"Ein französisches Fukushima ist unmöglich"

Gefährliche Auslagerungskaskaden. Die Unsichtbaren der französischen Nuklearindustrie, Teil 2

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Das französische System der kostensparenden Auslagerungen von gefährlichen Arbeiten an Kernkraftwerken (siehe dazu Teil 1 Die Unsichtbaren der französischen Nuklearindustrie) ist reichlich verschachtelt. Bis zu acht verschiedene private Unternehmen können an den Wartungsarbeiten in den Kernkraftwerken beteiligt sein! Eine wahre "Auslagerungskaskade", wie viele Kritiker die Privatisierungspolitik des staatlichen Stromkonzerns EDF bezeichnen.

Kürzlich wurde im Zuge der europäischen Stresstests zur Sicherheit der nuklearen Anlagen nach Fukushima die Zahl der Auslagerungsfirmen von der französischen Regierung auf drei reduziert. Doch für den Gewerkschaftssprecher der CGT, Laurent Langlard, sind das noch immer drei Auslagerungen zu viel.

Bei so vielen Auslagerungen an Privatfirmen wisse keiner mehr wirklich, wer was macht und wann. Die Kritik ist nötig, auch wenn manche spezifische Aktivitäten an Privatunternehmen ausgelagert werden müssten, etwa elektrische Generatoren von Alstom installieren, wie der Gewerkschafter ausführt. Aber grundsätzlich läge es natürlich an der EDF, den Job des Kernkraftwerkbetreibers voll und ganz wahrzunehmen und den Franzosen und Europa die Sicherheit ihrer nuklearen Installationen zu garantieren.

Das derzeit betriebene verschachtelte System der multiplen Auslagerungen an Privatunternehmen ist wohl kaum ein Garant für die Sicherheit der Arbeiter und der ganzen Nation. Der nun endgültig sichtbar gewordene "Unsichtbare" Monsieur Billard fügt hinzu, dass, wer seine Arbeiter schlecht behandle, den Ast absäge, auf dem er sitzt.

Langsam, aber sicher beginnen die Unsichtbaren der französischen Kernenergie die Aufmerksamkeit der Verbände und Gewerkschaften zu gewinnen. Die Gewerkschaft CGT verlangt nun einen "hohen sozialen Status für die privaten Nukleararbeiter". Mit einem Wort: Die Rechte der bislang unsichtbaren Nukleararbeiter sollen endlich anerkannt werden. 35.000 private nukleare Arbeiter zählt die Gewerkschaft. Diese sozial konstruierte Unsichtbarkeit diene der EDF dazu, weiterhin zu behaupten, dass alles unter Kontrolle sei.

Ungleichbehandlung

Die Nukleararbeiter sind an sich mit einem Dosimeter zur Messung der Strahlenbelastung in den Anlagen ausgestattet. Aber auch hier kommt es zu einer Ungleichbehandlung zwischen privaten Arbeitern und offiziellen EDF-Angestellten. Die Messungen der Dosimeter werden auf nationaler Ebene durch das Strahlenschutzinstitut IRSN wahrgenommen.

Es erweist sich allerdings für alle in den Kernkraftwerken der Radioaktivität ausgesetzten Angestellten als extrem schwierig, beim IRSN die Daten der abbekommenen Strahlendosen zu erhalten. Noch schlimmer zeigt sich diese Situation für die privaten Nukleararbeiter. Im Gegensatz zum EDF-Kollegen verlässt kein einziger "Unsichtbarer" seine Arbeit mit den Daten der Strahlenbelastung, der er ausgesetzt war, wie der hochaktive Monsieur Billard anklagt.

Auch die privaten Arbeitgeber wären an sich natürlich dazu verpflichtet, diese Daten herauszurücken. Daten, die es dem privaten Nukleararbeiter erlauben könnten, falls er Jahre später erkrankt, zu beweisen, dass er einer Strahlenbelastung in einer französischen Atomanlage ausgesetzt war, die ihn wahrscheinlich krank gemacht hat. Die Angewohnheit der EDF, die gefährlichen Wartungsarbeiten der 58 französischen Reaktoren zu privatisieren, hat laut der Gewerkschaft CGT riskante Nebenwirkungen auf die Sicherheit.

Spiel mit der Gesundheit der Arbeiter

In einem Dokumentarfilm erklärt ein Nukleararbeiter, dass er im Zuge seiner Kontrolle einen Riss entdeckt habe. Sein privater Arbeitgeber habe ganz einfach ein anderes Team kommen lassen, um wie erwünscht feststellen zu lassen, dass der entdeckte Riss nicht weiter schlimm sei und man weitermachen könne wie gehabt. Für das Privatunternehmen komme es vor allem darauf an, sich nicht zu verspäten. Das ginge alle Tage so, erklärt der Angestellte.

Die EDF fraktioniert derweilen die kollektiven Strahlendosen auf mehrere tausend private Nukleararbeiter und kann so ungehindert weiterhin behaupten, dass die Aussetzung an die ionisierende Strahlung die Gesundheit der privaten Arbeiter nicht gefährde, weil ja die Dosen auf mehrere Tausend verteilt sind. Sortir du Nucléaire erinnert allerdings daran, dass in Sachen ionisierende Strahlung auf internationaler Ebene keine pathogene Schwelle festgelegt wurde.

