Ein Mehr von Unentscheidbarkeiten

Ein Gespräch mit dem Soziologen Dirk Baecker über den Konstruktivismus, das Beoachten von Beobachtern, die Medienwissenschaft und das Internet.

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Dirk Baecker gilt derzeit als der profilierteste und profundeste Kenner des differentialistischen Genres. Neben der soziologischen Medientheorie beeinflussen vor allem die Biokybernetik Heinz von Foersters und das Formenkalkül des englischen Mathematikers George Spencer-Brown sein Denken, das die Operationen des Beobachters auf alle möglichen sozialen Phänomene anwendet.

Das von Rudolf Maresch per Email mit Dirk Baecker geführte Interview unternimmt den Versuch, die Grundlagen und kybernetischen Wurzeln systemkonstruktivistischen Denkens zu erkunden, es auf seine "blinden Flecken" hinsichtlich Hardware, Raum und Körpern zu befragen und seine Tauglichkeit und Relevanz für eine erst im Aufbau befindliche Theorie der Evolution elektronischer Medien zu testen.

Starten wir unser Gespräch mit George Spencer-Brown. Anfang der 90er Jahre hast du dich mit zwei Suhrkamp-Bänden um die Verbreitung und wissenschaftliche Würdigung der Gesetze der Form bemüht.Warum dieses Engagement? Und worin siehst du das "Herkuleische" (Heinz von Foerster) dieses Werkes?

Dirk Baecker: Mich hat an der Systemtheorie immer ein Moment interessiert, das man am einfachsten vielleicht als Verabschiedung des Systembegriffs kennzeichnen könnte. Kann man sich das vorstellen: eine Theorie zur Verabschiedung ihres Leitbegriffs? Dahinter steckt eine komplizierte Denkbewegung – vielleicht Wittgensteinscher Art – und ein historisches Motiv – die Sicherung der sozialen Welt als Differenz, als mögliche Menge verschiedener Meinungen –, die hier nicht zu explizieren sind. Wichtig war mir immer, daß die Systemtheorie letztlich eine "Systemumwelttheorie" ist, die prinzipiell und systematisch immer auch etwas über die "andere Seite" des Systems sagt (oder vielleicht auch nur: zeigt) und die jeden Einschluß als andere Seite eines Ausschlusses zu bedenken vermag.

Es ist kein Zufall, daß die soziologische Systemtheorie von einem Wissenschaftler ausgearbeitet worden ist, der zunächst als Verwaltungssoziologe arbeitete und an seinen Akten einen sehr genauen Sinn für diese Einschlußausschlußpraxis entwickeln und bestätigen konnte. Bei Spencer-Brown wird diese Frage nach der anderen Seite aller Operationen zum Einsatzpunkt jeglichen Kalküls. Plötzlich – nämlich auf der Ebene der Beobachtung von Operationen, also der Beobachtung zweiter Ordnung – sieht man, daß man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, weil der Blick mit der Unterscheidung zunächst einmal und unvermeidbar auf die Innenseite der Unterscheidung gelenkt wird und die Außenseite dabei unbeleuchtet bleibt – vom dritten Wert jeder Unterscheidung, der trennenden Operation selbst, zu schweigen.

Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, daß ich mich für die Gesetze der Form "engagiert" habe. Mir war wichtig, daß ich zusammen mit Luhmann, der mich bei der Ausrichtung der Konferenz, die den beiden Bänden vorausging, sehr unterstützt hat, meiner Faszination für dieses Kalkül nachgehen konnte. Damals war ich noch der Meinung, es könne relativ leicht fallen, gut befreundete Kollegen für die Arbeit mit dem Kalkül zu begeistern. Das habe ich überschätzt. Vielleicht besteht das "Herkuleische" der Gesetze der Form, von dem Heinz von Foerster spricht, im Durchbruch zu der Möglichkeit, an einer Operation aufzeigen zu können, wie sie etwas produziert (eine Markierung) und wie sie auf die Kontingenz dieser Markierung (ihre Form) beobachtet werden kann zugleich. Man braucht nur den Beobachter zu beobachten.

Wieso sind die Gesetze der Form dann niemals zum mainstream wissenschaftlicher Forschung geworden?

Dirk Baecker: Das ist eigentlich keine Frage, die mich interessiert. Wären sie zum mainstream geworden, müßte ich mich ja nach etwas anderem umsehen. Wissenschaft beruht auf der Möglichkeit, den Beobachter draußen zu halten. Das wird ihr von der Gesellschaft abverlangt, die genau diese Leistung, die Produktion einer Mythologie der Objektivität und der abwesenden Beobachter, von der Wissenschaft nachfragt. Und dafür finden sich in der Wissenschaft institutionell blendend abgesicherte Fürsprecher.

Gut, aber ist das wirklich nur "Mythologie"? Ist die Einhaltung gewisser Kriterien, sog. Minimalstandards von Wissenschaft (Konsistenz, Nachprüfbarkeit, Widerspruchsfreiheit, wahr/falsch etc.), auf die sich Wissenschaften konsensuell oder als gemeinsames Ideal verpflichten, nicht auch eine notwendige Einrichtung, die sich Wissenschaft gibt, um ihre Sprachspiele vor dem Fall in Relativismus oder das Abgleiten in Beliebigkeit abzusichern? Die Etablierten nur als Ideologen und Steigbügelhalter der Macht abzustempeln – etwas was mich an meine eigene Geschichte und Ausbildung in den 70er Jahren erinnert – provoziert doch nur Abwehrhaltungen.

Dirk Baecker: Ich sehe nicht so recht, worauf du mit dieser Frage hinaus willst. Es ist eine Sache, eine Ideologie oder Mythologie zu beschreiben, die die Gesellschaft der Wissenschaft abverlangt, um sich selbst ob der riskant ungewöhnlichen Beobachtungsweise, die in den Wissenschaften gepflegt wird, zu beruhigen. Man kommt nicht darum herum, Wissenschaftspolitiker innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zu beobachten, die den lieben ganzen Tag damit beschäftigt zu sein scheinen, der lachenden Magd, die Hans Blumenberg beschrieben hat (Das Lachen der Thrakerin, 1987), zu bestätigen, daß sie zu recht über den Sternengucker lacht, der in den Brunnen gefallen zu sein scheint. Und es ist eine ganz andere Sache, sich zu fragen, was der Sternengucker da unten treibt. Dann nämlich fällt auf, daß die Gesellschaft so avers wie eh und je ist, wenn es darum geht, Fragestellungen zu erproben, die dem common sense widersprechen, und Beobachtungshaltungen einzunehmen, die andere nur für Anzeichen der Verwirrung halten können.

Es hat keinen Sinn, sich über die Aversionen der Gesellschaft zu beklagen. Tatsächlich muß man sie sorgfältig beobachten, weil die Gesellschaft in diesen Aversionen etwas über sich selbst sagt. Aber man muß sich darüber im Klaren sein, daß mit gesellschaftlichen Ermutigungen und Widerständen zu rechnen ist, wenn man Wissenschaft treiben will. Das gilt vor allem dann, wenn man nicht mit Blick auf die Erweiterung unseres technologischen Potentials, sondern mit Blick auf die Pflege unserer Reflexionsmöglichkeiten forscht. Denn mit jeder neuen Reflexionsschleife wird neue Komplexität zugänglich, ohne daß man sofort wüßte, wie man mit ihr umgehen kann.

Wer wie ich Spencer-Brown nach Luhmann gelesen hat, dem entblättert sich Luhmanns Theoriegebäude zunehmend als soziologische Ausformulierung Spencer-Brownscher Denkanweisungen.

Dirk Baecker: Das kann man so sehen. Tatsächlich hat Luhmann wohl schon sehr früh den Kalkül einmal in den Händen gehabt, hat aber erst, nachdem die Besprechung Heinz von Foersters im Whole Earth Catalogue bekannt wurde und Francisco Varela begonnen hatte, in Frankreich einiges Interesse für Spencer-Brown zu finden, angefangen, die Reichweite des Kalküls zu begreifen. Das war der Zeitpunkt Mitte der achtziger Jahre, als die autopoietische Wende der Systemtheorie einerseits die Frage nach dem einen Operationstyp, der ein System produzieren und reproduzieren kann, und andererseits die Frage nach dem Schicksal und der Rolle des Milieus, in dem sich diese autopoietischen Operationen realisieren, virulent werden ließ. Heute würde ich sagen, daß Luhmann den Kalkül nicht "ausformuliert", sondern daß er einer seiner fruchtbarsten Leser ist und daß er ihn damit erst lesbar macht. Seine Soziologie interessierte sich für die "imaginary states" des Gedächtnisses und der Erwartung, lange bevor Spencer-Brown dem Verständnis dieser states mit seiner Formulierung des "re-entry" einer Unterscheidung in den Bereich des von ihr Unterschiedenen auf die Sprünge half.

