Es ist nie zu spät, aber lange zu früh

Der Film als Kloster

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So einen Film hat man noch nicht gesehen. Es geht schon damit los, dass man nicht ganz sicher ist, ob man "Die Große Stille" eigentlich eine Dokumentation nennen soll. Genauso gut ist es auch eine philosophische Meditation. Ein Versuch. Dieser Film erklärt sich nicht. Wer aber hinguckt und hinhört, kann eine Menge erleben.

Von Friedrich Nietzsche stammt die Voraussage, dass im 20. Jahrhundert das Christentum an Kraft verlieren, das ungestillte religiöse Bedürfnis aber so stark wie noch nie werden würde. So tummelt sich hierzulande der religiöse Pluralismus, zwischen Ratzinger und Drewermann sitzt Küng, nicht zu reden von den Buddhisten, Scientologen und Esoterikern aller Couleur. Um die Weltflucht unserer Mitmenschen ist es also ambivalent bestellt. Moderne Menschen "sind Leute, die sich vor Offenbarungen in Sicherheit gebracht haben", wie es Peter Sloterdijk in seinem Essay "Weltfremdheit" schreibt, eine der Inspirationen für Regisseur Philip Gröning während der langen Montage dieses Films.

Ich glaube, das Karthäusertum ist zwar einerseits etwas Fremdes. Aber doch auch ein Erinnerungsurgrund, den wir alle in uns tragen. Ich glaube, wenn man es sieht, erkennt man es wieder, als etwas, das nicht so fremd ist. Das ist schon unsers. Europa kommt kulturell aus dem Kloster. Jede zweite Biermarke behauptet, sie käme aus dem Kloster - um mal damit zu beginnen.

Dogma im Kloster

Meditation, Einkehr, Schweigen sind nicht gerade en vogue im Kino von heute. Nun aber hat Philip Gröning einen Film gemacht, in dem die Ruhe und die Stille das zentrale Thema sind; ein Film, der Menschen dabei zusieht, wie sie versuchen sich Gott anzunähern. Eine ihrer Methoden ist es, möglichst wenig zu reden, möglichst viel allein zu sein.

Unser Bemühen und unsere Berufung bestehen vornehmlich darin, im Schweigen und in der Einsamkeit Gott zu finden.

heißt der Grundsatz der Kartäuser. So enthält diese Dokumentation - wenn es sich denn um eine handeln sollte - keine Interviews, keinen Off-Kommentar, keine Musik außer derjenigen, die die Mönche selber machen: schwere, weiche frühmittelalterliche, lateinisch gesungenen, gregorianische Choräle. Und künstliches Licht durfte er auch nicht benutzen. So hält sich "Die große Stille" de facto im Rahmen der Regeln der "Dogma 95"-Gruppe - sie sind die Mönche des Kinos.

Gröning wurde bekannt durch die beiden Filme "Die Terroristen" (1992) und "L'Amour, L'Argent, L'Amour" (2000), beides leider unterschätzte kleine Meisterwerke im deutschen Kino der letzten Jahre. Nichts in ihnen, außer ihrer Qualität, und dem Willen zur Konzentration führt zu "Die Große Stille". Hier erzählt Gröning in 164 Filmminuten vom Leben in der "Grande Chartreuse". So heißt das Gründungskloster des fast tausend Jahre alten Ordens der Karthäuser-Schweigemönche, das hoch oben in den französischen Alpen liegt - fern von der Erde, dem Himmel schon ziemlich nahe.

Die Vorgeschichte dieses Films ist schon für sich genommen ein Abenteuer. Denn noch nie hat ein Film vom Leben der Karthäuser erzählt. Man kann bei ihnen nicht für einen Besinnungsurlaub einziehen, man kann ihre Klöster nicht besichtigen, man kann sie kaum besuchen. Gröning gelang sein Vorhaben, weil er eine Tugend bewies, die unter Filmemachern heute eher ungewöhnlich ist, die einzige, die die Karthäuser überzeugte: Er hatte Geduld. Er ließ der Zeit Zeit. Vor 21 Jahren, der 1959 geborene Gröning arbeitete da an seinem ersten Film, fragte er den Orden, ob es möglich sei, einen Film über das Kloster zu drehen. Man sagte ihm ab. Aber er hielt den Kontakt zu den Karthäusern, und als spürten, dass er sich wirklich für sie interessiert, dass es ihm nicht um Sensationen ging, sondern darum, ihnen gerecht zu werden, sagten sie Mitte der 90er-Jahre irgendwann unerwartet zu. Schon dieser Beginn macht deutlich, welch spezielles Zeitgefühl die Mönche haben: es ist nie zu spät, aber lange zu früh. Eile ist nicht gottgefällig, aber das Vergessen wäre es auch nicht. Vor Gott sind 1000 Jahre wie ein Tag.

Film als Gottesdienst

So entstand ein Film unter den Bedingungen des Klosterlebens: Ganze sechs Monate dürfte Gröning bei ihnen wohnen - und ist damit vielleicht der einzige weltliche Besucher, dem ein solch tiefer Einblick in das Karthäuserleben vergönnt war. Gröning öffnet uns die Augen für die Fremdheit eines Klosters, das ja genauso genommen eine außerordentlich merkwürdige Einrichtung ist, und ein Leben, das die allermeisten sich nicht einmal für kurze Zeit vorstellen möchten, so anachronistisch und archaisch erscheint dieses Leben in Zellen, kleiner als die eines Gefängnisses.

