Ein alter Mord auf neuer Leinwand

Das Enfant terrible der BritArt-Szene sorgt wieder einmal für Wirbel – allerdings mit längst bekannten Pressefotos. Darf die Presse, was Damien Hirst nicht darf?

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Den Vorwurf der Geschmacklosigkeit haben Damien Hirsts Kreationen zwar nicht das erste Mal auf sich gezogen, doch diesmal sind es nicht gehäutete Rinderschädel oder in Formaldehyd getauchte Tierkadaver, die seine Kritiker in Rage – und den britischen Künstler ins Gerede – bringen, sondern Bilder, die längst durch alle Medien gegangen sind. Diesmal reichte die bloße Ankündigung, Aufnahmen vom Tatort eines mysteriösen Mordfalls in fotorealistischer Manier nachzumalen, um das Enfant terrible der BritArt-Szene in die Schlagzeilen zu bringen.

Damien Hirst in der Ausstellung In-A-Gadda-Da-Vida. Foto: BBC

Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des einstigen Shootingstars unter den – längst nicht mehr ganz so jungen – „Young British Artists“ war nicht zuletzt das Resultat meisterhaft inszenierter Skandale und geschickter Selbststilisierung. Während Damien Hirst, sichtlich Kokain und Cocktails zugeneigt, fotogen den Bohemien gab und durch die Londoner Kunstwelt torkelte, schraubte sich sein Marktwert in schwindelerregende Höhen.

Vor fünf Jahren brachten die in Formaldehyd eingelegten Kuhköpfe mit dem netten Titel „Out of Sight, Out of Mind“ 559.000 Euro ein; eine Zigarettenstummel-Installation kam im selben Jahr auf 534.000 Euro. Zuletzt aber glaubten seine zufriedenen Kritiker, nun endlich das ersehnte Ende des Hirst-Hypes konstatieren zu können:

Statt neuer Ideen recycelte Hirst die alten: stellte nach quadratischen Schmetterlingsbildern und runden "Spin Paintings" runde Schmetterlingsbilder her. Danach herzförmige, dann solche mit Wolken. Der Shooting-Star läuft Gefahr, als Sensations-Künstler mit ungewisser Zukunft abgestempelt zu werden.

Welt am Sonntag, 13. Juli 2003

Hirsts Stern schien jetzt allmählich – samt Auktionspreisen – zum Sinkflug anzusetzen. Doch der Promotion-King unter den BritArt-Stars wäre nicht der, der er ist, hätte er nicht rechtzeitig das Ruder herumgerissen. Als seinem Restaurant „Pharmacy“ in Notting Hill nach kurzer Blüte die hippe Kunst-Society abhanden kam und es 2003 vor dem Bankrott stand, brachte der unverdrossene Pleitier Hirst das von ihm designte Interieur kurzerhand bei Sotheby’s unter den Hammer. Und die Konkursmasse wandelte sich auf dem Auktionstisch zur Goldgrube: Medizinschränke, Barhocker, Aschenbecher und Martini-Gläser im Apothekendesign brachten nicht weniger als 11,1 Millionen Pfund ein.

Als der mächtige Kunstmäzen Charles Saatchi, der Hirst 1988 entdeckt und höchst einträgliche vermarktet hatte, sein Interesse an Hirsts Kunst verlor, kaufte der Künstler einfach eine Reihe seiner Werke, die er einst dem Mäzen zu Anfängerpreisen abgetreten hatte, um eine horrende Summe zurück. Ende 2004 stand Hirst schließlich – rund zehn Jahre nach der Verleihung des Turner-Preises – vor dem musealen Triumph seiner exzentrischen Künstlerkarriere. Das ehrwürdige Museo Archeologico in Neapel bescherte dem Brit-Artisten erstmals eine umfassende Retrospektive. Und im Januar 2005 wechselte schließlich Hirsts bekanntestes Werk – ein in Formaldehyd eingelegter Tigerhai – um satte 10 Millionen Euro den Besitzer.

"Krank, unsensibel und geschmacklos"

Nun ist dem wieder in Schwung gekommenen Künstler, der sich mittlerweile der fotorealistischen Malerei zugewandt hat, ein neuer Medien-Coup gelungen: Die Ankündigung, Pressebilder vom Tatort eines ungeklärten Mordfalls in Schottland fotorealistisch als Gemälde nachzumalen, trugen Hirst einen veritablen Sturm der Entrüstung ein. Die Familie des Ermordeten will von der künstlerischen Verwertung ihrer Tragödie nichts wissen: „It just seems sick!“, zeigte sich der Vater des Mordopfers gegenüber der schottischen Sunday Mail entsetzt: „I have seen some of his work and I am not impressed.“

