Eine Milliarde Menschen werden bis 2050 zu Vertriebenen

Konflikte, Bauprojekte und Klimaerwärmung werden nach einem Bericht der Hilfsorganisation Christian Aid die Zahl der Vertriebenen vor allem in der Dritten Welt, die bislang kaum Hilfe erhalten, drastisch erhöhen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach einem eben veröffentlichten Bericht der britischen Hilfsorganisation Christian Aid wird die Vertreibung zur größten Gefahr für die armen Menschen in der Dritten Welt. Schon jetzt sind fast 170 Millionen Menschen aufgrund von Konflikten, Katastrophen oder große Bauprojekten zur Migration gezwungen worden. Bis 2050 könnten bis zu einer Milliarde Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen, wenn die Auswirkungen der Klimaerwärmungen die jetzt schon vorhandenen Trends verstärken. Betroffen seien vor allem die Sahel-Zone, Südostasien und der Nahe Osten.

Flüchtlingslager in Darfur. Bild: Christian Aid/David Rose

Der Bericht Human tide: the real migration crisis warnt davor, dass die Welt mit der größten Flüchtlingswelle konfrontiert werden könnte, die die Vertreibungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs übersteigt. Damals waren in Europa 66 Millionen Menschen auf der Flucht. Christian Aid wurde, so erinnert die Hilfsorganisation in dem Bericht, am Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, um den Vertriebenen zu helfen. Über 50 Jahre später will man daher eindringlich vor der zunehmenden Vertreibungswelle im 21. Jahrhundert warnen.

Da die Auswirkungen der Klimaveränderung sich mit den Konflikten, Naturkatastrophen und Bauprojekten, die die Vertreibungen verursachen, zusammen gehen und diese verstärken, befürchten wir, dass eine daraus sich entwickelnde Migrationskrise außer Kontrolle geraten wird.

Die Hilfsorganisation kritisiert, dass Politik und Medien vor allem die Migration aus wirtschaftlichen und politischen Gründen thematisieren. Die wirkliche Krise, die weitgehend unbeachtet bleibt, sei jedoch die Vertreibung von Menschen, die in aller Regel innerhalb ihres Landes verbleiben. Nicht nur Bürgerkriege oder ethnischen Vertreibungen erzwingen die Flucht von Millionen Menschen, sondern mehr und mehr auch der Bau von Dämmen, Straßen, Minen, Pflanzungen und anderen Bauprojekten. Allein deswegen seien 105 Millionen Menschen vertrieben worden. "Nur" 8 Millionen seien politische Flüchtlinge, die ihr Land verlassen haben, um anderswo Asyl zu suchen. Während diejenigen, die das Land verlassen können, oft wenigstens eher Beachtung fänden, sind die internen Flüchtlinge machtlos. Internationale Abkommen schützen sie nicht, internationale Hilfsorganisationen fühlen sich nicht zuständig, die eigenen Regierungen kümmern sich oft nicht um sie, weil sie meist für deren Vertreibung mit verantwortlich sind.

Nach Christian Aid werden in Zukunft mehr und mehr Menschen in den armen Ländern vertrieben werden und so unter anderem auch die Megacities und deren Slums in der Dritten Welt weiter explodieren lassen. Werden die befürchteten Folgen der Klimaerwärmung stärker, so würde eine Massenmigration die Folge sein, die die bereits bestehenden Konflikte verstärkt und neue verursacht. Ganze Regionen könnten in Bürgerkriegen um die schwindenden Ressourcen, vor allem von Wasser und Nahrung, versinken und damit auch die globale Sicherheit bedrohen.

Konservativ geschätzt würde jährlich eine Million Menschen aufgrund von bewaffneten Konflikten und extremen Menschenrechtsverletzungen vertrieben werden. Ebenso viele Menschen würden jährlich aufgrund von Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen müssen. 15 Millionen jährlich werden durch Bauprojekte und andere Maßnahmen vertrieben. Zu diesen 750 Millionen Vertriebenen bis 2050 kämen noch weitere 250 Millionen, die aufgrund von Klimaveränderungen (Überflutung, Trockenheit, Wirbelstürme etc.) fliehen müssen und nicht mehr zurückkehren können. Lediglich 5 Millionen würden bis dahin ihr Land verlassen können und woanders aufgenommen werden.

Der Bericht versichert, dass die Folgen der Klimaerwärmung kaum abgeschätzt werden können. Dafür gäbe es keine wirklich fundierten Zahlen. Aber man müsse berücksichtigen, was geschehen könne, um jetzt die notwendigen Präventivmaßnahmen einzuleiten. Christian Aid stützt sich bei den Vorhersagen u.a. auf den IPCC-Bericht, wo bis 2080 damit gerechnet wird, dass über eine Milliarde Menschen nicht mehr ausreichend mit Trinkwasser versorgt werden können und Hunderte von Millionen hungern müssen.

Anhand einiger Fallstudien von Ländern führt Christian Aid die Situation von Massenvertreibungen vor Augen. Darfur hat in letzter Zeit neben dem Irak die größte Aufmerkamkeit gefunden, da hier 5 Millionen Menschen vertrieben wurden. Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres haben 80.000 Menschen versucht, durch Flucht ihr Leben zu retten. Befürchtet wird, dass bald die Hälfte der Bevölkerung von Darfur ihre Heimat verlassen muss. Zudem weitet sich der Konflikt, der auch auf dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen stattfindet, auch auf die benachbarten Staaten wie den Tschad aus. Dort sind bislang 250.000 Menschen vor der Gewalt geflohen, aber als intern Vertriebene können sie nicht von den Flüchtlingscamps im Tschad aufgenommen werden, in denen eine Viertelmillionen Sudanesen Zuflucht gefunden haben.

In Mali schreitet die Verwüstung voran. Das Wasser muss, ist es noch vorhanden, oft über lange Wege transportiert werden. Bild: Christian Aid/Sarah Wilson

Ähnliche Probleme mit Vertriebenen findet man in Kolumbien, in dem nach einem Jahrzehnte lang andauernden Bürgerkrieg 3,7 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten und nun oft in den Slums um Bogota herum leben. Dort aber werden sie nun durch Vertreibung durch die Einrichtung von großen Plantagen bedroht, in denen Ölpalmen zur Herstellung von Palmöl angepflanzt werden, das auch als Biokraftstoff verwendet werden kann. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Burma, wo die Regierung die "gesäuberten" Gegenden zunehmend für Bauprojekte wie Dämme oder auch Ölpalmenplantagen benutzt. Auch in Sri Lanka oder Uganda hat eine Massenflucht stattgefunden, die durch Bürgerkriege ausgelöst wurden. Mali, das in der Sahelzone liegt, zeigt unter den Fallstudien wohl am deutlichsten die jetzt schon vorhandenen Auswirkungen der Klimaerwärmung. Die Wüste breitet sich aus, es regnet immer weniger, die Ernten sinken und die Menschen müssen wegziehen, um anderswo nach Möglichkeiten des Überlebens zu suchen – u.a. auch nach Europa.