Grenzen der universellen Rechenmaschine

Spencer-Brown ist nicht nur Mathematiker und Logiker. Eine Zeitlang hat er auch als Ingenieur gearbeitet, sich mit Computertechnik beschäftigt und (was vielleicht weniger bekannt ist) für das britische Militär und andere Organisationen elektrische Sicherheitssysteme und Schaltkreise für Transistoren konstruiert, die in neuen Computern Verwendung finden sollten. Erstaunlicherweise sind weder er noch seine Ideen, so weit ich sehe, in der Computerwissenschaft aufgenommen oder dort rezipiert worden.

Dirk Baecker: Das ist eine Frage, die du den Experten der Computerwissenschaft stellen mußt. Ich vermute, daß die Programme unserer Computer weit davon entfernt sind, auf der Ebene der Beobachtung von Formen zu arbeiten. Sollte das einmal der Fall sein, wird man auf Spencer-Browns Kalkül zurückgreifen. Einstweilen markiert die Mathematik Spencer-Browns jedoch eine deutliche Grenze, die die Computer und ihre Wissenschaftler nicht überschreiten können. Vielleicht ist das die gute Nachricht.

Ich denke, da berühren wir einen sehr wichtigen Punkt. Könntest du denn diese Mensch-Maschine-Grenze, die das Kalkül setzt, deutlicher beschreiben, so daß unser Gespräch für die Menschen "da draußen" schließlich auch eine frohe Botschaft enthält?

Dirk Baecker: Der Kalkül Spencer-Browns operiert auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Man sieht Formen, das heißt Innenseite, Außenseite und Trennlinie einer Unterscheidung nur, wenn man die Unterscheidungen von Beobachtern beobachtet. Für die Beobachtung von Unterscheidungen kommt man nicht mit nur zwei logischen Werten (wahr, falsch) aus. Man muß einen dritten, einen "imaginären" Wert einführen, der die Unterscheidungsoperation bezeichnet und selbst keinen logischen Ort hat, sondern logische Orte überhaupt erst möglich macht.

Derrida hat mit seinen Figuren der "différance" oder der "chôra" ganz ähnliche Operationen beschrieben. Für die Menschen ist dies insofern eine "frohe Botschaft", als nur prinzipiell unendliche Unterscheidungsarrangements in der Lage sind, in diesem Sinn sowohl Orte zu schaffen, als auch in diesen Orten eindeutig zweiwertige Unterscheidungen vorkommen zu lassen. Man braucht die geschlossene (also unendliche) Rekursivität der eigenen Operationen in einer nur als Horizont vorkommenden Welt, um verstehen zu können, welche kognitiven Leistungen soziale und psychische Systeme erbringen. Es ist paradoxerweise dieser Typ von Geschlossenheit, der Computern bislang nicht zur Verfügung zu stehen scheint. Irgendwann produziert jedes Computerprogramm eine Ausgabe – und muß dann auf einen Benutzer, der zur Not auch ein anderer Computer sein kann (aber für den gilt dasselbe), warten, der diese Ausgabe in wie immer modifizierter Form wieder in eine Eingabe verwandelt und den Computer weiterarbeiten läßt.

Interessanterweise findet das Kalkül bei den Hardware-Wissenschaften wenig Anklang. Nur Christoph Tholen arbeitet unter Hinweis auf randständige Bemerkungen Jacques Lacans mit dreiwertigen Operationen. Aber den treibt auch ein kulturwissenschaftliches Interesse an und um.

Dirk Baecker: Das überrascht mich nicht. Sobald man sich auf Fragen der "Kultur" einläßt, kommt man um Probleme der Dreiwertigkeit nicht herum. Denn jede Kultur, das hat Luhmann gezeigt, impliziert einen Vergleich und damit eine Inanspruchnahme eines "dritten" Wertes, von dem aus das eine mit dem anderen verglichen werden kann. Luhmann geht sogar so weit, die moderne Kultur als Produkt dieser laufenden Inanspruchnahme dritter Werte zu betrachten.

Der Teufel steckt in den Maschinen

Welchen spezifischen Beitrag könnte denn das Formenkalkül für die Medienwissenschaft liefern?

Dirk Baecker: Die Medienwissenschaften, von denen du sprichst, bedienen den Verdacht, daß Medien wie die Sprache, die Schrift, der Buchdruck oder der Computer unsere Möglichkeiten stärker determinieren, als uns im Sinne der emanzipativen Impulse des europäischen Denkens lieb sein kann. In Anlehnung an Vilém Flusser (Dinge und Undinge) könnte man sagen, daß die Medien in dieser Perspektive das paradoxe Kunststück fertigbringen, uns als Stützpunkt zu benutzen, um an uns den Hebel anzusetzen, der uns aus den Angeln hebt. Ich teile diese Befürchtung nicht.

Ich würde den Formenkalkül einsetzen, um zu fragen, was diese Medienwissenschaften mithilfe des Medienbegriffs bezeichnen. Wenn man die zentrale Figur des Verdachts der Determinierung von Kommunikationen durch Medien aufgreift, dann werden Medien in dem Moment beobachtbar, in dem der Beobachter von den Kommunikationen (Innenseite der Unterscheidung) zurückrechnet auf die Außenseite der Unterscheidung (der Raum der kommunikativen Möglichkeiten) und die Operation der Unterscheidung selbst (die Sprache spricht sich, die Schrift schreibt sich, der Buchdruck druckt sich, der Computer berechnet sich, usw.). Die empirische Brisanz und gleichzeitige theoretische Schwäche der Medienwissenschaften resultiert in dieser Perspektive daraus, daß sie zwischen diesen beiden Möglichkeiten systematisch keine Unterscheidung, geschweige denn Entscheidung trifft. Sie hält sich alle Möglichkeiten offen und sichert sich dadurch zahlreiche Anschlüsse, aber es gelingt ihr nicht, ihren Verdacht in die Form (!) einer Hypothese zu bringen, die eventuell auch widerlegt werden könnte. Um noch einmal das Formenkalkül anzuwenden, könnte man vermuten, daß die Medienwissenschaften ihren Zentralbegriff der Determinierung nicht unterscheiden, sondern nur postulieren.

Heißt das, daß Du gegenüber den Medienwissenschaften einen generellen Ontologieverdacht hegst, wohingegen die Überlegenheit der Sozialwissenschaften dann im Reflexionspotential, d. h. im permanenten und ungebundenen Wechsel der Beobachterperspektiven bestünde?

Dirk Baecker: Das geht vielleicht zu weit. Aber ich werde den Verdacht nicht los, daß die Medienwissenschaften ihre Beobachtungen und Beschreibungen mit dem generellen Verdacht starten, daß da irgendwo in den Maschinen ein unheiliger Geist steckt, dem es gelingt, uns zu manipulieren, ohne daß wir eine reelle Chance hätten, ihm auf die Spur zu kommen. Insofern zählen die Medienwissenschaften zur Postmoderne, die Luhmann durch ein spezifisches Interesse an "unsichtbaren Maschinen" gekennzeichnet sieht.

Die dunklen Seiten des Mediums

Am Anfang wie am Ende der Gesetze der Form steht ein Mysterium, um dessen Lösung es Spencer-Brown letztendlich geht, nämlich die Feststellung, die dereinst den Philosophen Wittgenstein schon verblüfft hat, daß die Welt offenbar danach verlangt, sich selbst zu sehen.

Dirk Baecker: Ja, aber dieses Interesse geht mit dem anderen Interesse Hand in Hand, dabei nicht sehen zu müssen, was danach verlangt, sich zu sehen. Es ist wie bei jeder Unterscheidung: Sie macht anderes unsichtbar und sie ist selbst der blinde Fleck ihrer Unterscheidung. Das Mysterium beharrt daher wie schon bei Schlegel auf einem "Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß".

So wie im Buddhismus? Auch der hat ja die Welt, und alles was damit verbunden ist, abgestoßen?

Dirk Baecker: Ich denke, das wäre ein Mißverständnis. Mithilfe des Formkalküls kann man zeigen, daß der Buddhismus eine der großartigsten Techniken einer Hochkultur ist, die Reflexion auf die Außenseite der Form zur Entdeckung der unausweichlichen Immanenz der Form in der Form zu nutzen. Eine weltzugewandtere Form der Meditation kann ich mir kaum vorstellen – wobei "Welt" hier natürlich als paradoxer Begriff zu verstehen ist, der Beobachtungen anregt, die auf Unbeobachtbarkeiten stoßen.

Der Clou der Laws of Form ist für mich, daß offenbar alles mit einem Befehl beginnt, der Instruktion, eine Unterscheidung zu treffen. Immer wieder habe ich mich gefragt, wer Spencer-Brown diesen (ersten) Befehl, woraus dann das ganze "Set von Anweisungen" (wie von selbst) folgt, das der Beobachter anschließend ausführt, eingeflüstert hat?

