Diesseits von Bürger- und Freiheitsrechten

Autofahrer als Modell: Über die Versprechen staatlicher und die Grenzen neoliberaler Sicherheitspolitik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sicherheit oder Freiheit hallt es aus dem Bundesinnenministerium nach. Sicherheit ist teuer, betont das Finanzministerium rasch. Während dessen plant das Wirtschaftsministerium vorläufig, potenzielle Terrorfolgekosten für Unternehmen zu übernehmen, sofern diese EUR 3 Milliarden überschreiten. Stillschweigend unterstellt die gegenwärtige Politik, dass das alles gut für die Menschen ist. Aber wessen Sicherheit ist damit gemeint? Was wird versichert? Und auf wessen Kosten gibt es diese Sicherheit? Das ist zu diskutieren, wenn es politische Maßstäbe für eine Sicherheitspolitik geben soll.

Autofahrer schützen ihr Auto mit einer Autosicherung. In ihrer Wunschvorstellung verhindert sie Diebstahl und Beschädigung durch einen unbefugten Benutzer. Etwas realistischer gesehen schränkt sie den Kreis mutmaßlicher Diebe auf die technisch Kompetenteren ein. Oft hält sie den Täter auch nur auf, womit er dann allerdings von seinem Vorhaben abgelenkt werden kann. Vor dem kompletten Abtransport des Wagens, roher Gewalt oder gar der Zerstörung durch abstürzende Flugzeuge schützt die Autosicherung meist nicht. Dennoch denken Autofahrer, dass eine Autosicherung ein Auto sichert. Sie gehen davon aus, dass es Sicherheit nur vor bestimmten Gefahren und Tätern sowie für bestimmte Zwecke gibt.

Vor welchen Gefahren und vor welchen Tätern man sich schützt und welche Sicherheit man damit gewährleistet, hängt davon ab, in welchem Rahmen Sicherheit gedacht wird. Eine davon ausgehende Bedrohungsanalyse kalkuliert das Gefahrenpotential: eine Lenkradkralle wird in einer geschlossenen Garage zu viel des Guten sein. In den meisten Großstadtzentren dagegen wird es eher nicht ausreichen, nur die Autotüren abzuschließen. Zu prüfen ist, ob das Auto mit einer Art transportablen Harpunenschussgerät im Asphalt zu verankern ist. Technisch möglich ist es auch, die Karosserie des Autos so zu verstärken, dass sie einem abstürzenden Flugzeug standhält. Schließlich ist abzuwägen, in welchem Verhältnis der Aufwand für Sicherungsmaßnahmen zum Wert des Autos stehen soll. Die Diskussion darum, wie Sicherheit zu erreichen ist, sollte hinter diese praktische Klugheit nicht zurückfallen.

Sicherheit für wen, vor was und vor wem?

Zu fragen ist also danach, für wen, vor was und vor wem Sicherheit geschaffen werden soll. Da das Thema dieses Essays nicht nur die Autofahrer, sondern alle Menschen in der Bundesrepublik sind, geht es um Sicherheit für die Menschen, Sicherheit vor Aktionen, die sie bedrohen, und Sicherheit vor den sie bedrohenden Akteuren.

Im Vergleich zu Autos sind Menschen auf wesentlich vielfältigere Weise gefährdet. Menschen können sozial ausgegrenzt werden, weil der Mensch ein soziales Wesen ist. Sie können verletzt und getötet werden, weil sie verletzungsoffen und sterblich sind. Menschen können auch materiell geschädigt werden. Ihrer materiellen Existenzbedingungen können sie beraubt werden, da es für sie keine soziale Grundsicherung ohne Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang gibt.

Die in der Tat bedrohenden Aktionen entsprechen dem, wodurch die Menschen gefährdet sind. Weil Menschen sozial ausgrenzbar sind, können sie durch Gettoisierung, Brandmarkung oder Ausschluss getroffen werden. Weil sie verletzbar und sterblich sind, können Menschen durch Folter, Vergewaltigung oder Mord Schaden nehmen. Weil Menschen materielle Dinge benötigen, sind sie durch Diebstahl, Raub oder Betrug existenziell gefährdet.

