"Dunkle Materie ist für die Astrophysik die absolute Katastrophe"

Prof. Dr. Harald Lesch im Gespräch, Teil 2: Der "Alienkiller"

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Dr. Harald Lesch ist Professor für theoretische Astrophysik an der Universität München. Zu den Hauptforschungsfeldern des 40jährigen gehören Schwarze Löcher, Neutronensterne und kosmische Plasmaphysik. Bekannt geworden ist er durch die TV-Astronomie-Reihe Alpha Centauri im Bayerischen Fernsehen (BR-alpha). (vgl. Teil 1"Astronomie ist unglaubliche Ahnenforschung auf allerhöchstem Niveau&#171)

Der "Alienkiller"

Was halten Sie von den Radioastronomen, die den Himmel nach außerirdischen Funksignalen abtasten? Hat die SETI-Forschung prinzipiell überhaupt eine Existenzberechtigung?

Lesch: Also, wenn wir das nicht angehen, sind wir es selber schuld. Es bleibt aber zu hoffen, dass ET & Co nicht unserem Beispiel folgen. Denn wenn alle nur lauschen, wird es logischerweise zu keiner interplanetaren Kommunikation kommen.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von außerirdischem intelligenten Leben im All?

Lesch: Mein persönliches Resümee ist, dass in den Tiefen des Alls auf fernen Planeten zwar jede Menge grüner Schleim vorhanden ist, aber eben kein Leben. Aber viel wichtiger bei der Frage "Sind wir allein im Universum" ist für mich, dass diese ein tolles, ja fantastisches trojanisches Pferd ist, um den Leuten Astronomie zu verkaufen.

So groß in der breiten Bevölkerung das Interesse an astronomischen Thema sein mag - nach wie vor boomen esoterische Pseudowissenschaften wie die Astrologie. Hätte Ihre Zunft nicht schon vorher gegen diesen Trend einen Informations- und Bildungsfeldzug starten müssen?

Lesch: Die Krönung des Wahnsinns ist, dass sich mittlerweile sogar Leute teure Hard- und Software kaufen, mit der sie ihr Horoskop auf elektronische Weise erstellen. Was die Astrologie bietet, ist ein krudes, sehr diffuses, mystisches Weltverständnis darüber, dass der Planetenstand irgendetwas mit den jeweiligen Charaktereigenschaften zu tun haben könnte. Da kann man die unmöglichsten Vergleiche anstellen. Die Schwerkraft, die die Hebamme zum Zeitpunkt der Geburt auf das Baby ausübt, ist ja viel, viel größer als die Schwerkraft, die Saturn, Jupiter, Uranus oder Neptun zusammengenommen auf den Säugling ausüben können. Aber trotzdem glauben die Leute an diesen Hokuspokus. Meiner Meinung nach sind sämtliche Astrologen unter dem Sternzeichen Pecunia zur Welt gekommen. Denen ist es nämlich völlig egal, mit was für einem Nonsens sie ihr Geld verdienen. Mittlerweile werden in Deutschland 500 bis 600 Millionen DM jährlich für Horoskope und entsprechende astrologische Lebensberatung ausgegeben. Wir leben bedauerlicherweise nicht mehr im Zeitalter der Aufklärung.

Inwiefern hat das Internet ihre Arbeit verändert? Hat es Ihrer Ansicht nach die interdisziplinäre Arbeit beflügelt?

Lesch: Das Internet ist für uns die Informationsrutschbahn überhaupt. Die Astronomie war schon immer international angehaucht; aber durch das Internet ist sie global geworden.

Gab oder gibt es einen Antagonismus zwischen der beobachtenden und theoretischen Astronomie?

Lesch: Nein, nicht wirklich. Die Beobachter wissen, dass sie ohne uns nicht auskommen, und wir wissen, dass wir ohne die Beobachter nicht das Datenmaterial bekämen, über das wir uns dann die Köpfe zerbrechen dürfen. Insofern respektieren wie uns gegenseitig. Manchmal gelingt es sogar, zusammen ein Projekt aufzuziehen. Doch in der Regel leben wir in zwei verschiedenen Welten.

Genau fünfzig Jahre nach der historischen Apollo-Mondlandung sollen am 20. Juli 2019 - so zumindest das Wunschdenken einiger NASA-Planer - Menschen erstmals den roten Marssand aufwirbeln. Was halten Sie von einer bemannten Mars-Expedition?

Lesch: Wir können eine bemannte Mars-Mission nur damit rechtfertigen, dass sie in psychologisch-philosophischer Hinsicht wirklich unglaubliche Rückwirkungen haben kann. Wir müssen begreifen, dass wir auf diesem Planeten alle in demselben Boot sitzen. Wir können es uns nicht leisten, unser blaues Juwel zu ruinieren. Dann sind wir weg vom kosmischen Fenster.

Das erinnert an den Overview-Effekt, den Astronauten erleben, wenn sie im Orbit den Blick nach unten bzw. oben richten und die Verletzlichkeit unseres Heimatplanenten sehen.

Lesch: Ja, genau das. Ich denke, dass man dies noch dadurch verstärken könnte, wenn man zu einem ganz anderen Planeten reist. Was die Mondlandungen anbelangte, war dies nur ein kurzer Abstecher zu einem unmittelbaren Nachbarn. Bei einer Mission zum Mars wäre alles anders.