Dirk Baecker: In den Jahren, in denen George Spencer-Brown an seinem Kalkül arbeitete, hatte er einen Bruder James, den er sich als Partner erfunden hatte und den er später sterben ließ. Vielleicht war er es, der ihm den Befehl eingeflüstert hat? Und der dann auch das erste Produkt dieses Befehls war?

Ja, ja! Ich weiß, der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Die bekannte Figur der Selbstreferenz. Dennoch, meine Frage hatte natürlich einen ernsteren Hintergedanken. Wir kennen die alt- und neutestamentarischen Schriften, vom brennenden Dornbusch oder von Abraham, der auf Geheiß von oben seinen Sohn opfert, über Moses, der auf dem Berg Sinai den Dekalog empfängt, bis hin zu Jesus Christus, der sich von Gottvater verlassen glaubt. Immer stand am Anfang jeder Religionsstiftung und Gesetzgebung ein Medium, ein Medium, das den Befehl dazu gab.

Dirk Baecker: Vielleicht berührst du hier den Punkt, der uns so furchtsam gegenüber der Entwicklung von Computern sein läßt: Wir können uns selbst traditionell nicht anders denken denn als Wesen, die in ihren Operationen immer wieder anhalten und dann auf weiterhelfende Eingaben von oben oder von außen warten.

Mit Angst oder Furcht hat das meines Erachtens wenig zu tun, eher mit dem Interesse, wie sich "Gesetzeskraft", der "mystische Grund" von Autorität, entwickelt und machtpolitisch perpetuiert und durchsetzt. Was den Menschen letztlich angeht, so fällt mir dazu nur jener berühmter Philosoph des 19. Jahrhunderts ein, der gesagt hat: Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß.

Dirk Baecker: Das ist eine Maxime, die mir nicht einleuchtet und auf deren polemischen Sinn ich mich nicht einlassen möchte. Ich setze die Bemerkung eines berühmten Kybernetikers dieses Jahrhunderts, Ross Ashby, dagegen, der einmal gesagt hat, solange der Mensch auf die Frage, wo sich die Sterne befänden, immer nur nach oben zeigt, sei er noch ganz und gar Gattungswesen.

Vom Augenaufschlag der Dinge

Muß nicht, bevor der Beobachter beobachten kann, erst ein "es gibt" sein, das er dann beobachten kann? Selbst der härteste Objektivist wartet doch, wie Dietmar Kamper das formuliert, auf den "Augenschlag der Dinge". Ist der Rückblick vom anderen nicht konstitutiv für den Blick, der geworfen wird?

Dirk Baecker: Verblüffend ist für mich die Idee, daß sowohl das "es gibt" wie auch das "ich bin", also die beiden "existentiellen Operatoren", von denen Heinz von Foerster spricht, ein Produkt der Entdeckung des Beobachters im Beobachten ist. Wenn wir die Augen aufschlagen, ergibt sich erst einmal alles wie von selbst. Erst in dem Moment, in dem andere uns dabei beobachten, was wir tun, und wir ihre Korrekturen nicht mehr für selbstverständliche Bereicherungen unserer Welt halten, sondern für Ärgernisse, die an unwillkommenen Stellen intervenieren, beginnen wir zwischen "es" und "ich" zu unterscheiden. Denn wir brauchen die Kombinatorik, die sich aus dieser Unterscheidung ergibt, also die Variationsmöglichkeiten des "es" und des "ich", um uns auf den Streit mit den anderen einlassen zu können. Die "Objektivität" des "es gibt" ist die List, mit deren Hilfe sich ein Lebewesen seiner Haut zu helfen weiß, das von anderen gezwungen wird, "ich" zu sagen. Daß der Beobachter beobachten kann, ist der "selbstreferentielle Operator" (von Foerster), ohne den es in der Tat nichts gäbe.

Ist diese "Autonomisierung" des Beobachters, das "Apriori des Innen", mit dem gleichzeitig die Abtrennung von ältesten Repräsentationskörpern wie zum Beispiel Kosmos, Welt, Gott oder König vollzogen wird, nicht eine alteuropäische Denkfigur wie wir sie seit der Romantik kennen? Also doch "nichts Neues unter der Sonne"? Und wird mit diesem Rückzug auf reine Geistigkeit (Kognition) nicht auch die Außenseite, die res extensa, desavouiert?

Dirk Baecker: Du spielst auf eine umfangreiche Diskussion an. Natürlich gibt es Leute, die Theorien unter dem Gesichtspunkt zur Kenntnis nehmen, was sie an ihnen wiedererkennen. Ich habe nie verstanden, worin die Fruchtbarkeit der Unterscheidung kenne ich/kenne ich nicht besteht. Aber ich sehe, daß sie ein schnelles und robustes Immunsystem aufzubauen erlaubt, das mir das Denken, das sich mithilfe dieses Immunsystems zu schützen versucht, langfristig allerdings eher zu schwächen scheint. Die Befürchtung, daß eine kognitionswissenschaftliche Perspektive die Frage nach den Materialitäten dieser Welt abschneidet, teile ich eigentlich nicht. Ich sehe allerdings, daß es schwieriger wird, diese Frage zu stellen. Und ich finde es spannend, wenn Sepp Gumbrecht vorschlägt, die Frage nach der Materie auf dem Umweg über die Frage nach Ereignissen, die nicht ins bereits ausgemachte Erwartungskalkül passen (vor allem: divinatorische, eucharistische Ereignisse), wieder zur Geltung zu bringen. Denn dies ist ja die Frage, die uns unter "ökologischen" Gesichtspunkten vor allem beschäftigt: Wie korrigieren wir unsere kognitive Blindheit gegenüber den materiellen Effekten, die wir in der Welt anrichten? Die Kritiker des Formkalküls übersehen, daß der Kalkül und die "konstruktivistische" Denke, die ihn begleitet, die Ansprüche an die Struktur steigert, die man braucht, um diese Frage mit Aussicht auf neue (!) Antworten zu behandeln.

Der späte Heidegger hat diesen "Augenaufschlag" in der Technik verortet. Ihm zufolge schließt Technik die in der Natur und (ich ergänze) in der Gesellschaft verborgenen Energien auf. "Erschließen, umformen, verteilen, umschalten" sind für ihn "Weisen des Entbergens". Im Konstruktivismus ist diese Materialität der Technik weitgehend wegkommuniziert und in die Auto-Logik des Beobachters zurückgenommen.

Dirk Baecker: Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sieht der Beobachter, daß Beobachter nicht sehen, was sie nicht sehen. Zu dem, was sie nicht sehen, zählen sie selbst, zählt ihre eigene Materialität des Beobachtens. Für mich ist das ein guter Ausgangspunkt, der mich auch soziologisch überzeugt.

Was ist daran "soziologisch" so überzeugend? Könntest du das etwas genauer erläutern, da ich glaube, daß du hier etwas ausweichst?

Dirk Baecker: Ein Kölner Philosoph, Lothar Eley, nennt den Namen Heidegger immer nur in einem Atemzug mit dem Wort "Schwarzwald". Das ist ganz und gar nicht despektierlich gemeint. Sondern es weist darauf hin, daß wir es nur unzureichend gewohnt sind, unser Denken im Kontext seiner lokalen, physischen wie psychischen Situierung zu beobachten. Auch da steht uns die öko-logische Wende hin zu einer Epistemologie im Sinne Gregory Batesons ja eigentlich erst noch bevor.

Chips, Prozessoren und Engelsboten

Inzwischen weist auch die Wissenschaftsgeschichte den graphischen, ikonischen oder digitalisierenden Einschreibesystemen eine Schlüsselfunktion bei der Erhebung von Daten zu. In ihnen, allesamt Experimentalanordnungen realisiert sich oder kehrt, so könnte man sagen, die Repräsentationsfigur wieder. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour beispielsweise betont die Bedeutung und Mitwirkung dieser "Engelsboten" (Chips, Prozessoren, Module) sowohl beim Forschungsvorgang als auch beim Forschungsertrag.

Dirk Baecker: In der Figur des Engels kommt die Differenz einer verständlichen Botschaft und eines nicht zurechenbaren (im unmarked state verorteten) Boten zur Einheit. Es ist bestimmt kein Zufall, daß der Engel bei Latour, Serres und anderen wieder größtes Interesse findet. Die Figur des Engels erlaubt es, darauf hat Heidegger in der Interpretation eines Gedichtes von Rilke einmal hingewiesen, Schutz und Schutzlosigkeit zusammenzudenken. Funktional gesehen tritt der Engel an die Stelle des zusammengebrochenen Glaubens an die Vernunft. Nach wie vor sind wir nicht geneigt, uns vorzustellen, daß wir nichts anderes als unsere Bordmittel haben, um unsere Probleme zu lösen. Tatsächlich ist jedoch genau das der Fall.

