Eine deutsche Firma im Irak

"Wir schicken niemanden mehr hin". Nach der Entführung ihrer Mitarbeiter im letzten Jahr betreut die Firma Cryotec eine Ölanlage im Nordirak von zu Hause aus: Mit Laptop, Digitalkamera und Handy

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Die kleine Firma Cryotec in Bennewitz bei Leipzig hält trotz Geiseldrama am Irak-Geschäft fest. Diese für Kenner des Landes und Journalisten gleichermaßen unglaubliche Nachricht ging Mitte Februar 2006 um die Welt. Zu diesem Zeitpunkt lag das Schicksal von zwei der 15 Mitarbeiter in der Hand einer Gruppe bewaffneter, vermummter Männer im Nordirak. Die Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke waren Ende Januar nahe der Industriestadt Baidschi verschleppt worden. Nach 99 Tagen in Gefangenschaft, 27 Mahnwachen mit hunderten Menschen in Leipzig und einer bisher offiziell unbestätigten Lösegeldzahlung in Millionenhöhe durch die Bundesregierung kamen die Deutschen am 2. Mai 2006 frei (vgl. Moral oder Geschäft?). Heute unterstreicht Geschäftsführer Peter Bienert, 63, noch einmal die damalige Aussage seiner Firma: "Der Irak ist für uns der Haupthandelspartner. Nur - wir schicken niemanden mehr hin."

Stattdessen holt Cryotec die irakischen Geschäftspartner an die Mulde. Das machen die findigen Sachsen nicht erst auf Anraten von Gernot Erler (SPD), Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Kurz nach der Entführung der Deutschen hatte Erler der Firma ein unverantwortliches Verhalten unterstellt, von dem sich Bienert postwendend in einer eilends verfassten Presseerklärung "aufs Schärfste distanzierte."

Nach der Freilassung der Geiseln warnte derselbe Staatssekretär dringend deutsche Firmen vor Reisen in den Irak und plädierte dafür, stattdessen mit ortsansässigen Kräften zu arbeiten. An der Reisewarnung hält das Auswärtige Amt in Berlin weiterhin fest. Und wie schon vor dem Entführungsfall schult die Cryotec Anlagen GmbH wieder Fachleute aus dem arabischen Land an ihrem Firmensitz. Dort erhalten sie notwendige Einblicke in technische Zusammenhänge, um die hochmodernen, zum Teil vollautomatischen Anlagen vor Ort zum Laufen zu bringen und warten zu können.

Doch diese Art der Zusammenarbeit birgt Risiken, die existenziell sein können. Da die Deutsche Botschaft in Bagdad seit Monaten für den Publikumsverkehr geschlossen ist, gibt es manchmal das Visum für die Eingeladenen erst in Jordaniens Haupstadt Amman oder in der Türkei. "Allein die Fahrt zum Flughafen und die Übernachtung in Bagdad ist für unsere ausländischen Kollegen lebensgefährlich", weiß Bienert. "Ihre Religionszugehörigkeit bringt sie in Gefahr. Sie müssen durch schiitisches und sunnitisches Gebiet." Zudem bräuchten die Formalitäten viel Zeit. "Ganze zwei Wochen", stellt Bienert fest. "Das behindert uns unwahrscheinlich, obwohl wir gute Kontakte zu den Botschaften haben."

Mit einem Bein am wirtschaftlichen Abgrund

Mit dem Know-how, aus der Luft technisch nutzbaren Stickstoff oder Sauerstoff zu filtern, die als Schutzgase über Erdölprodukte gelegt und so eine Explosion verhindern können, hat Cryotec der Konkurrenz aus Deutschland, England und Frankreich Millionenaufträge vor der Nase weggeschnappt. Wie den in der Erdölraffinerie von Baidschi. Der hätte der kleinen Firma beinahe die Existenz gekostet. Kurz vor dem Probebetrieb waren Bräunlich und Nitzschke gekidnappt worden. Abgesehen von der Entführung für alle Beteiligten ein Desaster: Keine Vertragserfüllung, kein Geld.