Ab welcher Strahlendosis riskiert man seine Gesundheit in den Atommeilern der Grande Nation? Die privaten Nukleararbeiter selbst wissen, dass sie im Zuge ihrer nuklearen Karriere, von Reaktorstopp zu Reaktorstopp, die von EDF offiziell zugelassene Verstrahlungsdosis mehrmals überschritten haben. Aber bei den Unsichtbaren wird das zu gerne übersehen.

Parteimanöver

"Ein französisches Fukushima ist unmöglich!" - wie der sozialistische Abgeordnete, Christian Bataille, im Zuge der Stresstests der französischen Anlagen lauthals verkündet. Denn Frankreich sei natürlich besser vorbereitet als Japan. Diese französische Selbstsicherheit in Nuklearfragen möchte die grüne Spitzenkandidatin Eva Joly hinterfragen. Sie lud im Oktober François Hollande nach Fukushima ein. Eine Einladung, die vom sozialistischen Spitzenkandidaten allerdings nicht wahrgenommen wurde.

Was wohl auch besser für seine Gesundheit (Tepco will erneut radioaktiv belastetes Wasser ins Meer leiten) ist, gibt der japanische Betreiber Tepco doch an, dass der geschmolzene Kern aus dem Reaktor 1 geflossen ist und erneut radioaktiv belastetes Wasser ins Meer geleitet werden soll. Tepco musste allerdings nach Protesten von Fischerverbänden von diesem Vorhaben absehen. In Frankreich gehen derweilen die atomaren Spielchen munter weiter, und ein Atomausstieg liegt noch in weiter Ferne.

Die Grünen planen den Totalausstieg für 2031 und hatten einige Schwierigkeiten mit dem sozialistischen Partner, ihre Linie durchzuhalten. Mit dem Resultat, dass die Grünen und Sozialisten in Sachen Atomausstieg eine andere Sprache sprechen.

Doch die Grünen hoffen dann doch, den traditionell der Kernenergie zugeneigtem Sozialdemokraten von der PS nicht allzu sehr mit ihrem, vor allem durch ihre Chefin Eva Joly gepredigten Totalausstieg zu verschrecken, hat man es doch auf einige Parlamentssitze durch die derzeit aussichtsreiche sozialistischen Partei abgesehen. Zu diesem Behufe wurde darauf verzichtet, das französische EPR-Projekt in Flamanville zu stoppen. Das nämlich gedenkt Monsieur Hollande, falls er Präsident wird, weiter zu führen.

Die Sicherheit der französischen Anlagen

Doch nicht nur Eva Joly versucht, die französische atomare Selbstgewissheit zu kitzeln. Am 5. Dezember konnte ein Greenpeace-Kommando ungehindert auf die Kuppel der Nuklearanlage Nogent sur Seine, 95 km südöstlich von Paris, klettern. Am selben Tag wurden auch in einem anderen Atommeiler zwei "grüne Terroristen" festgenommen. Die beiden Greenpeaceaktivisten waren um 6 Uhr in der Früh in die südfranzösischen Atomanlage von Cruas eingedrungen.

Kernkraftwerk Cruas. Bild: TP

Die beiden Herren von Greenpeace konnten erst abends festgenommen werden. Die Umweltorganisation wollte mit diesen Aktionen aufzeigen, wie leicht es ist, in die Atomanlagen einzudringen. Sie waren selbst gehörig erstaunt darüber, wie einfach es gewesen war, in das französische Allerheiligste zu gelangen. Die Atomanlagen sind an sich von einer ständig vor Ort befindlichen Spezialeinheit der Gendarmerie, Jagdflugzeugen, die binnen 15 Minuten eingreifsbereit sein sollen, Radarüberwachung, doppeltem elektrischem Stacheldrahtzaun, Videoüberwachung und einem über den Meilern gesperrten Luftraum gesichert.

Greenpeace wollte aufzeigen, dass die Nuklearenergie eben nie sicher ist - weder vor friedlichen noch vor feindlichen Eindringlingen, Naturkatastrophen und menschlichen, durch Stress verursachten, Schlampigkeitsfehlern. Greenpeace erklärte, dass es pro Jahr zu über 900 mehr oder minder gefährlichen Zwischenfällen in den französischen Atomanlagen komme.

Die Achillesferse der französischen Kernenergie seien die zunehmenden Auslagerungen an Privatfirmen, wie das Onlinemedium "Mediapart" berichtet. Der finanzielle Druck und der zunehmende Stress, der auf den Nukleararbeitern laste, zeige allzu deutlich auf, dass die französische Nuklearindustrie vom ursprünglich versprochenen Null-Risiko zum "berechenbaren" Risiko übergegangen sei.

Anbei bemerkt: In Fukushima soll die private Tepco ebenfalls vor allem anderen Unternehmen angehörige private Nukleararbeiter engagiert haben. Haben die Japaner von den Franzosen gelernt? Ein berechenbares Risiko à la EDF?