Bei Latour spielen diese "Engelsboten" aber eine wesentlich aktivere Rolle als in der systemischen Soziologie. Ihnen wird nicht nur eine operative Kraft bescheinigt, sie werden auch ausdrücklich in ein Kontinuum von Natur und Gesellschaft, ein Netzwerk oder Dispositiv aus Artefakten, Handlungen und Zeichensystemen eingebettet, während die Systemtheorie all diese Materialitäten des Sozialen weitgehend wegkommuniziert.

Dirk Baecker: Ich finde es herrlich, daß du auf Engel verweist, um Materialitäten einzufordern.

Natürlich! Aber Engel stehen hier nur als Metapher. Reine (materielose) Engel kennen wir doch gar nicht. Ich zumindest kenne nur gefallene, verstoßene. Wegen ihrer Sündhaftigkeit, dem Aufbegehren gegen die Macht, sind sie mit dem Makel, der Vergänglichkeit des Fleisches zeckiert.

Third order cybernetics

Der Konstruktivismus ist hauptsächlich eine Wahrnehmungstheorie. Das heißt die Wahrnehmung der Welt verlangt nach Menschen, die wahrnehmen. In zunehmendem Maße wird dieser Beobachter durch intelligente Seh- und Suchmaschinen ersetzt. Maschinen beobachten, überwachen und kontrollieren Maschinen, die wiederum andere Maschinen und Menschen beobachten, überwachen und kontrollieren, weil der menschliche Beobachter dafür zu langsam, zu fehlerhaft konstruiert und zu risikobehaftet ist.

Dirk Baecker: Wer an Maschinen glaubt, braucht sich dann nicht mehr zu wundern. Sie funktionieren nur dort, wo ihnen der Mensch mit Selbsttrivialisierungen entgegenkommt. Sie können nur berechnen, was sich berechenbar macht. Mich überzeugt nur ein Intelligenzbegriff, der in der Lage ist, Operationen des Rückschlusses aus eigenem Nichtwissen auf das Wissen von anderen zu beschreiben. Hier hat man es mit Rechenoperationen zu tun, die wiederum, wie schon einmal geschildert, auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ansetzen.

Mir ist klar, daß vernetzte parallel arbeitende Maschinen im Prinzip in der Lage sind, in diesem Sinne Intelligenz, nämlich Verteilte Künstliche Intelligenz, wie man in der Informatik sagt, zu verkörpern. Aber auch diese Maschinen sind auf ein Interface angewiesen, das Menschen nicht als Teil der Maschine, sondern als ihr Außen vorkommen läßt. Wenn man daher wissen will, wie und warum sich Menschen in ihrem Verhalten von Maschinen konditionieren lassen, muß man sich anschauen, wie dieses Interface auf der Seite der Menschen mit hinreichender Trivialität ausgestattet wird. Und das ist eine Frage der Kommunikation, keine Frage der Maschine.

An die Stelle von Selbstbeobachtung, Selbstreflektion und Selbstbeschreibung tritt aber eine (maschinelle) Kommandoordnung, die auf der Ebene des Betriebssystems agiert, aber vom Beobachter nicht mehr einsehbar ist. Ist hier die Kybernetik der zweiten Ordnung, die Beobachtung anderer Beobachter, bereits in eine Kybernetik der dritten Ordnung, der Kybernetik der Kybernetik der Kybernetik übergegangen?

Dirk Baecker: Es genügt vollauf, auf der Ebene der Kybernetik der Kybernetik zu bleiben, denn bereits hier ist dank der Beobachtung entsprechender Beobachter mitzuverfolgen, wie in der "Postmoderne" das Interesse an "unsichtbaren Maschinen" (N. Luhmann) wächst. Und diesseits der Kybernetik zweiter Ordnung genügt der Rückgriff auf eine Kybernetik erster Ordnung (etwa Ashbys), um Optionen des Umgangs mit unsichtbaren Maschinen, nämlich black boxes, zu beschreiben. Ranulph Glanville schreibt bis heute wunderbare Texte, in denen er das "whitening of the black box" aus den Interaktionen zwischen black boxes beschreibt. Eine der Pointen dabei ist, daß wir uns selbst unverständlich werden im romantischen Sinne oder eben zur black box werden im kybernetischen Sinne, wenn wir uns dabei beobachten, wie wir in Aufklärungsoperationen einer black box erfolgreich werden.

Ein endloses Spiel von Unterscheidungen

Mit der Entscheidung, den Formbegriff aus seiner traditionellen Verbindung mit Materie, Substanz oder Inhalt zu lösen, entsteht ein "endloses Spiel von Unterscheidungen". Was gewinnt oder verliert man mit einem solchen Spiel materieloser Differenzen?

Dirk Baecker: Der Formbegriff verliert den früheren Rückhalt an Gegenbegriffen wie Materie oder Inhalt. Das bedeutet, daß der Zugriff auf Materie oder Inhalte nicht mehr so selbstverständlich genommen werden kann wie in der Tradition. Dieser Zugriff verliert seinen Status als "Außenhalt" unserer Kommunikation und wird stattdessen zu einem rekursiven Moment der Kommunikation selbst. Deswegen unterscheidet man zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die entscheidende Entdeckung ist, daß über Fremdreferenzen selbstreferentiell entschieden wird. Dies sichtbar zu machen, ist eine der Hauptleistungen des konstruktivistischen Denkens. Denn nur so kann der Zugriff optionalisiert, das heißt mit anderen Möglichkeiten verglichen werden.

An klassischen Theorien orientierte Denker haben aber immer wieder darauf hingewiesen, daß Materie eine unvermeidbare Ergänzung von Form ist. Erst wenn sie in Materie eingeschrieben wird, können Veränderungen auch als Formen wahrgenommen werden. Auto-Immunreaktionen wie beispielsweise Aids sind offensichtlich nicht ohne Rückgriff auf den Begriff der Verkörperung (Embodiment), also einem irgendwie vorausgesetzten Begriff von Materie oder Substanz denkbar - und noch weniger therapierbar.

Dirk Baecker: Der Konstruktivismus nutzt an dieser Stelle die Unterscheidung von Form und Medium. Das Medium wird als materielles Substrat gedacht, das allerdings, da bleibt der Konstruktivismus sich selber treu, nicht als solches, sondern nur an den Formen kenntlich wird, die sich in einem Medium einprägen. Dieser Medienbegriff ist denkbar allgemein angesetzt und eignet sich sowohl zur Beschreibung von Wahrnehmung (Wahrnehmung von Formen im Medium von Licht, Ton, Bewegung) als auch zur Beschreibung der Lösung bestimmter Kommunikationsprobleme (Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck, Computer, Erfolgsmedien wie Wahrheit, Geld, Macht, Liebe).

Vermutlich können der kybernetische Begriff des embodiment oder auch der soziologische Begriff des embedding an dieser Stelle der Beobachtung eines Rückgriffs auf Medien, die nur an den Formen, die in ihnen möglich sind, beobachtbar werden, eingesetzt werden. Für therapeutische Probleme, die du ansprichst, bedeutet das, daß man noch stärker als bislang auf die Form von Unterscheidungen achten muß, die Beobachter bei ihren Konstruktionen der Welt verwenden. Denn vielleicht resultieren die Pathologien, die wir psychisch und sozial beobachten können, aus Verweigerungen der Rückrechnung von Markierungen auf ausgeblendete Außenseiten und unsichtbar gemachte Unterscheidungsoperationen. Vielleicht ist es Teil möglicher Therapien, auf Medien aufmerksam zu machen, um auf diese Weise Einschränkungen unserer sozialen und psychischen Formen als wählbare Einschränkungen bewußt zu machen. Vielleicht gewinnt man nur so die nötigen Spielräume, um mit anderen Formen experimentieren zu können. Beobachter erster Ordnung neigen dazu, ihre Zweifel durch Forcierung der bereits gewählten Einschränkungen zu kompensieren. Beobachter zweiter Ordnung kennen neben der Forcierung auch den Wechsel von Unterscheidungen.

Kann sich Wissenschaft, letztlich die Gesellschaft, überhaupt soviel Konstruktivismus (Irritationspotential) leisten? Oder anders formuliert: Wie hilft uns der Konstruktivismus bei der Vermeidung bzw. Lösung von Überbevölkerung, Ökokatastrophen oder Hungersnöten?

Dirk Baecker: Die Gesellschaft muß sich soviel Konstruktivismus leisten, weil sie gar keine andere Möglichkeit hat, den eigenen Informationsblockaden auf die Spur zu kommen, die ihre Probleme unlösbar machen. Deleuze und Guattari sprechen in ihrem konstruktivistischen Entwurf der Tausend Plateaus davon, daß wir uns nicht als Signifikanten und auch nicht als Signifikate, sondern als Stratifikate (und Stratifikanten!) verstehen sollten. Das heißt, wir haben uns die Welt nicht zuhanden gemacht, indem wir gelernt haben, die Dinge der Welt zu beschreiben (zu bezeichnen). Sondern wir haben sie in Schichten unterteilt, von denen uns einige zugänglich sind und andere nicht. Unser Zeichenapparat exekutiert diese Schichten, aber er bezeichnet sie nicht. Darum ist gegenwärtig kaum etwas wichtiger, als nach den Formen unseres Wissens von und in der Welt fragen zu können.

