt sie schließlich aus Dankbarkeit in einen Stern. Im Buch Daniel 8:5 ist von einem Ziegenbock die Rede der "ein ansehnliches Horn zwischen seinen Augen" hat.

Jungfrau und Einhorn, italienisches Fresko um 1602

Ktesias, ein griechischer Arzt in persischen Diensten, beschrieb einen in Indien lebenden einhörnigen Wildesel zusammen mit allerlei anderen Fabelwesen als weiß, rotköpfig, blauäugig und mindestens von der Größe eines Pferdes und Julius Caesar schreibt in der schriftlichen Rechtfertigung seines Angriffskrieges gegen die Kelten: "Es gibt ein Rind, das wie ein Hirsch aussieht und dem mitten auf der Stirn zwischen den Ohren ein einziges Horn hochwächst, das höher und gerader ist als die uns bekannten Hörner; an der Spitze verzweigt es sich weit in Form von Händen und Zweigen."

Im Mittelalter wurde dieses Tier dann fester Bestandteil des nordwesteuropäischen Volksglaubens. Wegen seiner auf der Hand liegenden Funktion als Phallussymbol spielte das geriebene Horn des mythischen Wesens eine große Rolle in der Luxusmedizin des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die dafür verwendeten Hörner stammten – ebenfalls wie die in Sammlungen und Schauen – häufig vom in der Arktis beheimateten Narwal. Dessen seltsam geformtes ("gespindeltes") Horn bestimmt seitdem die populäre Ikonographie des Einhorns.

Wildweibchen und Einhorn, Straßburger Bildteppich um 1500 bis 1510

Die Eignung des Einhorns als Phallussymbol führte in der europäischen Mythologie auch dazu, dass das Fabelwesen gerne mit Jungfrauen in Verbindung gebracht wurde. Schon der Römer Claudius Aelianus schrieb, dass weiblicher Einfluss die Wildheit des Tiers verringern könne. Im Mittelalter wurde das Einhorn besonders häufig mit der Gottesmutter dargestellt und in Knaurs Lexikon der Mythologie findet sich die recht eindeutige Passage: "Nur im Schoß einer Jungfrau findet das Einhorn Ruhe". Diese Verbindung mit dem Jungfräulichen hat sich gehalten: heute ist das mythische Wesen mehr denn je Bestandteil des Kulturschatzes vorpubertierender Mädchen – ein Effekt, welcher einen großen Teil zur Popularität des italienischen Mutantenrehbocks beitragen dürfte.

Jungfrau mit dem Einhorn, französischer Bildteppich aus dem 15. Jahrhundert