Erziehung des Herzens

Wie Chiles Zukunft auch hätte verlaufen können: "Machuca"

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vom Chilenen Andrés Wood

Eine Coming-of-age-Geschichte aus Chile vor dem Hintergrund des Jahres 1973, jenes kurzen Sommers, der mit dem faschistischen Putsch des General Pinochet endete. "Machuca" vom Chilenen Andrés Wood: Ein Film voller wunderbarer Momente, zugleich voller Melancholie. Kino als Lektion der leisen Töne, elegant erzählt, mit hervorragenden Darstellern. Das Portrait eines instabilen Glücks, einer nervösen Welt im Übergang. Andrés Woods für den Auslands-Oscar nominierter Film zeigt zugleich, wie Klassenkonflikte und politische Kämpfe sich anfühlen.

"No a la guerra civil!", nein zum Bürgerkrieg, steht auf einer Mauer, an der Gonzalo täglich mit dem Schulbus vorbei fährt. Man wird die Aufschrift im Laufe dieses Films noch zweimal sehen. Einmal ist nur das Wort "Nein" durchgestrichen, was dem Satz nun den Sinn "Auf zum Bürgerkrieg!" gibt. Beim zweiten Mal, am Ende, ist der ganze Schriftzug übermalt, und scheint doch immer noch durch die frische Farbe hindurch. Die Entwicklung dieser Mauerinschrift ist nur ein Symbol für die Entwicklung in Chile im Jahr 1973, als die sozialen Reformen des Präsidenten Salvador Allende das Land spalten, und sich die Lage, unterstützt vom interessierten Ausland, immer mehr zuspitzt. Am Ende steht der von der CIA aktiv unterstützte faschistische Militärputsch des General Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung und das verlogene, bleierne Schweigen unter der folgenden 17jährigen Diktatur. Der chilenische Film "Machuca" erzählt diese Geschichte - präzis, aber nie verengt in seinem Focus, ohne Anbiederungen - in Form einer ungleichen Freundschaft. Der Junge aus der Oberschicht und der Junge aus dem Slum zeigen, wie Chiles Zukunft auch hätte verlaufen können.

"Verstörend und grausam … bereichernd und wunderbar"

Eine private Geschichte. Der 11jährige Gonzalo (Matías Quer), geht in ein englischsprachiges Jungen-Gymnasium. Man trägt Schuluniform, doch die katholischen Patres sind sozial engagiert und längst nicht so konservativ, wie das Umfeld, wie die Elternhäuser der meisten Jungen. Es sind mehr oder weniger bürgerliche, wohlhabende und in jeder Hinsicht geschützte Verhältnisse, aus denen sie stammen. Gonzalo ist kein Außenseiter, aber auch nicht so forsch und rauflustig wie viele seiner Klassenkameraden, eher passiv. Man glaubt schon früh eine gewisse Distanz zu bemerken, zu sehen, dass er ein wenig sensibler ist, nachdenklicher. Vielleicht liegt das an den Verhältnissen, die in dieser Familie aus dem oberen Mittelstand herrschen. Der Vater ist oft lange im Ausland. Die Mutter geht fremd und interessiert sich mehr für neue Kleider, als für ihre Kinder. Gonzalo sieht all das schweigend, nimmt es so selbstverständlich, wie die Tatsache, dass ihm das Dienstmädchen zuhause täglich frische Kleidung hinlegt. Er ist ein Beobachter. Und durch seine Augen sehen wir, was nun passiert.

Eines Tages kommen neue Schüler in die Klasse. Sie tragen keine Uniform, sondern angerissene Pullover und ungebügelte Hemden. Und sie sehen anders aus, einige von ihnen sind unübersehbar indianischer Herkunft. Sie stammen aus den Slums vor der Stadt, und erst ein Stipendium der sozialistischen Regierung hat es ihnen ermöglicht, überhaupt die teure Privatschule besuchen zu können. Einer von ihnen heißt Machuca.

Während andere Schüler mit Anfeindungen reagieren, sich in ihrem oft ganz unbewussten Ausschließungsverhalten als folgsame Kinder ihrer Eltern entpuppen, freunden Gonzalo und Machuca sich an. Durch Machuca lernt Gonzalo die andere Seite von Santiago kennen: ein Leben in elenden Hütten aus Holz und Wellblech, geprägt von täglicher Not. "Es kamen zwei unterschiedliche Welten zusammen, die in der chilenischen Geschichte bis dahin getrennt voneinander existiert haben.", schildert Regisseur Andres Wood seine Erinnerung an die Regierungszeit Allendes,

Es waren wundervolle Erfahrungen - verstörend und grausam, aber ebenso bereichernd und wunderbar. Die drei Jahre unter Allende haben uns geprägt, egal ob aus armen oder reichen Familien.

