Empirisch geerdete Wirtschaftswissenschaft

fMRT-Gehirnscan. Je gelber ein Areal ist, desto mehr passiert dort gerade. Bild: M.R.W.HH. Lizenz: Public Domain.

Birger Priddat über Neuroökonomie

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In einem Aufruf für eine Plurale Ökonomik fordern Volkswirtschaftsstudenten aus 19 Ländern ein Ende der Alleinherrschaft der neoklassischen Theorie. Die Bestandsaufnahme wirkt, als wäre sie vor 15 Jahren verfasst worden. Seitdem hat sich in den Wirtschaftswissenschaften nämlich einiges getan - und die in dem Pamphlet als Alternativen genannten "post-keynesianischen", "ökologischen" oder "feministischen" Traditionen wirken heute ähnlich unzeitgemäß wie die angegriffene Neoklassik. Die interessanteste Entwicklung gibt es seit dem Ende der 1990er Jahre an der Schnittstelle zu den Neurowissenschaften. Telepolis unterhielt sich dazu mit Professor Birger Priddat, dem Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Witten/Herdecke.

Herr Professor Priddat - in welchen Bereichen konnte die Neuroökonomie das Modell vom homo oeconomicus mittlerweile korrigieren?

Birger Priddat: In zwei Bereichen: Erstens gibt es eine neue Konstellation im Verhältnis von individuellem Nutzenegoismus und Fairness gegenüber anderen. Und zweitens im Verhältnis von kognitivem und affektiv-emotionalem Verhalten.

Was hat man zum Nutzenegoismus und zur Fairness konkret herausgefunden?

Birger Priddat: Die klassischen Annahmen, dass Akteure individuell rational entscheiden, erwies sich als fragwürdig, weil man sie im Kontext mit anderen Formen der Verteilungsgerechtigkeit sehen muss. Die Individuen denken sozialer als die ökonomischen Verhaltensannahmen behaupteten. Sie wollen nicht als asozial auffallen.

Daraus folgen Sanktinonierungsintentionen gegen free rider. Wir haben es mit Formen des public good zu tun. Man kann es auch so sagen: Die Akteure interpretieren die Entscheidungssituation über informelle Institutionen, in denen sie sich und andere eingebunden wissen. Das gilt aber eher nur für Situationen, in denen der Vorteil des Einzelnen den Nachteil für andere bedeutet.

Wie sahen die Experimente aus, mit denen man das herausgefunden hat?

Birger Priddat: Wie immer in der Neuroscience: Man misst die Sauerstoffverteilung im Gehirn, um so zu sehen, welche Partien beim Entscheidungsvorgang aktiviert sind. Wenn sich dann zeigt, dass das limbische System beteiligt ist, schließt man auf emotionale (beziehungsweise sozial emphatische) Motive. Das 'Aufleuchten‘ des limbischen Systems (und anderer Teile außerhalb des Neocortex) wird als Grenzziehung zu einem rein kognitiven rationalen Wählen interpretiert.

Und was hat man zum Verhältnis von kognitivem und affektiv-emotionalem Verhalten konkret herausgefunden?

Birger Priddat: Da gibt es viele Ergebnisse, die hier nicht alle aufzählbar sind. Die neue Erkenntnis macht allerdings den klassischen Rational-Choice-Konzepten Probleme. Anscheinend gibt es keine rein kognitiven Prozesse, sondern sie sind alle - mehr oder minder - emotional gekoppelt. Man kann sagen, dass pure rationality (reine Kognitivität) selber eine Stimmung ist - das heißt eine bestimmte emotionale Gestimmtheit benötigt.

Gewöhnlich untersucht man jetzt die emotionalen Bedingungen des Entscheidens. Das hat eminente Bedeutung für alle Konzepte, die davon ausgehen, dass alle Akteure wechselseitig erwarten können, dass sich alle rational verhalten. Solche Annahmen lassen sich nicht mehr umstandslos machen, weil es bedeuten würde, dass sich alle in derselben Stimmung befinden müssten. Die Stimmungen der Akteure sind aber kontetxbedingt verschieden.

Hatten die neuen empirischen Grundlagen Folgen auf die wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung?

Birger Priddat: Nur sehr bedingt. Nur in der neuen Branche, die sich behaviourial economics nennt. Manche Mikroökonomen beginnen, neue Konzepte auszuarbeiten. Aber im Prinzip sind die Ergebnisse eher störend, denn man kann keine eleganten Modelle mehr entwerfen, weil die Kognition/Affekt-Relationen empirisch different ausfallen - je nach Kontext, Situation und Stimmung.

Gibt es unter Ökonomen Widerstände, sich von althergebrachten Glaubenssätzen zu verabschieden?

Birger Priddat: Ja, natürlich. Wer in seine Theorie lange investiert hat, wird sie nicht leichterdings ändern. Theorien ändern sich deshalb erst über neue Ökonomengenerationen. Praktisch wirken sich die Neuerungen derzeit nur auf das Marketing und auf die behaviourial economics aus.

Übernehmen Professoren Erkenntnisse aus der Neuroökonomie schneller als Unternehmen - oder eher langsamer - zum Beispiel beim Neuromarketing?

Birger Priddat: Etwas für die Beratung oder Praxis zu übernehmen (beziehungsweise sich zu Recht zu legen) ist lukrativ, weil neue Methoden, die die Kunden nicht kennen, besser als die alten verkauft werden können. Man hat hier keine methodischen Bedenken. In der Wissenschaft wird es so verlaufen: Neuroökonomie wird ein eigener Bereich, der seine eigenen Karrieren beschert. Aber eine Rückkopplung an den Mainstream wird es kaum geben. Erst wenn neue synthetische Theorien vorliegen werden, die viele Verhaltensweisen aufnehmen können, ohne auf die Norm des rational behaviour zurückgreifen zu müssen, werden fruchtbare Übernahmen geschehen.

Werden durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft auch alte Theorien wiederbelebt - zum Beispiel die von der Eingebundenheit des ökonomischen Handelns in die jeweilige Kultur, die der Wirtschaftsethnologe Karl Polanyi vertrat?

Birger Priddat: Nein. Dazu fehlt der Neuroökonomie ein Kulturbegriff. Sie untersucht nur das 'Innere der Entscheidung'. Aber die Forschung kann sich ausweiten, wenn sie Linguistik und Semantik in ihr Programm aufnimmt. In der 'sozialen Physik' werden behaviourial and cultural patterns untersucht, also Interaktionsmuster. Hier sehe ich Brücken.

Welche neurowissenschaftlichen Methoden werden derzeit wegen möglicher Gesundheitsschäden kritisiert - und was halten Sie davon?

Birger Priddat: Ich halte die Gesundheitseinwände für ungerechtfertigt. Berechtigtet ist eher die Kritik, dass die Single-Person-Untersuchung im Scanner alle atmosphärischen und sozialen Kontexte ausschaltet und die Antworten färbt (beziehungsweise zu kognitiv ausfallen lässt). Aber das ist inzwischen selber ein Thema der Forschung geworden.

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