Email aus dem Versteck

Ein Flüchtling bittet den polnischen Staatspräsidenten um Begnadigung

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Ein junger Bewohner von Slupsk in Nordpolen, der seit zwei Jahren polizeilich gesucht wird, mailte aus seinem Versteck an den Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski. Obwohl längst rechtskräftig verurteilt, weigert er sich, hinter Gitter zu gehen und seine Tat einzubüßen. Seine letzte Hoffnung ist die Gnade von ganz oben.

Agenturberichten zufolge wurde der junge Pole 1997 zu 3,5 Jahren Freiheitsentzug dafür verurteilt, dass er seinen Schuldirektor überfallen hatte. Das Urteil wurde aber nicht sofort vollstreckt: Der junge Mann habe geheiratet, zusammen mit seiner Frau ihr Kind aufgezogen und in Warschau studiert. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Eines Tages kam die Vorladung und der Strafvollzug sollte nun beginnen. Doch der junge Mann meldete sich in der JVA nicht, sondern verschwand. Trotz eines Steckbriefes wurde er bis heute nicht gefunden.

Interessant ist dabei die Rechtslage. Polens Staatspräsident kann, laut Verfassung, jeden Bürger begnadigen. Wie neulich aus seiner Kanzlei verlautete, spiele die Form des Antrags keine Rolle. Obwohl also Polens Gesetze keinerlei juristische Aktivitäten via Internet als verbindlich anerkennen, wird das Gesuch genauso bearbeitet wie alle anderen. Das bedeutet, es wird zuerst an den Generalstaatsanwalt und von dort aus an das zuständige Gericht weitergeleitet. Das Gericht urteilt dann über den Fall und schickt seine Meinung an den Präsidenten zurück. Dieser kann dann aber völlig frei entscheiden, ob er dem Gesuch stattgeben oder es ablehnen wird. Genauso wie die elektronische Form der Bitte spielt auch keine Rolle, dass sich der Absender auf der Flucht befindet.

Was Kwasniewski machen wird, lässt sich wohl kaum voraussagen. Auf jeden Fall ist der Augenblick nicht gerade günstig für Gnadengesuche. Erstens, weil sich Polens Gesellschaft stets von Verbrechern bedroht fühlt und immer wieder von erschreckenden Kriminalberichten erschüttert wird. Zweitens, weil die letzte, in Polen sehr bekannte Begnadigung Kwasniewskis soeben mit einem Flop endete. Ein Anführer der "Solidarnosc" von individuellen Bauern, der vom Präsidenten "wegen schwerer Krankheit" aus dem Gefängnis in die Freiheit geschickt worden war, wurde soeben in Rzeszow festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, er wollte, stark betrunken, in ein Hotelrestaurant, und als ihn die Security nicht hereingelassen hat, soll er sie mit einer Pistole (höchstwahrscheinlich mit einer Schreckschusswaffe) bedroht haben.

Obwohl die rechtskonservative Regierung von Jerzy Buzek immer wieder "Ungenügend" in allen Umfragen bekommt, hat sie einen einzigen Minister, der als populär und akzeptiert gilt. Es ist Lech Kaczynski, der seit kurzem amtierende Justizminister, der immer wieder härtere Strafen für Verbrecher jeder Art fordert, manchmal sogar mit Erfolg. Gnade für den jungen Rowdy wäre wohl also kein Schritt, der Kwasniewski mehr Popularität bringen würde. Doch Polens Präsident hat nichts mehr zu verlieren, und auch nichts mehr zu gewinnen. Er hat sein Amt bereits zum zweiten Mal inne, ein drittes Mal darf es, laut Verfassung, nicht geben.