Ein Mythos soll in die Verfassung

Der Wirtschaftsminister der Nachkriegsjahre 1949 bis 1963, Ludwig Erhard, eng mit dem Mythos "Soziale Marktwirtschaft" verbunden, mit einem Buch, dessen Titel die Zeiten überdauerte. Foto (1957): Bundesarchiv, B 145 Bild-F004204-0003 / Adrian, Doris / CC-BY-SA 3.0

Während wieder verstärkt über Enteignung diskutiert wird, wollen Marktradikale der "sozialen Marktwirtschaft" Verfassungsrang geben

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"Die Sozialisierung marschiert"" - Diese Parole stammt nicht etwa von der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. Enteignen. Sie ist 100 Jahre alt und wurde damals von der Sozialdemokratie propagiert.

Damit sollte die damals starke revolutionäre Arbeiterbewegung beruhigt werden, die sich nach der Novemberrevolution von 1918 nicht damit zufriedengeben wollte, dass der Kaiser durch einen bürgerlichen Präsidenten ausgetauscht und aus der Monarchie eine bürgerliche Republik wurde.

Eine zentrale Forderung der Arbeiterbewegung war die Bildung von Räten und die Sozialisierung der Wirtschaft. Darauf hat in der Jungle World der Historiker Dietmar Lange hingewiesen. Dort beschreibt er das Szenario vor 100 Jahren so:

Seit Wochen schon wurde auf Versammlungen, in Resolutionen und Beschlüssen die Sozialisierung verlangt. Die Forderung verbreitete sich weit über die radikale Linke hinaus. In Berlin traten bis zu eine Millionen Beschäftigte in den Ausstand. Aufgeschreckt durch dieses Aufbäumen ließ die SPD-geführte Regierung auf großen Plakaten verkünden: "Die Sozialisierung marschiert!".

Historiker Dietmar Lange, Jungle World

Deshalb wurde vor 100 Jahren der Sozialisierungsartikel in die Weimarer Verfassung aufgenommen. Dass er dort ruhte, lag auch an der blutigen Niederschlagung der Arbeiterbewegung, die Räte und Sozialisierung forderte. Im März 1919 wurden ca. 1.200 Menschen im Osten Berlins während eines Generalstreiks ermordet.

Das größte Massaker in der Geschichte der Novemberrevolution hat Dietmar Lange durch sein Buch Massenstreik und Schießbefehl wieder dem Vergessen entrissen. Es ging bei den Verbrechen, für welche die von dem SPD-Funktionär Gustav Noske befehligten Freikorps verantwortlich waren, auch um die Verhinderung der Sozialisierung.

Sozialisierung als Fossil in der Verfassung?

Soweit würden die heutigen Gegner jeglicher Sozialisierung nicht gehen. Doch sie wollen Menschen, die sich auf die Protagonisten der Sozialisierung heute berufen, schon mal in die Nähe der Verfassungsfeindlichkeit rücken. Daher wird von Marktradikalen aller bürgerlichen Parteien, am Lautesten von AfD und FDP, die Streichung der Sozialisierungsartikel aus der Verfassung gefordert.

So zeigen diejenigen, die immer auf die Verfassung pochen, wie instrumentell ihr Verhältnis dazu ist. Wenn die Verfassung mal nicht im Sinne des Kapitals gebraucht wird, muss sie eben geändert werden. Dabei offenbarte der FDP-Politiker Marco Buschmann nur begrenzte historische Kenntnisse. Auf die Frage nach dem Grund, warum die FDP den Sozialisierungsartikel aus der Verfassung streichen will, erklärte er:

Art. 15 ist ein Verfassungsfossil, das aus einer Zeit stammt, als noch unklar war, wohin der Pfad der Wirtschaftsverfassung führen soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg liebäugelte die SPD mit dem demokratischen Sozialismus, die CDU dachte über die Verstaatlichung der Schwerindustrie nach. In diese Zeit passte Art. 15 als denkbare Option.

Marco Buschmann, FDP

Natürlich erwähnte er nicht, dass die Sozialisierung bereits vor 100 Jahren in der Weimarer Verfassung war. Für Buschmann sollen mit der Streichung "populistische und nutzlose Debatten" verhindert werden. Nun sind die Liberalen in der Theorie immer sehr gegen staatliche Gängelungen und wenden sich dagegen, dass beim Gesundheits- und Umweltschutz der Staat zu viele Vorgaben macht.

Nach Deutsche Wohnen auch Wombarts enteignen?

Doch wenn es um die Abwehr der Sozialisierung geht, gilt das natürlich nicht. Tatsächlich findet die Sozialisierungsforderung bei Menschen Anklang, die in Auseinandersetzungen mit konkreten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen stehen. Das sind neben Mietern, die die Erfahrung machen, dass Wohnungen leer stehen, weil daran mehr verdient werden kann, auch Lohnabhängige, wie die Beschäftigten des Wombats-Hostel in Berlin-Mitte.

Nachdem die Beschäftigten den ersten Betriebsrat im Hostelgewerbe in Deutschland gegründet hatten, sahen sie sich verschiedenen Methoden des Unionbusting gegenüber und nun wollen die Betreiber die rentable Filiale schließen. Daraus entstand die Forderung nach der Enteignung des Hostels, erklärt ein Beschäftigter.

Er hatte schon vorher die Erfahrung gemacht, dass das Hostel am besten läuft, wenn niemand vom Management in der Nähe war. Französische Beschäftigte drückten die Erfahrung in der Parole - "Der Boss braucht Dich, du brauchst ihn nicht" - aus. Wer den Boss braucht, sind hochbezahlte Konzernbetriebsräte wie Manfred Schoch von BMW, die bereits seit Jahren Lobbyarbeit für den Unternehmensstandort betreiben und natürlich auch gleich die Stimme ihrer Herren wurden, als Jusochef Kühnert nur mal die Vergesellschaftung der Betriebe ins Gespräch brachte.

Für freigestellte und von der Wirtschaft mit Gratifikationen belohnte Betriebsräte gab es vor 100 Jahren schon den Begriff der "Arbeiteraristokratie".

Bei ihnen wird auch die Vokabel von der sozialen Marktwirtschaft ziehen, die nach dem Willen marktradikaler Ökonomen als Ersatz für die Sozialisierungsforderung ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Sie schlagen folgenden Passus vor: "Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet."

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