Menschen sind bedrohungsoffen. Das kann eingeschränkt, aber nicht kontrolliert oder verhindert werden. Sicherheit kann es, im Unterschied zu den bedrohenden Aktionen, nur vor Serientätern geben. Vor den Brüdern Sass, Dillinger oder dem österreichischen Briefbombenattentäter Franz Fuchs kann relative Sicherheit erreicht werden. Prävention ist möglich, weil dieselben Täter nach denselben Aktionsmustern handeln. Vor sich selbst richtenden Amokläufern und Selbstmordattentätern aber kann es keine Sicherheit geben, da hier eine Wiederholung der Tat schon dem Begriffe nach sehr unwahrscheinlich ist.

Schützen, Erkennen oder Reagieren?

Autofahrer wissen sehr wohl, dass es einen vollständigen Schutz vor Bedrohungen für ihr Auto nicht gibt. Ihren Wünschen an die Autosicherung entsprechen darum die Vorstellungen, wie sie die unvermeidbaren Bedrohungen einschränken wollen.

Ausgangspunkt ihrer Bedrohungsanalyse kann die Verhinderung und Prävention der Gefahr sein. Identifizierung, Verfolgung und Bestrafung von Tat und Täter kann ein anderer Ausgangspunkt sein, von dem her das Bedrohungspotential eingeschränkt werden soll.

Welcher Ausgangspunkt gewählt und welche Sicherheitsmaßnahme bevorzugt wird, ist davon abhängig, wie die Autofahrer das Auto nutzen und welchen Wert es für sie hat. Wird das Auto für tägliche Fahrten zur Arbeit, mit dem Kind zur Schule oder zur Betreuung von Angehörigen genutzt, wird die Prävention im Mittelpunkt stehen. Leistungen der Autoversicherung können hier kurzfristige Ausfälle dieses elementaren Kommunikationsmittels nicht adäquat bzw. nur teuer oder mit hohem persönlichen Zeitaufwand ersetzen. Ist das Auto dagegen ein reines Wirtschaftsgut, verschiebt sich die Perspektive der Bedrohungsanalyse hin zu Identifizierung, Verfolgung und Bestrafung.

Über die partiellen Interessen der Autofahrer hinaus ist also zu fragen, wie Schutz vor Bedrohung, eine Erkennung der bedrohenden Aktionen oder eine Reaktion auf die Täter erfolgen soll und wen das vor was und wem schützt.

Kurzatmigkeit und Risikomanagement

Unternehmerisches Denken nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Unternehmensbilanz. Zeitlich gesehen ist es hierbei für das Unternehmen irrelevant, ob eine Gesamtrendite von 500 % durch jährlich durchschnittliche 10%ige Zuwächse in 50 Jahren oder 100%ige Zuwächse in 5 Jahren erreicht wird. Der Zeitraum ist im Verhältnis zur Bilanz eine Variable. Längere Zeiträume bedeuten hier höhere Risiken, da mögliche Marktveränderungen schwerer prognostizierbar sind. In der Folge tendiert wirtschaftliches Denken zu kurzfristigen Maßnahmen. Diesen kurzfristigen Maßnahmen entsprechen die Vorstellungen über eine Einschränkung der Bedrohungen.

Geschäfte machen bedeutet für wirtschaftliches Denken immer auch, Geschäftsrisiken einzugehen. Eine vollständige Ausschaltung des Risikos würde die totale Kontrolle über alle Bedrohungspotentiale voraussetzen. Eine totale Kontrolle, zumal der Zukunft, ist nicht möglich. Im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Grenznutzenrechnung ist sie ohnehin obsolet. Folglich wird kalkuliert, ob ein Produkt oder eine Dienstleistung auf dem Markt Erfolg haben werden. Die Bedrohungsanalyse leistet den Umgang mit dem Risiko, das Risikomanagement.