Plötzlich bekommt alles konkrete Gestalt: Die Spaltung zwischen Liberalen und Reaktionären, der Abgrund zwischen Arm und Reich. Und es bekommt einen anderen Klang, wenn man Machucas Mutter später klagen hört: "Wann ändert sich endlich was?", verklärt der Regisseur diese Armen genauso wenig, wie er das Bürgertum denunziert. Er zeigt Machucas Vater ungeschönt als Alkoholiker, aus dessen Mund trotzdem manchmal klare Einsichten kommen. Umgekehrt lässt er am Verhalten von Gonzalos Mutter auch wenig Gutes, und macht trotzdem klar, dass es eher aus Naivität kommt, nicht aus Bosheit.

Glänzend vermittelt "Machuca" das private, jeweils eng umgrenzte Umfeld der Jungen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Sicht des Films ist kaum die eines eindeutigen politischen Statements - auch wenn fast jeder Moment eine politische Bedeutung hat, für etwas steht, und die Perspektive des Regisseurs jederzeit klar ist -, es ist die Sicht von elfjährigen auf die Welt der Erwachsenen, die ihnen fremd und unverständlich vorkommt, faszinierend irgendwie, aber eigentlich ganz fern. Im Zentrum des Films steht die Erfahrung der Ohnmacht von Kindern, die der Welt der Erwachsenen, ihrem merkwürdigen Treiben ziemlich hilflos ausgesetzt sind.

Abschied von der Kindheit

Indem sich Gonzalo von seiner Familie distanziert, die wohlbehüteten Räume der heimischen Villa mit Nachmittagen in den Slums vertauscht, ist "Machuca" auch die Geschichte einer Entfremdung. Die Freundschaft mit Machuca wird für Gonzalo zunächst einmal zum Entdecken einer anderen Lebensform, einer Gegenwelt. Der Film bewegt sich hier in den klassischen Bahnen des Coming-of-Age-Dramas, in dem eine Freundschaft zwischen Ungleichen zum Katalysator des Erwachsenwerdens wird.

Dazu gehört Silvana (Manuela Martelli), die ebenfalls in den Slums wohnt. Sie ist frech, furchtlos, provoziert die beiden Jungen nicht nur durch die Dosenmilchküsse, die sie mit ihnen austauscht. Das im Grunde keusche, dem Alter angemessene Hin und Her zwischen den Dreien, die unausgesprochene Eifersucht zwischen den Freunden um die Gunst Silvanas, lässt den Film stellenweise wie eine jugendliche Variante von "Jules et Jim" aussehen.

Nach der Schule helfen die drei Silvanas Vater, der sein Geld damit verdient, dass er Flaggen und Aufstecker bei den Demonstrationen pro und contra Allende verkauft. Diese Passagen gehören zu den Höhepunkten des Films, hier kristallisiert sich zugespitzt seine Polarität, wie die Überschreitung scheinbar eindeutiger Grenzen: Parallel setzt Wood die beiden Demonstrationen, erst hört man die Reaktionäre "Allende, Allende, la patria no se vende" brüllen, dann rufen dessen Anhänger "Allende, Allende, el pueblo te defende". Und als die ganze Straße zu hüpfen beginnt, die Menge wogt, da wird auch Gonzalo mitgerissen. Musik setzt ein und wir wissen, dass er gerade den endgültigen Abschied von der Kindheit vollzogen hat. Revolution, das spüren wir da, hat etwas mit Jugend, mit Pubertät, mit Sex zu tun, ist körperlich, sinnlich. Augenblicke reiner Sehnsucht. Und selten hat man im Kino zuletzt Szenen gesehen, die ähnlich wie diese der Forderung des Philosophen Hegel nahe kommen, Kunst müsse "die Ideen ästhetisch machen."

Zwischen Wohlhabenden und Armen kann es keine wirkliche Freundschaft geben

Wood verzichtet auf oberflächliche politische oder historische Lektionen. Er will nichts beweisen, sondern vertraut darauf, dass die Dinge für sich selbst sprechen. Darum guckt er genau hin, zeigt, wie die Klassenkonflikte und politische Kämpfe aussehen und sich anfühlen. Dazu gehört auch, zu zeigen, dass Klassenzugehörigkeit etwas mit Aussehen zu tun hat. Nicht nur in Chile sieht man es den Menschen an, woher sie kommen. Politik spiegelt sich im normalsten Leben, in den alltäglichsten Gesten der Leute. Nichts zeigt den inhärenten Faschismus größerer Teile des Bürgertums, die Basis für den folgenden Putsch deutlicher, als eine zweite spätere Demonstrationsszene, in der man die Oberklassenfrauen geschminkt und aufgetakelt, in Pariser Houte Cuture-Kleidern im Nobelwagen fahren sieht, mehr als Cheerleader, denn als politische Akteure, aber begleitet von den dummen Schlägern der Faschisten. Und wenn Gonzalos Vater, durchaus ein Liberaler, sagt: "Sozialismus ist gut für Chile, aber nicht für uns. Noch nicht.", dann kann man ihm das noch nicht einmal übel nehmen. Er hat aus seiner Sicht wahrscheinlich einfach recht - und diese gnadenlos sachlich-kühle Darstellung von Positionen, der Verzicht auf die heuchlerische Versöhnlichkeit, die im Plot sehr wohl angelegt, angesichts der Wirklichkeit aber verlogen ist, muss man Wood hoch anrechnen.