Jenseits des Dualismus

Zumindest die Naturwissenschaften scheinen manche Ent-Ontologisierung der jüngsten Zeit, die Umstellung der Beziehung von Materie und Form auf eine Beziehung von Zeichen und Bezeichneten (Referenzlosigkeit), nicht mitvollziehen zu wollen. Die Sokal-Affäre in Amerika und jüngst in Frankreich hat das deutlich gezeigt.

Dirk Baecker: Ich bin in dieser Affäre parteiisch genug, um den eigentlichen Skandal nicht in der Tatsache zu sehen, daß die Zeitschrift Social Text auf die Fälschung hereingefallen ist – das finde ich schlimm genug, ist aber im Kontext der Entsorgungsfunktion, die wissenschaftliche Zeitschriften erfüllen, auch wiederum nicht so dramatisch einzuschätzen –, sondern darin, daß nicht einmal Naturwissenschaftler sich in der Lage sehen, das konstruktivistische Argument nachzuvollziehen. Schließlich wird die Konstruktion von "Natur" als das, was sie ist, nirgendwo deutlicher als in den Naturwissenschaften, ob man nun in die Quantenphysik schaut, in die Evolutionstheorie oder in die Neurophysiologie.

Werden dadurch nicht gerade all jene Bemühungen nach einem "Beyond Dualism", also Bestrebungen, die die Zwei-Kulturen-Grenze zwischen Natur- und Humanwissenschaften überwinden wollen, zunichte gemacht, weil sie jene ablehnende Front der Naturwissenschaftler stärkt, die die beginnende Annäherung brüsk zurückweisen.

Dirk Baecker: Ich bin nicht unbedingt ein Vertreter der Ansicht, daß sich verschiedene Wissenschaften unbedingt aneinander annähern müssen. Damit würde ja nur der Glaube an die Einheit der Wahrheit genährt. Ich halte es für wichtiger, daß der Pool verfügbarer Beobachtungsformen von Natur und Gesellschaft eher wächst als schrumpft. Und ich merke auch, daß ich mehr und lieber von Leuten lerne, die andere Unterscheidungen verwenden als ich selbst, als von Leuten, die im selben Paradigma zu Hause zu sein scheinen wie ich selbst.

Gut, aber legen nicht gerade die Technowissenschaften dieses "Close the gap" nahe, vor allem seitdem sich das darwinistische Programm als digitalisierbar erweist und/oder alle Welt vom "vernetzten Denken" spricht? Beispielsweise wird die Evolution als ein die Technik und die Kultur gleichermaßen durchdringender ko-evolutionärer Prozeß begriffen; Computerwissenschaftler und Bioinformatiker studieren verstärkt die Mechanismen und Prinzipien der Evolution, um sie im Computer nachzubauen und sie der Kontrolle des Menschen (out of control) entgleiten zu lassen; und Medienwissenschaften konzipieren die Parallelität von Geist und Medium und begreifen die Apparaturen als "diskursive Handgreiflichkeiten" usw.

Dirk Baecker: Ja, unbedingt. Ich denke auch, daß Möglichkeiten, etwa auf der Grundlage von Shannons Informationstheorie, von Neumanns Automatentheorie, von Foersters Nichttrivialmaschinen und Spencer-Browns Formkalkül eine allgemeine Maschinentheorie zu entwickeln, die es uns erlaubt, evolutionäre Reproduktionslogiken nahezu beliebiger Art zu entwickeln, die dann auf physikalische, organische, kommunikative und technische Phänomene angewendet werden können, sträflich unterentwickelt sind. Es wäre wünschenswert, in diesem Lande einen Ort zu haben, wo ein solches Grundlagenforschungsprogramm realisiert werden könnte.

Das Unbehagen an dem, was ist

Der soziologische Konstruktivismus ist dazu übergegangen, den Begriff der Materie durch den des Mediums zu ersetzen - du hast dies bereits erwähnt. Formen schreiben sich in Medien ein, bilden sich in ihnen ab. Während Systemtheoretiker dem Ontologie-Vorwurf ausweichen, indem sie die Intensität der Kopplung der Formen als ein rein relatives Unterscheidungskriterium bestimmen, führen Medienwissenschaften, die ein gesteigertes Interesse an Hardware haben, diese mit dem technischen Medium wieder ein. Für sie ist nur das wirklich, was schaltbar ist.

Dirk Baecker: In dieser Frage würde ich Luhmann folgen und Technik als "funktionierende Simplifikation" beschreiben. Was hier "funktioniert" und was hier "simplifiziert" wird, ist nicht zuletzt die Kommunikation, wenn man bei Techniken auch an die Mathematik, an Liebestechniken oder an Machtkalküle denkt. Und das eröffnet in der Tat die spannende Frage, ob die gesellschaftlichen Chancen, Kommunikationsstrukturen zu schaffen und zu regeln, so ungleich verteilt sind, daß die einen als ein Medium konstituieren können, worauf die anderen nur auf der Ebene von Formen zugreifen können. Ich halte diese Frage für empirisch offen.

Wenn ich mir Managementtechniken in Organisationen anschaue, sehe ich sowohl gelungene "Technisierung" als auch eine nicht vorweg entscheidbare, sondern immer wieder neu zu schaffende Bereitschaft aller anderen, sich auf diese Techniken auch einzulassen. Keine Technik funktioniert ohne eine zu ihr passende Kommunikation, für die man andere Gründe braucht als die von der Technik in Anspruch genommenen. Mich interessiert daher die medienwissenschaftliche Fragestellung als Frage danach, wie in einem technischen Feld Formen geschaffen werden können (zum Beispiel ein Computerprogramm, aber auch der Computer selbst), die von anderen als Medium benutzt werden können. Und ich würde wegen des offenen Verhältnisses von Technik und Kommunikation zunächst einmal davon ausgehen, daß in der Form des Mediums nicht vorwegentschieden werden kann, welche Formen sich in ein Medium einprägen können. Wer von den Romantikern hätte geahnt, daß ihre Übernahme bestimmter Errungenschaften der passionierten außerehelichen Liebe unter Adligen alsbald zum Basiscode der bürgerlichen Ehe werden könnte? Und wer hätte gedacht, daß ein geländetaugliches Auto wie der Jeep im Straßenverkehr und von Frauen zur Markierung wehrhafter Abenteuerlust eingesetzt werden kann?

Konstruktivismus speist sich aus einem Affekt gegen Ontologie. Was ist eigentlich an Ontologisierungen so verdammenswert, warum erscheinen sie ihm als Sündenfall?

Dirk Baecker: Wer ontologisch argumentiert, bedient damit den Glauben an die Unterscheidung von Denken und Sein und an die Zweiwertigkeit der Logik, die diese Unterscheidung begleitet. Wer über das Sein nachdenkt, kann damit nur entweder richtig oder falsch liegen. Der eine Wert dient zur Bezeichnung des Seins, der andere zur Bezeichnung eines Denkens, das sich irren kann. Gotthard Günther hat sein Lebenswerk der Überlegung gewidmet, daß damit erstens das Problem der Subjektivität – ich selbst kann so, aber auch anders über ein Seiendes nachdenken – und zweitens das Problem der Kontextualität – wem nur zwei Werte zur Verfügung stehen, der hat keine Chance, eine Frage abzulehnen – unter den Teppich gekehrt werden.

Ontologisch zu denken, heißt somit erstens, die Wahl eines eigenen Standpunkts nicht thematisieren zu können. Und es heißt zweitens, sich den Blick auf das Raffinement der Kommunikation zu verstellen. Damit geht also alles verloren, was wir brauchen, um die Formenwahl unserer Gesellschaft beobachten zu können. Man braucht aus der "Ontologie" deswegen keinen Buhmann zu machen. Aber wenn es hilft, das eigene Denken unter dem Gesichtspunkt einer Kritik an ontologischen Prämissen zu schärfen, dann spricht meines Erachtens nichts dagegen, dies auch zu tun. Oder ist die Ontologie ein besonders schützenswerter Bestand der alteuropäischen Tradition? Und wenn ja, warum?