Die Anlage sollte das Unternehmen aus Ostdeutschland "ein Stück weit bekannt machen, im arabischen Raum", so Bienert. Der Mann, der schon vor der Wende als Reisekader des VEB Maschinenfabrik Wurzen die DDR am Golf vertrat und dem Insider ausgezeichnete Kontakte zur arabischen Geschäftswelt nachsagen - obwohl er selbst kein Wort Arabisch spricht -, stand mit einem Bein am wirtschaftlichen Abgrund. Er hatte auf das boomende Öl-Geschäft mit dem Zweistromland am Euphrat und Tigris gesetzt und scheinbar verloren. Die Presse belagerte den Firmensitz in dieser Zeit derart, dass sich Bienert anfangs nicht besser zu helfen wusste, als Tor und Tür zu verschließen und selbst durch ein Fenster im Erdgeschoss zu flüchten.

Kurz darauf besann er sich, suchte mit seiner Mannschaft die Öffentlichkeit. Er stellte sich den Fragen der Reporter, ging mit Appellen an die Entführer in die Offensive, erfuhr viel Solidarität - und hatte unverschämtes Glück. Die beiden verschleppten Kollegen kamen gesund wieder frei, über Lösegeldzahlungen und Kostenbeteiligungen an der Rückholaktion redet heute niemand mehr. Ein Kredit half Cryotec über die entstandene finanzielle Notsituation hinweg. CDU-Parteifreunde hatten bei Banken ein gutes Wort für seine Firma eingelegt.

Den Rechner samt firmeneigener Software zu den irakischen Kollegen geschickt

All das Erlebte schweißte die kleine Mannschaft noch enger zusammen. Keiner machte den anderen Vorwürfe, gemeinsam tüftelten die Ingenieure an einer der kniffligsten Aufgaben, die sie je zu bewältigen hatten. Die für sie nun unerreichbare Anlage im Nordirak musste in Gang gesetzt werden - von zu Hause aus. Ein Laptop, eine Digitalkamera, ein Handy. Das war alles, was die Sachsen brauchten, um das Unmögliche möglich zu machen. Sie schickten den Rechner samt firmeneigener Software zu den irakischen Kollegen, ließen sich Fotos senden und kommunizierten mit ihren Geschäftspartnern über Satellit, Telefon und Internet. Am 10. Juni 2006 knallten in Bennewitz die Sektkorken. Die Anlage arbeitete fehlerfrei.

Wer heute zu Cryotec kommt, findet einen entspannt lächelnden Geschäftsführer und offene Türen vor. In Baidschi gibt es keinerlei technische Probleme. Erst vor kurzem kam ein neuer Vertrag mit dem irakischen Gesundheitsministerium zustande. Geliefert werden Sauerstoffanlagen für Krankenhäuser, "lebenswichtig in einem Land im Krieg", sagt Bienert. Da ist er wieder, der Geschäftssinn dieses Unternehmers, gepaart mit Engagement für Menschen aus einem anderen Kulturkreis. Als erfahrener Handelsreisender setzt er auf Mund-zu-Mund Propaganda wie auf dem Basar, statt auf Messen. "Die kosten viel und bringen wenig", weiß Bienert aus Erfahrung.

Deshalb lässt er auch Termine wie dem im Mai diesen Jahres in Amman unbeachtet. Vom 7. bis 10. 05. 2007 trifft sich hier, mit Unterstützung des Bundes, die Deutsche Wirtschaft auf der Internationalen Wiederaufbaumesse für den Irak. Doch ein Vertrauensverhältnis werde nicht dadurch geschaffen, dass man sich mal sehen lässt und dann wieder verschwindet, sondern durch gegenseitiges Kennenlernen, meint er. "Wir arbeiten mit Vertretern im Ausland und halten Kontakte vor Ort." Am liebsten ist es Bienert, "wenn ein langjährig bekannter Geschäftsmann vorbeikommt, und gleich seinen Freund mitbringt." Dann herrsche eine sich gegenseitig befruchtende Dynamik im Leben. "Die Leute, die das einseitig sehen, machen eine Fehler", ist er sich sicher.

