Durchblicker schon mit einem Jahr

Bereits bevor sie sprechen können, zeigen Babys erstaunliche Fähigkeiten darin, die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen einzuschätzen

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Die Suche nach Spuren von Intelligenz ist ein Forscherdrang, den Menschen in allen möglichen Alltagssituationen ausgesetzt sind, mit mehr oder weniger befriedigenden Ergebnissen. Ein internationales Forscherteam hat ein relativ schwieriges Objekt auf Intelligenz hin untersucht: einjährige Babys.

Zwar geht man allgemein davon aus, besonders natürlich die Eltern, dass die kleinen Wesen klug sind, doch stehen den Kleinen nicht die verbalen Mittel der Größeren zur Verfügung. So dass ihre Intelligenz über einen längeren Zeitraum hinweg eine Art Familiengeheimnis bleibt, das gerade jenen Besuchern, die auf sprachlichen Austausch setzen, verschlossen ist. Was Eltern aufbringen, steht vielen der Besucher einer Welt, deren Sonne unerklärlicherweise ein speckiger, babbelnder Krabbler ist, nicht zur Verfügung: die Aufmerksamkeit für jede Regung des Babys, insbesondere für dessen Blicke ("Schau, wie es schaut").

Der Blick der Kleinen war auch entscheidend für die Wissenschaftlern aus Ungarn, den USA, Frankreich, Spanien und Italien. Je länger ein Baby hinschaut, desto überraschter ist es. Mit dieser Annahme, die sich in der Forschung bewährt hat, konzipierten die Forscher eine Versuchsanordnung, in der die zwölf Monate alten Sprößlinge demonstrieren konnten, dass sie Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen in einer anspruchsvoll komplexen Umgebung sehr gut einschätzen konnten.

So gut, dass sie, wie die es im Jargon der Wissenschaftler heißt, "one-shot"-Beurteilungen von neuen Situationen abgeben können - eine Fähigkeit, die die Forscher für nichts weniger als den Kern menschlicher Intelligenz halten, was sich auch daran zeige, dass genau diese Fähigkeit das "missing link" künstlicher Intelligenz sei.

Verblüffend "sophisticated"

Zur Beurteilung von Situationen kann man sich manchmal auf eine Art statistischer Empirie verlassen, darauf, wie oft etwas in der Vergangenheit passiert ist. Man weiß aus Erfahrung, dass ein Bauklotz, der am Rand eines Tisches liegt, mit größerer Wahrscheinlichkeit herunterfällt als ein Bauklotz, der weiter innen an der Tischplatte plaziert ist. Wenn mehr rote Bauklötze am Rand des Tisches liegen als gelbe, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein roter bei einem Schubs fällt.

Doch welcher Bauklotz fällt zuerst, wenn - nicht ganz am Tischrand, sondern weiter nach innen gerückt - mehrere gelbe Steine aufgetürmt werden und der Tisch einen Stoß bekommt? Der oberste Bauklotz am Türmchen oder Bauklötze am Tischrand? Man kann die Anordnung leicht mit weiteren Variablen - höherer Turm, mehrere Türmchen etc. - komplexer gestalten. Das Entscheidende ist, dass es menschliches Schlussfolgern braucht, um die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse einzuschätzen

Bild:L. Bonatti and E. Téglás

Es sind diese Art von Fragen, denen die Babys ausgesetzt waren. Auf einem Bildschirm wurden ihnen vier sich bewegende Gegenstände in einem Kreis gezeigt, der einen Ausgang hatte. Eine Art Los-Tombola. Drei Gegenstände, die darin herumwirbelten, waren von der gleichen Art; das vierte hatte eine andere Form, die sich deutlich von den anderen drei unterschied. Der Kreis - das Innere der Tombola - wurde dann abgedunkelt. Die Babys konnten nicht mehr sehen, wie die Bewegungen im Inneren aussahen. Für sie blieb das Bild, welche der Formen sich vor dem Abdunkeln in der Nähe des Ausgangs befand. Dann wurde die Tombola dunkel, nach einiger Zeit fiel ein Gegenstand aus dem Inneren. Aufgrund der Blickdauer der Kleinen folgerten die Wissenschaftler, wie überrascht die Babys über den Eintritt des Ereignisses waren.

Das Spiel wurde variiert, die Gegenstände mehr oder weniger nah am Ausgang platziert, Zeiträume der Einsicht verkürzt, die Zeit bis zum Erscheinen des Gegenstands draußen verlängert und so weiter - die raffinierten Anordnungen mögen sich ändern, das Staunen der Forscher blieb: Die Fähigkeit der sprachlosen Babys, vernünftige Schlussfolgerungen über komplexe, vorher noch nicht gesehene, Ereignisse zu treffen, sei verblüffend "sophisticated", so das Fazit der Wissenschaftler.

Da die Ergebnisse der Einjährigen mit dem übereinstimmten, was in der englischsprachigen Forschung das "Bayesian ideal observer"-Modell genannt wird (nach dem britischen Mathematiker Thomas Bayes), liege nahe, dass die Kleinen ihre Schlüsse aufgrund von Beobachtungen der Objekte im Kreis trafen, ihre Einschätzung somit auf abstrakten Prinzipien gründeten und die Babys nicht einfach nur auf Bauchgefühl reagierten.