Überhaupt nicht. Soviel Exotismus muß nicht sein. Ich bin nur, auch aus den Erfahrungen im Umgang mit anderen Theorien in den 70er und 80er Jahren, generell skeptisch gegenüber allem, was uns Freiheiten im Sinne von "mehr Möglichkeiten" verspricht. Dem "und, und, und" (Deleuze/Guattari) gegenüber habe ich, auch wenn mir das Anarchische durchaus sympathisch ist, gelinde Zweifel. Bei genauerer Beobachtung erweist sich so manches "so oder so" als ein "so und nicht anders". Um dir ein besonders heikles Beispiel zuzuspielen: Hierzulande ist es eben nicht möglich, "so oder so" über Nazi-Terror oder den Holocaust zu sprechen. Was ich damit sagen will: Es gibt meines Erachtens historische, psychische und andere Determinierungen, die keine "perfect continence" im Sinne Spencer-Browns erlauben oder zulassen.

Dirk Baecker: Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Aber offen gestanden würde ich auch hier keine moralischen Imperative akzeptieren, weil sie mir zu sehr auf Denkverbote hinauslaufen. "Perfect continence" heißt hier ja nur, daß wir nicht darum herum kommen, Externalisierungsoperationen nach wie vor als Operationen begreifen zu müssen, die wir vornehmen, die also interne Operationen sind. Was wir uns vom Leibe halten, beherrscht diesen nur um so wirksamer.

Andererseits hege ich den Verdacht, daß die Systemtheorie ein bloßes Abtasten von Screens erlaubt, deren Outputs dann gesellschaftlich nach bestimmten Regeln (Überraschendes, Neuheit, Spektakuläres etc.) exzessiv kommuniziert werden. Damit, d. h. mit den Erzeugnissen der "Gesellschaft des Spektakels", gibt sie sich dann aber zufrieden. Das, was sich jenseits der Benutzeroberflächen vollzieht, sich der Kommunizierbarkeit entzieht, interessiert sie nicht. Insofern ist Systemtheorie in meinen Augen durchaus kompatibel mit Theorien der Postmoderne.

Dirk Baecker: Na ja, das sehe ich genau anders. Ich habe Luhmanns Beschreibung des Interesses der Postmoderne an "unsichtbaren Maschinen" schon zitiert. Und das bezieht sich auf eine durchaus "ernsthafte" Postmoderne, die nicht mit den Beliebigkeitstopoi einer Spaßkultur zu tun hat. Es ist ja gerade der Witz an der Systemtheorie, daß sie hinter die "Benutzeroberflächen" schaut und – Kommunikation entdeckt.

Das würde ich wiederum anders sehen, weil Kommunikation damit meines Erachtens zu einer Art Letztinstanz wird, während ich hingegen glaube, daß Kommunikation, entgegen der alteuropäischen Tradition, nicht ohne Medium zu denken ist, das sie formt und formiert. Aber lassen wir die Differenz so stehen. Du selbst favorisierst einen onto-genetischen Zugang. Könntest du den Unterschied zwischen Onto-logik und Onto-Genetik deutlich machen, eingedenk der Tatsache, daß beide vom "Sein" sprechen und Wissenstheorie, als die sich der Konstruktivismus zu erkennen gibt, offensichtlich nicht ohne Bezug auf Ontologien aufzubauen ist

Dirk Baecker: Die Pointe der Ontogenetik liegt laut Heinz von Foerster darin, daß sie versucht, mit Beschreibungen zu arbeiten, die den Rekurs auf Substantive vermeiden und statt dessen mit Verben arbeiten. Leslie White hat in diesem Sinne kurz nach dem Krieg schon einmal eine "culturology" begründen wollen, die nicht von "science", sondern von "sciencing", nicht von "mind", sondern von "minding" (if you don't mind), und nicht von "symbols", sondern von "symboling" spricht, um auf die Operativität (sic!) von Aktivitäten aufmerksam zu machen. Oder um das Beispiel von Heinz von Foerster zu verwenden: Du verstehst einen Bauchnabel nicht, wenn Du draufschaust, sondern Du mußt versuchen, herauszufinden, wie er zustandekommt.

Die Präsenz der Macht im Raum

Medienwissenschaften bestimmen Macht über den "Zugang". Macht hat demzufolge derjenige, wer die Standards der Kommunikation setzt und/oder ihre Parameter verändern kann. Die Systemtheorie verflüssigt diese "Eigengesetzlichkeit" der Macht symbolisch und biegt sie in ein "Zuschreibungsproblem" um.

Dirk Baecker: Die Systemtheorie beobachtet, daß sich die Macht der Mächtigen aus der Vermutung der Ohnmächtigen nährt, daß die Mächtigen mächtig und die Ohnmächtigen ohnmächtig sind. Die Systemtheorie bezweifelt nicht, daß das blendend funktioniert. Aber sie macht auch hier auf eine Aktivität aufmerksam, die die Verhältnisse als das, als was sie gelten, erst einmal hervorbringen und dann immer wieder neu bestätigen muß. Wie überall ist die Systemtheorie auch hier nicht bereit, von der Beobachtung der Kontingenz der Verhältnisse abzusehen. Und wie gesagt, damit soll die Macht als Phänomen nicht bestritten werden, sondern als in Wahrscheinlichkeit umgesetzte Unwahrscheinlichkeit beschrieben werden. Wer an die Macht glaubt, der wird wissen, wie sehr ihm das hilft.

Hilft wobei?

Dirk Baecker: Der Glaube an die Macht ist eine Externalisierungshilfe, das heißt eine Ablenkung von den Möglichkeiten, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Andere Beobachter gehen davon aus, daß Macht etwas mit Räumen und/oder Körpern zu tun hat. Saskia Sassen beispielsweise spricht mit Blick auf die durch Telekommunikation hergestellte Globalisierung der Wirtschaft, die traditionelle Funktionen dem Nationalstaat (Souveränität, Territorium) abnimmt, von einer "Geographie der Macht", die sich in "Global Cities" ballt und via Glasfasertechnik und Superdatenhighways abgesichert wird.

Dirk Baecker: Mir würde gerade mit Blick auf Frau Sassens eindrucksvolle Beschreibungen die Formulierung einer "Geographie der Mikrophysik der Macht" im Sinne Foucaults eher einleuchten. Aber auch dann bleibt die Frage, ob Raumbegriffe hilfreich sind, diese "Ballungen" von Machtchancen zu beschreiben. Denn damit wird die interessantere Frage danach, wie sehr die Macht den Rückgriff auf andere Macht braucht, um sich als Macht zu behaupten, ja gerade nicht stimuliert, sondern mit Verweis auf eine imaginäre Einheit "Stadt" abgeblockt. Anders gesagt, was einleuchtet, muß darum noch nicht begriffen sein.

Ich stimme dir sofort zu. Der Raumbegriff allein reicht dazu sicher nicht aus. Nur beobachte ich, daß der geographisch-geopolitische Aspekt, auf den sowohl Michel Foucault als auch Carl Schmitt und Harold Adams Innis aufmerksam machen, in den theoretischen Diskussionen, die wir gemeinhin pflegen (Konstruktivismus, Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus usw.), übersehen wird, aus welchen Gründen auch immer. Ständig spricht man nur über Ästhetisierung, Immaterialisierung, Virtualität, Simulation etc, obwohl gerade der Virtualisierung und/oder Cyberspace ohne Ausdehnung und "Eroberung des Raums" und/oder "neue Raumordnung” (C. Schmitt) gar nicht zu denken ist. Und auch bei Spencer-Brown, um da noch einmal anzuschließen, verschwindet der Raum, nachdem erst einmal unterschieden worden ist.

Dirk Baecker: Richtig ist, daß sowohl der Raum als auch der Körper keine besondere Prominenz besitzen. Aber das beginnt sich zumindest in puncto Raum zu ändern, wenn Du Dir etwa einschlägige Stellen in Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft anschaust, die umfangreiche Diskussion über "Territorien" in Die Gesellschaft der Gesellschaft und einige Diskussionsbeiträge dazu in Heft 2/1997 unserer Zeitschrift Soziale Systeme. Der entscheidende Punkt dabei ist, die Rolle des Raumes als Externalisierungsreferenz – also als Adresse interner Operationen, die das System im System so zu behandeln erlauben, als gäbe es externe Bezugspunkte – zu behandeln. Die neurophysiologische Forschung befindet sich hier offensichtlich noch auf recht unbekanntem Terrain und könnte von den soziologischen Erfahrungen mit der Rolle von Territorien bei der Ordnung von politischen Systemen vielleicht einiges lernen. Aber ich kenne mich in diesem Feld nicht aus und möchte es daher bei diesen Bemerkungen bewenden lassen.

Bernhard Siegert beispielsweise nennt das die "Einräumung" der Macht durch Medien. Führte man diese Hypothese soziologisch aus, so besäße Macht derjenige, der in der Lage ist, Körper aus Räumen zu verdrängen bzw. Körpern den Zugang zu Räumen überhaupt zu versperren. "Intelligente" Überwachungstechniken an Außengrenzen, Bürogebäuden oder öffentlichen Straßen, Brücken und Plätzen zeugen bereits von diesen "Dienstleistungen" und/oder der "Präsenz von Macht".