Die Kreditkartenindustrie der USA etwa verliert jährlich 10 Milliarden Dollar durch Kreditkartenbetrug an Automaten. Sie weiß, dass diese Verluste an Automaten fünfmal so hoch sind wie der Kreditkartenbetrug an Tankstellen und in Geschäften mit Angesicht-zu-Angesicht-Transaktionen. Trotzdem akzeptiert die Kreditkartenindustrie dieses Risiko. Der Verzicht auf die teuren betrugsanfälligen Automaten würde den Marktanteil der Kreditkarte im Zahlungsverkehr senken und damit höhere Einbußen beim Umsatz und Gewinn als durch den Kreditkartenbetrug verursachen. Verfehlt wäre es jetzt aber, der Kreditkartenindustrie ein Desinteresse an Sicherheit vorzuwerfen.

Sicherheit ist für wirtschaftliches Denken eine Kostenstelle. Sicherheit kostet etwas, was dann in der Bilanz fehlt. Vor allem verschlingt sie Zeit. Mögliche Schadensansprüche kosten auch etwas, aber da Kosten reparabel sind, können sie als Geschäftsrisiken adäquat mit Geld versichert werden. Tritt der Schadensfall ein, folgt ein Anspruch auf Versicherungsleistungen aus der Erkennung und Identifizierung bzw. daraus, dass eine Reaktion, z. B. in Form einer Anzeige oder Klage erfolgt ist.

Sicherheitsstandardwerke, wie Bruce Schneiers Secrets & Lies, können darum auch konstatieren:

Im Geschäftsleben müssen Risiken eingegangen werden; das ist der Grund, warum sich die wirkliche Geschäftswelt viel mehr auf Angriffserkennung und Reaktion als auf Prävention konzentriert.

Für wirtschaftliches Denken stehen hinsichtlich der Bedrohungen nur die Optionen, ob sie akzeptiert, reduziert oder versichert werden sollen. Langfristige Prävention und aktuelle Gefahrenabwehr sind so nicht fassbar.

Eine Sicherheitspolitik für die Menschen

Die menschliche Zeitdimension ist seine Lebenszeit. Weder ist diese Lebenszeit eine Variable, wie im wirtschaftlichen Denken. Noch sind die Schäden, die ein Mensch nehmen kann, reparabel und damit kalkulierbar. Ein sicherheitspolitisches Denken, das von den Interessen der Menschen ausgeht, muss daher einen anderen Ausgangspunkt als wirtschaftliches Denken nehmen.

Die Größe des Bedrohungspotentials für den Menschen ist davon abhängig, über welche Ressourcen er verfügt. Ein demoliertes Auto etwa ist für die vom "Manager-Magazin" jährlich präsentierten Euro-Milliardäre dieses Landes in aller Regel nur eine Frage der Versicherung. Ist der Nutzen des Wagens wesentlich höher als sein Versicherungswert oder ist der in die Jahre gekommenen Wagen versicherungstechnisch nicht ersetzbar, verfügt der Autofahrer im Schadensfalle über kein Auto mehr.

Bedroht sind besonders jene, die über geringere oder fragile soziale, körperliche oder materielle Ressourcen verfügen. Sind Menschen in mehreren Hinsichten bedrohungsoffen, kann sie eine Aktion zugleich auf mehrfache Weise bedrohen. Ein fehlendes Auto kann hier bedeuten, die Arbeit und seine sozialen Kontakte zu verlieren oder praktisch vom öffentlichen Leben abgeschnitten zu sein.

Wird auf alle Menschen in der Bundesrepublik gesehen, sind einige Gruppen augenfällig bedroht. Ältere Menschen, Frauen und Kinder sowie Arme, Ausländer und Behinderte etwa sind sowohl sozial, körperlich als auch materiell existentiell besonders gefährdet, weil sie in mehreren Hinsichten bedrohungsoffen sind.

