Eine Webschrift

Noam Chomsky, der Internetabstinenz pflegt, erhielt zum 70. eine Festschrift im Netz

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Noam Chomsky, am 7. Dezember 1928 geboren, Professor am MIT, ist seit Jahrzehnten einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der US-Politik. Bekannt wurde er als Linguist, der in den 50er Jahren im Kontext der beginnenden Kognitionswissenschaft und der KI-Forschung gegen den damals herrschenden Behaviorismus auftrat und die Position vertrat, daß die Sprachkompetenz bei Menschen genetisch als "Programm" verankert sein müsse, da die Struktur der menschlichen Sprache viel zu komplex sei, als daß sie Kinder in so kurzer Zeit lernen könnten. Diese linguistische Revolution machte ihn und seinen Ansatz einer universellen Grammatik weltberühmt, die genetisch bei allen Menschen angelegt sei, allen möglichen Grammatiken von einzelnen Sprachen zugrundeliege und sich durch Lernen an bestimmten Punkten verzweige. Seine wissenschaftliche Prominenz nutzte Chomsky dann seit dem Vietnamkrieg unermüdlich für seine Kritik an der US-amerikanischen Vormachtspolitik aus einer linken, aber undogmatischen Perspektive.

Die New York Times hat Chomsky einmal als "den möglicherweise bedeutendsten lebenden Intellektuellen" bezeichnet. Aber er wird wegen seiner politischen Ansichten, die so gar nicht ins neoliberale Klima passen, auch von vielen auch befeindet. Manche bezeichnen ihn gar als Verschwörungstheoretiker, weil er der US-Regierung die Schuld an vielen Übeln der Welt von der Armut über die Umweltverschmutzung bis zur Medienberichterstattung gebe.

Vor kurzem erst hatte Chomsky wieder (Rogue States) die US-Politik im Fall des Verhaltens gegenüber dem Irak gegeißelt, der etwa neben Kuba, Libyen oder Nordkorea als "rogue state", also als verbrecherischer Staat, gilt, gegenüber dem man, wie gegen einen Outlaw, andere Verhaltensweisen einnehmen muß. Seit dem Ende des Kalten Kriegs wurde dieses Konzept von neuen Feindbildern tatsächlich für die amerikanische Sicherheitsstrategie immer bedeutsamer und leitete schon unter Reagan und Bush die Thematisierung von neuartigen Bedrohungen durch den Cyber- oder Bioterrorismus ein, in dem neben den verbrecherischen, sich nicht an internationale Abkommen haltenden Regimen die Bedrohung der nationalen Sicherheit und Infrastruktur eben auch von Einzelnen oder Gruppen ausgehe. Steht bin Laden derzeit für die USA an der Spitze des internationalen Terrorismus, so natürlich Saddam Hussein an der der "rogue states".

Chomsky argumentiert, daß die USA und Großbritannien sich mit ihrem Militärschlag gegen den Irak, der ohne Auftrag des Sicherheitskonzils der UN auf eigene Gefahr durchgeführt wurde, die Einseitigkeit des strategischen Begriffs aufdecke. Zweifellos sei Husseins Regime verdammenswert, gleichwohl handeln die beiden Weltpolizisten außerhalb der Abkommen der Weltgemeinschaft und seien daher selbst in gewisser Weise "rogue states". Die USA nehme sich die Freiheit heraus, wenn sie ihre nationalen Interessen bedroht sehen, nach Gutdünken und eigenmächtig zu handeln: Die USA werden, wie Außenministerin Madeleine Albright sagte, "multilateral handeln, wenn wir können, und unilateral, wenn wir dies müssen." Es gibt also keine Instanz über der Politik der US-Regierung.