Dirk Baecker: Ja, da ist etwas dran. Diese Praktiken speisen sich nicht nur aus wachsenden Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitsbefürchtungen, sondern auch aus den ältesten Tricks der Inszenierung von Geheimnissen durch Zugangsverbote. Luhmann hat in Die Gesellschaft der Gesellschaft gezeigt, daß man mit Geheimnissen dieser Art Kommunikationsverbote kommunizieren und derart Religion begründen kann. Unserer Gesellschaft ist die Transzendenz so sehr abhanden gekommen, daß wir sie zu greifen versuchen, wo wir sie zu fassen bekommen. An jeder halbwegs lesbaren Schwelle sind wir bereit, das Rätsel wieder neu zu enden. Dabei übersehen wir, daß die von dir genannten Orte nicht nur das Problem haben, bestimmte Leute draußen zu halten, sondern das noch viel gravierendere (nämlich den ökonomischen Erfolg oder die politische Funktionalität garantierende) Problem, bestimmte andere Leute in hinreichender Zahl und mit ausreichender Kaufkraft oder anschlußfähigem Einfluß überhaupt erst anzulocken.

Gewänne man dieser "Präsenz von Macht" etwas ab, kämen die "Schwerkräfte der Physik" und die "Erdwissenschaften" (Geophysik, Geopolitik, Geostrategie etc.) wieder stärker in den Vordergrund, zum Beispiel Verkehrssysteme, Bodenschätze, Meerengen, Geländeformen, Seewege, Kanalisationen etc., die die Systemtheorie bzw. der operative Konstruktivismus leider, und das meine ich wirklich so, nur aus wolkiger Höhe im Blindflug wahrnimmt.

Dirk Baecker: Ja, ich denke, daß wir in dieser Beziehung vor allem von den Franzosen sehr viel lernen können.

Zur Ontologie des Militärs

Macht gründet vor allem auf der Existenz des Militärs. Und daß öffentliche Kommunikationstechniken Effekte geheimer Kriegsforschung sind, gehört heute zum Allgemeinplatz des Denkens. Ernstzunehmende Stimmen, zumeist an Heidegger geschult und in den Medienwissenschaften beheimatet, konstruieren deshalb nicht nur einen genuinen Zusammenhang zwischen Medien und Krieg, sondern auch zwischen Militär und Ontologie.

Dirk Baecker: Man muß sich nur vorzustellen versuchen, welches Problem das Militär hätte, wenn es die Fiktion, der Feind ist "draußen", nicht aufrechterhalten könnte, sondern (zum Beispiel psychoanalytische) Stimmen ernst nehmen würde, daß der Feind "in uns" ist, um zu ahnen, wie sehr die Ontologie der Platzzuweisung für das Militär von Nutzen ist.

Da berührst du einen weiteren sehr wichtigen Punkt, der die Geschichte der Aufklärung von Anfang an begleitet. In der Weltgesellschaft gibt es mit Ende des Kalten Krieges diesen äußeren Feind offenbar nur noch, wie Hollywood suggeriert, als Außerirdischen. Außenpolitik ist, mit Carl Schmitt formuliert, zur "Weltinnenpolitik" geworden. Der Feind, das Alien, sitzt innen: er äußert sich durch Kriminalität, Drogensucht, Gewalt, Korruption, Waffenhandel usw. Die Militärs und die Politik haben sich aber offensichtlich auf diese Situation bereits bestens vorbereitet. Zumindest lese ich das aus den jüngsten Verlautbarungen der G 7 Politiker zur new world order.

Dirk Baecker: Ja, die Außengrenzen der Gesellschaft, "hinter" denen die "Feinde" lauern und die von "Fremden" nach innen überschritten werden, sind in Wirklichkeit Innengrenzen der Gesellschaft. Das heißt, sie erlauben es, Schichten zu markieren, deren Betreten unterschiedlich sanktioniert werden kann. Wenn du wissen willst, wer du bist, musst du dich nach den Orten umschauen, an denen du dich gefahrlos aufhalten kannst. Darum haben Deleuze und Guattari das wunderbare Wort geprägt, daß wir Menschen weniger Signifikate (oder gar Zeichen Gottes) als vielmehr "Stratifikate" sind: verdichtete Kontingenzebenen, deren Aufgabe darin besteht, Dinge auseinanderzuhalten, die im Interesse verschiedener Ordnungen auseinandergehalten werden müssen. Politik und Militär sind die Parasiten, die sich von der Furcht vor der Verletzung dieser Ordnung und damit von der Furcht vor dem Aufbrechen der reinen Kontingenz ernähren.

Im "Konstruktivismus" west der "Geist der Kybernetik". Kein Geheimnis ist, daß die Kybernetik Resultat des Zweiten Weltkrieges ist. Davon ist in der second order cybernetics nichts mehr zu spüren. Kybernetik - Informationsverarbeitung - Input-Output-Vorstellungen sind für die Beschreibung lebender, selbstorganisierender, autopoietischer Systeme unproduktiv, so lautet eine ihrer Maxime.

Dirk Baecker: Das Militär hat in großem Umfang Konferenzen und Forschungsprogramme finanziert, aus denen die Kybernetik hervorgegangen ist. Bis in die sechziger Jahre hat davon auch die Arbeit Heinz von Foersters und seines Biological Computer Laboratory an der University of Illinois profitiert. Aber man darf nicht übersehen, daß die Fragestellungen und Forschungsergebnisse dieses Laboratoriums signifikant abweichen von denen, die im gleichen Zeitraum etwa am RAND Institute gefördert wurden. Es ist auch kein Zufall, daß der Löwenanteil dieser Mittel in den siebziger Jahren in ein Unternehmen namens "Artificial Intelligence" gesteckt wurden. Philip Mirowski arbeitet gerade an einer aufschlußreichen Historiographie der "cyber sciences" dieser Jahrzehnte und dem Einfluß, den Finanzierungserwartungen auf die Variation der Fragestellungen genommen haben. Niemand verschließt die Augen vor dieser Geschichte. Aber wir wissen noch viel zu wenig über sie, um die Frage entscheiden zu können, wofür sie informativ ist.

Die Form der elektronifizierten Gesellschaft

Wissen ist Macht und Macht bringt Wissen hervor. Diese alteuropäische Weisheit haben wir seit und mit Foucault wieder zu rezitieren gelernt. Unbedacht blieb für viele, daß Wissen an Lokalitäten, an Räume gebunden ist, die heute schon nicht mehr in Bibliotheken, sondern in den unerreichbaren Tiefen des Cyberspace lagern.

Dirk Baecker: Diese unerreichbaren Tiefen sind so unerreichbar nicht. Immerhin braucht man keine Druckkammern mehr, um hinunter zu kommen, oder Raketenantriebe, um hinauf zu kommen, sondern Navigationskünste, die zu finden erlauben, wonach man sucht, und nicht nur das, wonach man nicht sucht. Offensichtlich haben wir es zum ersten Mal mit einem "Bibliothekssystem" zu tun, in dem die Benutzer auch gleich die Bibliothekare sind.

Man muß sich ja nur einmal vorzustellen versuchen, was in einer normalen Universitätsbibliothek los wäre, wenn dort jeder Leser die Bücher, die ihn interessieren, dort einstellen würde, wo sie seiner Meinung nach hingehören. Im Grunde genommen sind die search engines des Internet nichts anderes als eine gelungene Metapher dafür, daß wir uns auch "im Leben" nur vorübergehend auf vorübergehende Lagen einstellen können, wie Luhmanns Formel lautet.

Wie schätzt du denn die Entwicklung des Internets ein? Bringt es die erwartete Zunahme an Kommunikationsmöglichkeiten, mithin eine freiere, liberalere und demokratischere Gesellschaft? Oder werden wir es zunehmend und verstärkt mit Kontrollmechanismen, Überwachung und Protected Mode zu tun haben?

Dirk Baecker: Ich muß gestehen, daß ich bei Fragen dieses Typs nicht mehr den Gegenstand, sondern den Beobachter beobachte. Die einen sprechen über ihre Hoffnungen, die anderen über ihre Befürchtungen und werden damit an ihren Hoffnungen beziehungsweise Befürchtungen kenntlich. Offen gestanden bin ich mir darüber nicht klar, mit welchen Unterscheidungen ich das Internet beobachten würde. Bislang sehe ich deutliche Optionsgewinne an Erreichbarkeit und Recherchierbarkeit, kann mir aber auch vorstellen, daß es vielfach schwieriger wird, Dokumentation und Propaganda voneinander zu unterscheiden.