Jenseits von Neoliberalismus und Staatlichkeitsdünkel

Zu einer Sicherheitspolitik gehören die Erkennung der bedrohenden Aktionen, die Reaktion auf die Täter sowie die Erzeugung eines Verfolgungsdrucks. Ausgangspunkt für eine vom Menschen ausgehenden Sicherheitspolitik aber ist die langfristige Prävention und Verhinderung von Straftaten sowie der aktuelle Schutz.

Legt man diese Maßstäbe z. B. an die Sicherheitspakete der Bundesregierung an, fällt das Urteil verheerend aus. Aktuellen Schutz und präventive Wirkung versprechen die Änderungen bei der Transportsicherheit. Neben der zögerlichen Behebung von Vollzugsdefiziten zielen die Änderungen bei der Finanzdatenerhebung, der Festschreibung biometrischer Daten, dem Sozial-, Vereins- und Ausländerrecht, dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz, der Rasterfahndung sowie der Telekommunikationsüberwachungsverordnung aber nur auf die Erkennung und Verfolgung von Straftaten.

In der Kurzfristigkeit der Sicherheitsmaßnahmen ist sich der politische Aktionismus mit den Jahresbilanzstrategien des wirtschaftlichen Denken einig. Zu befürchten ist wie in der Drogenpolitik eine Zunahme der Kriminalität bei einer gleichzeitig fallenden Gesamtkriminalitätsrate. Politische Lobbyarbeit für staatliche Institutionen tut ihr übriges dazu. Dass mit diesen Gesetzesänderungen die bedrohtesten Bevölkerungsgruppen geschützt werden, darf bezweifelt werden; dass durch einen sich als Vormund etablierenden Staat grundlegende Bürger- und Freiheitsrechte abgebaut werden, steht fest. Ohne diese Grundrechte indes können wir Mängel der Sicherheit und unsere unterschiedlichen Ansprüche an sie nicht mal mehr diskutieren. Und was den Autofahrern recht ist, muss den Bürgern allemal billig sein.

Die Politik hat in den letzten beiden Jahrzehnten sukzessive immer mehr Bereiche in die Kontrolle der Wirtschaft abgegeben. Einige Folgen davon waren, dass aus Asylbewerbern Wirtschaftsflüchtlinge, aus älteren Menschen die Rentnerschwemme, aus Kranken Kostenfaktoren und aus Kriegsleiden Kollateralschäden wurden.

Menschen generell werden auf ihre ökonomische Rentabilität getaxt und auf diesen Wert zurecht gehauen. Die weitgehend ungebrochene Kontinuität dieser neoliberalen Denkens findet in der gegenwärtigen Sicherheitspolitik ihre Fortsetzung. Notwendig ist es dagegen, die Sicherheitspolitik von den unpassenden Anleihen aus dem wirtschaftlichen Denken zu befreien, die über den Konsumenten hinausgehende Bürger- und Menschenrechte aus dem Blick verlieren und Sicherheit zu einer Frage der Versicherbarkeit machen.

Es gibt eine Alternative. Gewiss darf eine Sicherheitspolitik nicht darin bestehen, alle Menschen unter einen großen staatssozialistischen oder -konservativen Regenschirm zu zwingen, selbst wenn der Himmel das Weltende anzukündigen scheint. Wer nass werden will, darf nicht zur Trockenheit gezwungen werden. Wo es praktisch ist, kann über kleinere und größere Schirme diskutiert und entschieden werden. Bedingung einer Sicherheitspolitik sollte aber sein, dass Regenschirme - unterschiedliche soziale, körperliche oder materielle Voraussetzungen ausgleichend - überhaupt für jeden Einzelnen zugänglich sind und dass diejenigen, die den Regenschirm nicht selbst halten können, nicht allein im Regen stehen gelassen werden.