"Wenn wir aber Sauerstoffanlagen liefern, dann können Menschen operiert und so vor dem Tod bewahrt werden"

Die Beziehungen seiner Firma zum Irak sind über Jahre gewachsen.

Wir haben uns schon vor Saddam dort engagiert und werden es weiterhin tun. Der Irak ist ein geschundenes Land, die Infrastruktur zerschlagen, die Menschen leben im Elend und in Angst um ihre Angehörigen, wenn sie nur auf die Straße treten. Meiner Meinung nach ist das auch ein Ergebnis der langjährigen Embargopolitik der Vereinten Nationen und der USA.

"Ein Verbrechen", sagt Bienert, ohne sich dafür auf die Zunge zu beißen. Die humanitäre Hilfe komme nur sporadisch bei den Bedürftigen an. "Wenn wir aber Sauerstoffanlagen liefern, dann können Menschen operiert und so vor dem Tod bewahrt werden." Dass dem früher ein kompliziertes Genehmigungsverfahren vorausging und die Finanzierung über ein Treuhandkonto abgewickelt werden musste, nahm er in Kauf. Heute könne man frei operieren.

Von der weltweit beachteten Entführung und dem Presserummel habe Cryotec weder ernsthaft Schaden genommen noch profitiert. "Wir schreiben schwarze Zahlen, aber die Gewinne sind nicht exorbitant", erklärt der Chef. Arbeit sei da, doch immer nur für vier bis sechs Monate. Darunter seien auch kleinere Aufträge, Montagen und Demontagen, keine Fertigung. "Wenn wir dazu nein sagen würden, wären wir weg vom Fenster", meint Bienert. "Und mit uns würden andere darunter leiden. Wir arbeiten sehr viel mit regionalen Firmen zusammen." Rumgesprochen habe sich allerdings die gute Qualität der Anlagen "und dass wir nichts von der Stange liefern, alles Maßarbeit", betont er. Zudem sei Cryotec oft unerwartet flexibel. "Unsere Anlagen sind allesamt Unikate."

"Wir wollen ganz normal unsere Arbeit machen"

Natürlich quäle ihn immer noch die Schuldfrage, auch wenn sie ihm nicht mehr gestellt werde. Schuld als verantwortlicher Leiter trage man immer, meint Bienert, auch nach einer ausführlichen Belehrung bei einem Arbeitsunfall. Dass ihm seine beiden Kollegen und deren Familienangehörigen dieses Gefühl nie vermittelten, rühre ihn sehr.

Wenn Bräunlich und Nitzschke nicht im Büro vor ihren Rechnern über komplizierten Lösungsvarianten für ausgefallene Kundenwünsche sitzen, sind sie auf Baustellen unterwegs. Ihr Chef glaubt: "Die beiden sind voll einsatzfähig. Da ist nichts hängen geblieben." "Nö, Albträume habe ich nicht", sagt Bräunlich. "Nur, die Presse lässt uns nicht in Ruhe. Doch wir wollen nicht in den Medien sein. Wir wollen ganz normal unsere Arbeit machen."

Zu den Bildern, die über Al-Dschasira liefen, Nitzschke und ihn kniend vor bis an die Zähne bewaffneten Männern zeigten, sagt Bräunlich:

Die waren gestellt. Wir mussten so tun als ob. Ein paar Schlagworte sollten fallen. Eine scheiß Angst hatten wir aber trotzdem. Heute ist es so, dass unsere Firma hier Iraker weiterbildet, damit sie die Technik beherrschen. Sind sie dann wieder in ihrer Heimat, verschwinden viele ins Ausland, auf Nimmerwiedersehen, um gut zu verdienen und dem Krieg zu entgehen. Sie wollen alle raus aus dem Land.

Manchmal überkommt Bräunlich doch die Erinnerung. Bei ganz einfachen Dingen, wie dem Trinken aus einer Wasserflasche. "Im Irak gab es Tee, schwarzen Tee", sagt er nachdenklich. "Hier trinke ich auch gern mal einen Kaffee."