Die Polizeibeamten, nach wie vor auf Mörderjagd, stärkten den Angehörigen den Rücken und ließen dem Kunstprovokateur ausrichten, dass es – auch wenn Künstler den Drang verspüren, umstritten zu sein – „unsensibel und geschmacklos“ sei, den Mordfall in dieser Form zu missbrauchen. Und es dauerte auch nicht lange, bis sich mit Fergus Ewing (Scottish National Party) auch jemand aus den Reihen der Politik zur Wort meldete, um Hirsts Ansinnen zu verdammen:

Most people will find this news tasteless, heartless and likely to reopen the anguish and torment that this unfortunate family have suffered. This man seems to make a living out of causing offence. It's a mystery why people would wish to pay for any of his so-called art.

Der Mord von Nairn

Der Mord im ruhigen schottischen Küstenort Nairn, der die britische Öffentlichkeit seit Ende des Vorjahres bewegt, stellt Polizei und Medien noch immer vor ein Rätsel. Am Abend des 28. November 2004 hatte der 30-jährige Jungbanker Alistair Wilson seine Haustüre geöffnet, von einem Unbekannten einen Umschlag (der sich inzwischen in Luft aufgelöst zu haben scheint) entgegengenommen und war anschließend mit drei Schüssen niedergestreckt worden.

Ein halbes Jahr später ist das Motiv so unerklärlich wie am Tag der Tat. Und obwohl Augenzeugen den davon eilenden Täter beschreiben können und man sogar DNA-Proben aus Wilsons privatem und beruflichem Umfeld mit Spuren am Tatort verglichen hat, ist noch immer weit und breit kein Verdächtiger auszumachen. Die schottischen Ermittler treten – inmitten offenbar doch recht zahlreicher Spuren – bis heute auf der Stelle. Nun setzen sie ihre letzte Hoffnung in die weggeworfene Tatwaffe, die Arbeiter in der Nähe des Hauses entdeckt haben. Dabei handelt es sich nämlich um ein recht ungewöhnliches Fabrikat: eine handliche „Damenpistole“, die in den 1920er Jahren in Suhl (Thüringen) hergestellt wurde und nach Vermutungen der Polizei als „Kriegstrophäe“ von britischen Weltkriegssoldaten aus Deutschland mitgebracht worden sein könnte.

Die schottische Polizei hat außergewöhnliche Anstrengungen unternommen, um Licht ins mysteriöse Dunkel zu bringen. Um vielleicht doch noch neue Hinweise zu finden (2.500 Zeugenaussagen wurden bereits aufgenommen), wurde die respektable Summe von 10.000 Pfund (rund 15.000 Euro) als Belohnung ausgesetzt; vergleichsweise bescheiden im Vergleich zur Höhe der Gesamtausgaben für die – bislang erfolglose – Ermittlungen, die sich, ohne Polizeigehälter, allmählich der 400.000-Pfund-Marke (600.000 Euro) nähern.

Im Internet (hier wurden britische Weltkriegs-Veteranen zur Mithilfe aufgefordert), in der Presse und im Fernsehen drängte die Polizei mit dem rätselhaften Fall aus Nairn in die Öffentlichkeit. Dabei zeigten die Ermittler weit weniger mediale Zurückhaltung, als sie es nun beim ewigen Provokateur Hirst für angemessen halten: Zweimal hat man den Fall Wilson schon vor einem Millionenpublikum ausgebreitet, und zwar in der Sendung Crimewatch, die als BBC-Äquivalent von „Aktenzeichen XY ungelöst“ dafür zuständig ist, dass auch Britanniens Bürger das wohlige Gruseln vor dem Kriminalitäts-Gespenst (siehe: "Das Böse ist immer und überall") nicht verlernen.

Auf das strittige Foto ist Hirst erst beim Blättern in alten Zeitungen gestoßen. Man darf sich fragen, warum in Form eines Kunstwerks plötzlich verpönt ist, was als Medienberichterstattung banaler Alltag ist. Darf denn die Boulevardpresse, was Damien Hirst nicht darf? Der Künstler selbst hat sich, nach der Erregung am Sonntag, gestern versöhnlich gezeigt und ließ über seine Sprecherin verlauten, dass er seinen Plan nicht weiter verfolgen werde:

I don't think there's anything to apologise for because nothing's going to be done. In this situation the painting won't be done.

Entweder ist das einstige „Enfant terrible der Schlachthöfe“ (Welt am Sonntag) also inzwischen der Skandale müde geworden – oder sein Einlenken hat einen viel handfesteren Grund: Am Montag hat offenbar der Pressefotograf Peter Jolly ihn nämlich wissen lassen, dass er nicht daran denke, die Rechte für das Bild freizugeben.