Gegenwärtig ist jedoch vor allem zu beobachten, daß das Internet aus den Kinderschuhen seiner Pionierkultur herauswächst und zum Gegenstand von Versuchen seiner Nutzer wird, es den gewohnten eigenen Kommunikationsstrukturen anzupassen. So sieht man Organisationen, die das Internet nach innen für den Austausch von Akten und nach außen für die Publikation von Broschüren nutzen und dann Mühe haben, das eine vom anderen zu trennen. Man sieht Interaktionen, chats, die mit der Ordnung von Beiträgen und Beiträgern experimentieren. Man sieht die großen Funktionssysteme, die nach Implementationsmöglichkeiten ihrer Mediencodes Ausschau halten. Und man ahnt, daß das Internet in Kürze anders aussehen wird als noch vor wenigen Jahren und daß die hergebrachten Kommunikationsmodi ihren Zugriff auf das Internet nicht ohne rückwirkende Veränderungen überstehen werden. All das spielt sich ohne notwendige Anpassungen des Körpers und Bewußtseins der beteiligten Menschen ab, so daß wir es mit einer unverhältnismäßig raschen Evolution zu tun bekommen werden.

Wenn, wie Luhmann sagt, die moderne (funktional differenzierte) Gesellschaft mit der Gutenberg-Galaxis entstanden ist, welche Gesellschaft haben wir dann mit der Turing-Galaxis zu erwarten?

Dirk Baecker: Soll ich dir das wirklich verraten?

Ich verstehe deine Bedenken. Aber versuch's doch einfach mal! Immerhin scheut sich sogar Luhmann nicht, eine antidemokratische Weltgesellschaft zu beschreiben, die ihre Austauschbeziehungen (Kommunikationen) auf den Code Inklusion/Exklusion gründet.

Dirk Baecker: Die Gutenberg-Galaxis wurde durch die Möglichkeit des einsamen, das heißt, wie Luhmann immer so schön sagt: interaktionsentlasteten, Lesens und die Möglichkeit der Bildung anspruchsvollerer Kommunikationssequenzen geschaffen. Ohne diese beiden Möglichkeiten wäre es nicht zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen gekommen. Für die Turing-Galaxis heißt das zunächst einmal, daß man nicht wissen kann, wie sie aussehen wird, weil zum Zeitpunkt des Entstehens der Gutenberg-Galaxis auch niemand gedacht hätte, welche Folgen der Buchdruck zeitigen wird. Heute sind wir nicht zuletzt deswegen ja noch stärker auf den Glauben an eine unprognostizierbare Evolution angewiesen (wenn wir überhaupt etwas erklären wollen) als je zuvor.

Die Turing-Galaxis ist die Galaxis der "unsichtbaren Maschinen", die von John von Neumann, Heinz von Foerster, Gilles Deleuze und Félix Guattari und Niklas Luhmann prominent beschrieben werden. Es ist eine Galaxis, in der unsere alteuropäischen Epistemologien und Ontologien unbrauchbar werden. Deswegen werden wir in den nächsten Jahren wahrscheinlich die Arbeit von Leuten wie Gregory Bateson oder Magoroh Maruyama an neuen Epistemologien erst richtig zu schätzen lernen. Wir ziehen uns auf intelligente Positionen zurück, die mit Nichtwissen, Paradoxien und Unentscheidbarkeiten zu rechnen verstehen. Wir verstehen uns selbst als "unsichtbare Maschine" und versuchen mühsam, den Interaktionen auf die Spur zu kommen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind und nicht mehr sein können. Wir versuchen, Alternativen zurückzugewinnen, die uns einen Beobachtungs- und Aktionsspielraum sichern. Wir versuchen, Selbstverständlichkeiten zu verlernen, um überhaupt wieder in die Möglichkeit zu kommen, Entscheidungen zu treffen, mit denen wir uns vor uns selbst verantworten können. Wir werden unglaublich bescheiden und versuchen uns so weit zu verlangsamen, daß die Dinge an ihren Verzögerungen wieder kenntlich werden können. Die Turing-Galaxis wird eine Galaxis sein, in der wir ein ganz neues Verständnis für Schnittstellen, für Formen und für Interaktionen entwickeln. Welche sozialen Formen damit einhergehen werden, wird man abwarten müssen.

Auch den (universellen) Intellektuellen, der im Namen universeller Werte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) das Wort für andere ergreift, hast du als Erzeugnis der Epoche der Gutenberg-Galaxis bezeichnet. Mit dem Ende dieser Epoche verschwindet auch dieser an Sprache und Schrift geschulte. An seine Stelle tritt der Hacker, der nicht mehr auf der Ebene von Sinn und Bedeutung agiert, sondern nur noch auf der der Codes und sich mit der Unterbrechung oder Umleitung derselben begnügt.

Dirk Baecker: Wir werden immer weniger Unterstützung für den Glauben finden, daß die Dinge so sind, wie sie sind. Denn einerseits wird immer weniger von der Hand zu weisen sein, daß die Dinge so sind, wie sie sind, so daß der Glaube keine Zusatzinformation liefert. Und andererseits werden wir uns mehr und mehr für die Konstruktionslogiken und Reproduktionsschemata interessieren, die die Dinge zu dem machen, was sie sind.

Ob du den auf die Logik der Selbstreferenz achtenden Konstruktivismus eines Niklas Luhmann oder den auf die Wirbel der Fremdreferenz achtenden Konstruktivismus von Gilles Deleuze und Félix Guattari betrachtest: immer steht die Frage nach unserem Beitrag zur Erzeugung der Welt, wie sie ist, im Mittelpunkt. Der Intellektuelle hatte sich noch damit begnügt, seine nichtsahnenden Mitmenschen darauf hinzuweisen, daß sie ihrer Sinne und Worte nicht mächtig sind, sondern sich selbst als ihnen selbst unbekannt voraussetzen müssen. Das ließ sich für Verunsicherungsaktionen nutzen, die dem Intellektuellen Chancen für das Plazieren eigener Selbstverständigungs-, also Fremdverstehensangebote boten. Den Hacker interessiert das nicht mehr. Er versucht, an die Codes heranzukommen, die die Reproduktion steuern, und über deren Störung die Selbstverständlichkeiten der Reproduktion vor Augen zu führen.

Das Halteproblem ist nicht (oder doch?) zu lösen

Während sich eine Annäherung von Medienwissenschaften und Systemtheorie anscheinend aus den oben erörterten Punkten als schwierig erweist, scheint diese mit der "Dekonstruktion" leichter zu bewerkstelligen. Wie bewertest du diese Theorierichtung, die unter diesem Titel bekannt geworden ist und die geisteswissenschaftlichen Genres erobert hat?

Dirk Baecker: Ich glaube, daß du mögliche Assimilationen zwischen Systemtheorie und deconstruction überschätzt. Die Unterschiede zwischen einem Interesse an Rekursion, also Systemreproduktion, und Iteration, also Kontextvariation, sind zu groß, selbst wenn man aus systemtheoretischer Perspektive sieht, daß die Iteration rekursiv vorgenommen wird und auf das Gelungendste bestimmte Beobachtungsweisen zu reproduzieren in der Lage ist. An den Texten Derridas gefällt mir, daß sie deutlich machen, daß jede Lektüre nicht den Text, sondern den Leser lesbar macht. Und das ist eine Einsicht, die ich dann auch auf mich selbst anwenden kann, wenn ich feststelle, daß ich zum Beispiel die "différance" als für sich selbst unbeobachtbare "Operation Unterscheidung" lese, das heißt genau dort einsetze, wo Spencer-Brown in seinem Kalkül den "dritten Wert" der Trennung zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung einsetzt. Ich bin dann verblüfft, wie sehr dies für mich die Texte lesbar macht, weil ich dann doch wieder glaube, nicht mich, sondern die Texte zu lesen.

Nach diesen unendlichen Rekursionen ist es schwierig, einen Halt zu finden. Deswegen einfach eine kurze und bündige Schlußfrage: Wie sähe für dich eine moderne Wissenschaftspraxis aus, die die Relativierungen des Konstruktivismus vermeidet, ohne in erkenntistheoretischen Fundamentalismus zurückzufallen?

Dirk Baecker: Für mich ist das Schöne an diesem Interview, daß es sich vielfach im Raum von Unentscheidbarkeiten bewegt hat. Und das bedeutet laut Turing, daß dieses Interview kein Algorithmus ist und damit sein halting problem nicht lösen kann. So ein Gespräch wird unter der Bedingung geführt, mit jedem Abschluß wieder einen neuen Anfang setzen zu können. Aber wenn ich auf deine Frage antworten will, so kann ich erstens nur sagen, daß der Konstruktivismus für mich nichts mit Relativierungen zu tun hat. Ich kenne kein strengeres Denken als diesen Konstruktivismus, wenn man in Rechnung stellt, daß er die Konstruktionen nicht ins Belieben eines Individuums stellt, sondern abhängig von vielfältig "unsichtbaren" Praktiken (im Sinne von Marx' Feuerbachthesen) sieht. Und zweitens möchte ich mir eine Wissenschaftspraxis vorstellen, der es gelingt, den Leuten die Angst davor zu nehmen, sich selbst als Forschende zu verstehen.