Wie ein "rogue state" haben nach Chomsky die USA in einigen Fällen gehandelt, angefangen vom Versuch, Kuba oder Vietnam zu "befreien", bis hin zu den militärischen Eingriffen in Libyen, Panama, Nicaragua oder eben in den Irak. Angriffe werden als "Selbstverteidigung" deklariert, weil dies die einzige Ausnahmeregelung innerhalb der internationalen Abkommen ist. Und weil für das Sicherheitskonzept der USA die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, zwischen militärischen und zivilen Bereichen und zwischen Innen- und Außenpolitik verschwimmen, wird die Außenpolitik zur Innenpolitik und umgekehrt, also gewissermaßen die Welt unter der Perspektive der Inneren Sicherheit gesehen.

Andererseits haben die USA oft genug verbrecherische Regime oder militärische Aktionen, die von der Weltgemeinschaft mißbilligt wurden, gedeckt oder unterstützt. Chomsky weist dabei insbesondere auf den Irak selbst hin, der solange unterstützt wurde, als der erste Feind noch der Iran war. Als bekannt wurde, daß der Irak chemische Waffen gegen den Iran und 1988 gegen die Kurden in Halabja einsetzte, gab es noch keinen Aufruf zu einem militärischen Schlag gegen Hussein und seine Massenvernichtungswaffen, obgleich die UN schon 1986 den Einsatz von chemischen Waffen durch den Irak verurteilte. Bereits 1989 wurde Iraks Programm zur Aufrüstung mit biologischen Waffen ohne Folgen aufgedeckt. Chomsky führt Berichte an, daß die USA möglicherweise unter Billigung der Regierung dem Irak auch Materialien, darunter pathogene Keime, zur Produktion von Massenvernichtungswaffen geliefert haben. Und Großbritannien habe noch bis 1996 britischen Firmen die Ausfuhrerlaubnis für Materialien erteilt, die sich für biologische Waffen verwenden lassen. Erst als Hussein seine Grenzen überschritt und in Kuweit einmarschierte, überzog er für Chomsky die Bereitschaft, ihn weiterhin zu unterstützen. Es gehe dabei einzig um die Strategie, die weltweit größten Ölvorkommen im Sinne der USA zu kontrollieren.

Jedenfalls haben die Schüler und Freunde von Chomsky sich entschlossen, zu einem 70. Geburtstag nicht eine der üblichen Festschriften vorzubereiten, die als Buch gedruckt werden und für die Öffentlichkeit meist nicht existent sind. Da Chomsky weder solche Rituale noch Feiern schätze, wollte man die Wertschätzung auf die am wenigsten aufdringliche und auf demokratischste Weise durch die Einrichtung einer Website zum Ausdruck bringen. Man fordert durch Emails und Mund-zu-Mund-Propaganda die Menschen auf, sich daran mit eigens für diesen Anlaß geschriebenen Texten zu beteiligen: "Die unbegrenzte Partizipation", so Mitiniatorin Janet Fodor, "schien uns am besten zu Noams Philosophie des Nicht-Ausschlusses zu passen. Und es würde eine ruhige, nicht aufdringliche Form der Feierlichkeit sein." Bis zur Schließung der Site sind 200 Beiträge und über 2000 Glückwünsche aufgenommen worden.

Schwierig sei es nicht gewesen, das Projekt vor ihm geheimzuhalten: "Er geht niemals ins Internet und er ist, wie er selbst sagt, mit einem Gen ausgestattet, das Überraschungen ausselektiert." An seinem Geburtstag überreichte man ihm einen roten Ordner mit einer goldenen Schleife, in dem sich eine Liste mit den Namen aller befand, die einen Beitrag zur Webschrift geleistet hatten. Chomsky aber blickte nur kurz darauf und legte den Ordner dann beiseite, weil er nicht wußte, um was es dabei geht, bis ihn seine Frau schließlich aufklärte. Ob er daraufhin einmal ins Web sah, wird nicht berichtet. Chomsky dürfte auch einer der wenigen sein, die am MIT keine eigene Email-Adresse besitzen.