Wood leugnet auch nicht seine eigene Perspektive. Er selbst war 1973 acht Jahre alt, besuchte eine private Priesterschule, in seiner Klasse waren 15 Kinder aus den Slums. Insofern verarbeitet er hier eigene Erfahrungen, und teilt den Blick seiner Hauptfigur. So zeigt er, wo die Nähen zwischen Gonzalo und Machuca liegen: in der Schwärmerei für Silvana, für "Lone Ranger"-Comic-Hefte, in gemeinsamen Erfahrungen wie den Demonstrationen oder dem ersten Besäufnis auf einer Party. Doch die Nähe zwischen ihnen kann die Grundkonflikt, die völlig verschiedene soziale Ausgangslage nur überdecken, nie vergessen machen. Immer wieder taucht er schlaglichtartig auf. Und insofern ist der deutsche Titel "Machuca, mein Freund" beschönigend - zwischen Wohlhabenden und Armen kann es keine wirkliche Freundschaft geben. Jedenfalls nicht in Chile, nicht zu jener Zeit.

Am Ende wird sich diese Klassenschranke vollends wieder öffnen: Als Gonzalo nach dem Putsch in die Slums geht, um Machuca zu suchen, wird er von Soldaten bedroht, die dort mordend und plündernd ihres Wegs ziehen: "Schauen sie mich doch an…" schreit er den Soldaten an. Und der zuckt zurück, als er die amerikanischen Turnschuhe und den feinen Pullover sieht, die Gonzalo als Kind der Oberklasse kennzeichnen.

Die Ohnmacht des Einzelnen

Da ist die Spaltung wieder offen ausgebrochen. "Machuca" ist keineswegs ein versöhnlicher Film. Er benennt die Konflikte klar, zeigt, wer 1973 die Mörder waren und wer die Opfer, wessen "Ordnung" da mit dem faschistischen Putsch wieder hergestellt wurde. Die politischen Ereignisse erlebt man in Form einer Collage aus Gesprächen, aus Parolen in Wort und Schrift, aus Graffitis, aus Zeitungstexten und Fernsehschlagzeilen. Den Pinochet-Putsch und Allendes Selbstmord erlebt der Zuschauer gemeinsam mit Gonzalo am heimischen Fernsehschirm - ohne dass er sich gleich vorstellen kann, was das bedeutet. Zwar macht der Film die Ereignisse des September 1973 nicht einfacher, als sie waren, trotzdem bleibt er immer klar.

"Machuca", der in Chile zu einem großen Kassenerfolg wurde, schildert als einer der ersten chilenischen Filme jene Zeit, als Nachbarn zu Gegnern wurden, beschreibt einfühlsam das Zerbröckeln der chilenischen Gesellschaft - aus heutiger Sicht eine Allegorie auf Gesellschaftsstrukturen nicht nur in Chile. Er zeigt eine Gesellschaft, der der Mut zur Veränderung fehlt, in der größere und mächtigere Teile weder egalitär noch demokratisch zusammenleben wollen. Und er zeigt die Ohnmacht des Einzelnen.

Der Film denunziert niemanden, er kommentiert nur beiläufig, er verzichtet auf alle Betroffenheitsrhetorik, biedert sich bei niemandem an, vertraut stattdessen auf sein atmosphärisches Gespür, die sogar mitunter leises Pathos zulässt. So ist der Film nicht nur ein Musterbeispiel für politisches Filmemachen, und ein Schlag ins Gesicht all jener, die, wie etwa Hans Weingartner ("Die fetten Jahre sind vorbei") gern behaupten, das ein Film schon politisch sei, weil in ihm die Figuren ein paar wohlfeile Polit-Tiraden vom Stapel lassen, er ist auch ein Denkmal für die Zehntausenden, die von Pinochet ermordet wurden.

Vor allem aber ist "Machuca" ein Film über die Kindheit, ihre Wunder, wie ihre Schrecken. Der Blick des Kindes Gonzalo ist nicht unschuldig, sondern unerbittlich. Er weiß mehr, als er versteht. Vor allem spürt er am Ende zum ersten Mal, was es heißt, moralisch zu versagen, und dies nicht wieder gutmachen zu können.