Drosten: keine "Pandemie der Ungeimpften"

Christian Drosten. Bild: Peitz, Charité

Charité-Virologe gegen "falsches Narrativ". Weiterhin Kritik an möglicher Impfpflicht. Konsens zu "Boostern"

Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen und einer Debatte über die epidemische Notlage wird weiterhin vor allem über den Fortgang der Impfkampagne und die Rolle von Ungeimpften gestritten. Eine Impfpflicht, wie sie von politischen Akteuren wiederholt ins Spiel gebracht worden war, scheint juristisch fragwürdig.

Selbst der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich inzwischen gegen einen solchen Schritt ausgesprochen, allerdings mit einem politischen Argument: "Eine Impfpflicht würde unser Land zerreißen", so der CDU-Politiker im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit hat der Berliner Virologe Christian Drosten nun die viel verbreitete These kritisiert, nur die ungeimpfte Bevölkerungsminderheit sei für die Eskalation der Pandemie verantwortlich. Es sei falsch, nur von einer "Pandemie der Ungeimpften" zu sprechen, sagte Drosten, und weiter:

Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie. Und wir haben Menschen, die noch sehr gefährdet sind, die älteren Ungeimpften. Bei den über 60-Jährigen haben wir nur eine Impfquote von 86 Prozent vollständig Geimpfter, das ist irrsinnig, das ist wirklich gefährlich.

Christian Drosten

Es gebe eine Pandemie, zu der alle beitragen - "auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger", sagte der Leiter der Klinik für Virologie an der Berliner Universitätsklinik Charité. Die Delta-Variante des Corona-Virus Sars-CoV-2 verbreite sich trotz der Impfung. Schon nach zwei bis drei Monaten beginne der Schutz der Impfung zu schwinden.

Drosten trat daher auch der These entgegen, die Überlastung der Kliniken sei nur auf Ungeimpfte zurückzuführen – auch wenn er nachdrücklich für Impfungen plädierte. Diese These war von vielen Medien in den vergangenen Wochen verbreitet worden, ohne von Zahlen gedeckt zu sein.

So zeigt eine Aufschlüsselung der Altersstruktur der Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf Intensivstationen bundesweit, dass knapp zwei Drittel dieser Alterskohorte über 60 Jahre alt ist. Zugleich kommt es vor allem bei diesem Betroffenen trotz vollständigen Impfschutzes zu Impfdurchbrüchen.

Plädoyer für Impfung und "Booster"

Der Berliner Virologe sprach sich vor diesem Hintergrund für sogenannte Booster-Impfungen "mit großem Elan" aus. Begonnen werden solle dabei bei den älteren Menschen. Der Charité-Virologe geht davon aus, dass man damit "wahrscheinlich zumindest für die Dauer des Winters den Herdenschutz gewährleisten" könne.

Kurzfristig werde man mangels Alternativen wegen der Ungeimpften wieder in kontakteinschränkende Maßnahmen gehen müssen, so Drosten weiter, der eine großangelegte Testkampagne wie im Frühjahr für nicht praktikabel und einen umfassenden Lockdown für rechtlich nicht durchsetzbar hält. Die letzte Option sei daher ein 2-G-Modell, also in Lockdown für Ungeimpfte.

Gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger kritisierte der Virologe Klaus Stöhr indes Drostens Warnung vor einer "gesellschaftlichen Notsituation". Im Zeit-Interview hatte Drosten gesagt: "Bei uns würde eine unkontrollierte Nachdurchseuchung mindestens noch einmal 100.000 Tote bedeuten, wenn wir nicht die Impflücken vorher schließen."

"Ich kann Drostens Warnung nicht nachvollziehen. Es gibt keine Zahlen und Fakten, die das auch nur annähernd belegen", sagt Stöhr im Podcast Die Wochentester des Kölner Blattes und des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Stöhr weiter: "In meiner Wahrnehmung geht das sehr weit an der Realität vorbei. Und man verunsichert Menschen."

Allerdings geht auch Stöhr, der von 1991 bis 2006 in führenden Positionen bei der Weltgesundheitsorganisation WHO war, unter anderem als Leiter des globalen Influenza-Überwachungsprogramms, von einer gewaltigen Herausforderung aus: Der Winter werde hart, was die Zahl der Fälle betrifft.

"Aber: Es ist immer noch nicht angekommen, dass die Pandemie erst dann vorbei ist, wenn sich alle infiziert haben", so Stöhr weiter. Eine Impfpflicht für alle hält er in Deutschland gegenwärtig für "nicht vernünftig". Auch sei es ein Fehler, Ungeimpfte zu stigmatisieren. Man müsse dem entgegen "das Boostern zu den Menschen bringen".