Ja, vor allem die Gefahren für das marsiane Astronautenteam wären außerordentlich groß?

Lesch: Ja, diese wären immens. Aber bei einer Reise zum Mars würden die Menschen weltweit bibbern, dass die Crew da oben auch wirklich ankommt. Das führt Menschen zusammen. Natürlich wäre dies für die Besatzung eine Art Himmelsfahrtkommando. Daher müssen wir alles tun, damit die Mannschaft so sicher wie möglich diese Reise übersteht. Aber von einer solchen Mission würde die irdische Technologie enorm profitieren.

Kritiker werfen dem Projekt vor, dass es zu kostenintensiv sei.

Lesch: Nach meinem Dafürhalten ist das ganze Gerede von der betriebswirtschaftlichen Rechtfertigung solcher Großprojekten deplaciert. Wenn Gott einen Industrieberater zur Seite gehabt hätte, hätte er das Universum, so wie wir es kennen, nicht konstruieren dürfen, weil der Industrieberater ihm gesagt hätte: "Das bringt wirtschaftlich überhaupt nichts!"

Keiner weiß so recht, ob sich bei den Marsreisenden nach einer gewissen Zeit nicht jener Rauschzustand einstellt, den Flugzeugpiloten oder Tiefseetaucher als "Break-off-Effect" fürchten. Wie reagiert ein Mensch, der seinen Heimatplaneten über ein Jahr hinweg nur als kleinen Punkt wahrnimmt?

Lesch: Das wird man erst wissen, wenn man die Situation durchlebt hat.

Das neue Jahrtausend hat kalendarisch gesehen gerade erst begonnnen. Passend dazu zeichnen sich in vielen naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen Paradigmenwechsel ab. Denken wir nur mal an die IT-Revolution oder die Genomforschung. Wo sehen Sie in Ihrer Disziplin den Umbruch, den Paradigmenwechsel?

Lesch: Ein Paradigmenwechsel würde sicherlich dann eintreten, wenn wir eine Antwort auf das größte Problem fänden, das uns Astrophysiker derzeit quält. Ich meine die Dunkle Materie. Meinem Dafürhalten nach ist dieses Problem für die Astrophysik die absolute Katastrophe. Es ist fürchterlich.

Dagegen sind wohl Schwarze Löcher ein wahres Vergnügen, lassen diese sich doch zumindest indirekt nachweisen?

Lesch: Also, Schwarze Löcher sind wunderbar. Das ist ja noch alles Picobello - kein Thema. Von der Dunklen Materie hingegen wissen wir nur, dass es davon eine irrsinnige Menge gibt. Wir haben jedoch überhaupt keine Ahnung, aus was sie besteht. Was aber noch viel schlimmer ist: Bis vor ein paar Jahren hat man gedacht, dass die Dunkle Materie eine andere Form als die uns bekannte Materie ist. Inzwischen wissen wir aber, dass wir quasi nur ein kosmischer "Dreckeffekt" sind. Jetzt kennen wir die nichtbaryonische Dunkle Materie, die ungefähr 30 Prozent des Universums ausmacht. Fast 70 Prozent des Universums hingegen besteht aus einem Stoff, den wir momentan in die kosmologische Konstante hineinstauen. Das Universum scheint auf der allerhöchsten Skala von einer Form von Energie dominiert zu werden, die antigravitativ ist und das Universum auseinander treibt.

Die neuesten Beobachtungen sagen uns, dass das Universum auf großen Längenskalen schneller expandiert als in unserer unmittelbaren Umgebung. Die Idee des aufblasbaren Ballons, auf dem irgendwelche Punkte sind, die sich mit dem Größerwerden des Ballons gleichmäßig voneinander fortbewegen, stimmt überhaupt nicht. Man dachte immer: Je weiter sie weg sind, desto schneller müssen sie sich voneinander entfernen. Das müssen wir jetzt ad acta legen. Vielmehr bewegen sich jene, die ganz weit weg sind, noch viel schneller von uns fort, als wir dies ursprünglich angenommen haben. Heute stehen wir in der theoretischen Physik und damit in der Kosmologie vor dem Riesenproblem, dass wir dringend ein Modell brauchen, das dieses Phänomen adäquat erklärt. Aber davon ist weit und breit nichts, aber absolut gar nichts in Sicht. In gewisser Weise geht es uns so wie vor 100 Jahren, als man mit dem Äther versuchte, die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen zu definieren. Heute laufen wir mit fragenden Augen und offenen Mündern durch ein Universum, von dem wir erfahren, dass es so völlig anders ist, als wir anfangs gedacht haben. Es wird noch sehr lange dauern, bis wir genau wissen, wie unser Universum entstanden ist.

Was stört Sie im Wissenschaftsbetrieb?

Lesch: Die heutige Astrophysik entwickelt sich ein klein wenig wie die Elementarteilchenphysik. Die so genannte Big Science gewinnt zunehmend an Bedeutung. Man arbeitet in internationalen Großteams an einem bestimmten Projekt. Aber das persönliche Moment, die persönliche Befriedigung eines Wissenschaftlers kommt dadurch zum Ausdruck, dass man eine Frage gestellt und nach langer wissenschaftlicher Untersuchung vielleicht auch ein Ergebnis erzielt hat - und vielleicht noch eine Erkenntnis obendrein. Aber das kommt momentan zu kurz.