Zugrunde liegt dem Film die Vorstellung, der Filmemacher müsse dabei sein, müsse selbst zum Mönch werden, um das Kloster zu verstehen. Der Film wirkt selbst wie ein lithurgischer Akt: Wiederholungen der Gleichförmigkeit, das Pochen auf Meditation - auch des Zuschauers. Der Kinobesuch wird zum Gottesdienst. Der Film soll "selbst Kloster werden" bemerkte der Regisseur, "Raum, nicht Erzählung." Aber was könnte das heißen?

Aus 120 Stunden Material drehte Gröning diesen Film. Er ist bemüht, Normalität zu zeigen, betont den Aspekt des Alltäglichen. Für Abläufe, Ordnungen und Strukturen interessiert er sich vergleichsweise wenig. Ein Apfel ist wichtiger und auch das kleine Chaos im strengen Leben. Es gibt keine Interviews, keinen Kommentar, keine untermalende Musik. Die Mönche reden tatsächlich nicht, obwohl der Ordnen kein absolutes Schweigegelübde kennt. Miteinander kommunizieren sie über kleine Texte auf Zetteln. Wie in der Schule, wenn der Lehrer verlangte, dass man ruhig sein solle. Und wenn sie, in größter Not einmal sprechen müssen, kann es ihnen passieren, dass sie kaum artikulieren können. Und dass sie plötzlich Latein reden… Die Jahreszeiten draußen in den hohen Alpen und immergleiche Rituale und täglich Verrichtungen grundieren den Rhythmus des Daseins. Für Abwechslung sorgt allenfalls manchmal ein Choral in stockfinsterer Nacht…

Formal gibt es drei große Eingriffe: Portrait-Bilder der Mönche gliedern den Film. Sie erinnern an frühbarocke Gemälde der Tenebristen. Die weite Gliederung geschieht durch Bibelzitate, weiß auf schwarzem Grund. Die dritte ist ein Wechsel des Materials, die den Film zwischen grobkörnigem Super-8 und hoch aufgelösten Digitalbildern rhythmisiert.

Katholisch wie Schlingensief"

So einen Film hat man noch nicht gesehen. So einen Film wird man so schnell nicht wiedersehen. Gröning ist ein filmisches Ereignis gelungen, eine Suche nach Sinn in mönchischer Askese bei der klar wird, dass auch das Filmemachen eine transzendente Komponente hat. Allerdings geht der Film, schon im Titel, auch mit der Tatsache seiner Außergewöhnlichkeit hausieren - und zwar doppelt: Die Stille ist groß, weil auch wir Zuschauer Gott näher kommen. Und weil wir etwas sehen, was wir sonst nicht sehen dürfen. Ein Geheimnis erfahren.

Man tut Gröning wohl nicht unrecht, wenn man ihm unterstellt, dass es hier auch um einen Gegenentwurf zur Hektik und zum Informationsrauschen unseres modernen Alltags geht. Gröning, der - das muss hier wohl angemerkt werden - kein modernitätsfeindlicher Mensch ist, der zum Beispiel auch gern Computerspiele spielt; sagt von sich selbst, er sei "katholisch aufgewachsen und erzogen, und bin auch noch in der Kirche drin."

Ich bin auf jeden Fall kulturell katholisch. So wie Schlingensief das auch ist. Ich bin auch definitiv nicht protestantisch. Ich kann Protestantismus nicht nachvollziehen. Entweder richtig - also katholisch - oder eben nicht. Das soll gar nicht bewerten, sondern hat damit zu tun, dass ja jeder aus einem kulturellen Raum kommt, irgendwo aufgewachsen ist. Das ist eben ein kultureller Raum. Ich glaube, einer der Gründe, warum ich diesen Film wirklich machen wollte, war: Ich wollte etwas herausfinden über diese eigene Herkunft. Ich hatte das Gefühl: Das, was ich da als Kind erlebt hatte, kann ja nicht der Kern dieser Religion sein. es kann ja gar nicht sein, dass es da immer nur um Schuld geht. Das muss ein Missverständnis sein. Ich bin total froh, dass ich diesen Film gemacht habe, denn jetzt kann ich sagen: Das ist auch ein Missverständnis. Christentum ist nicht so finster, gar nicht.

Er hätte diesen Film, fügt er hinzu, nicht über ein buddhistisches Kloster, oder über orthodoxe Mönche machen können. Aber auch nicht über die Trapisten, die Hardcore-Fraktion unter den Schweigemönchen. Sie schlafen auch in Massenschlafsälen - während die Karthäuser doch auch überraschende moderne Züge aufweisen. Sie benutzen sogar Computer.

Anstelle des Saunaraums eine Karthäuserzelle

Trotzdem ist das Kloster ein Ort jenseits der Welt, wie der Gott der negativen Theologie, nur auf der via negativa, der Verweigerung der Welt zugänglich. Die Berufung entrückt die Menschen dorthin. Vor der Zeit der Klöster zogen die frühchristlichen Mönchen zur ersehnten Erleuchtung in die Wüste, das gibt eine Ahnung, worum es dabei eigentlich geht. Moderne heißt nun Umorientierung dieser Wüstensehnsucht in die Science Fiction des geschichtsphilosophischen Entwurfs: Die Utopie des Jenseits und damit das wüstenhafte Negativ der Wirklichkeit wird verzeitlicht. Heute konstatiert man voller Genugtuung das Ende der Metaphysik. Doch in Zeiten der Krise, das kennt man schon, träumt sich Deutschland und sein Kino gern wieder in Sehnsuchtslandschaften und romantische Nicht-Orte wie Klöster weg. Auch Grönings Film könnte man so verstehen.

Am Schluß von allen Überlegungen: "Was ist der Mensch?" ist der Mensch natürlich ein Wesen, dass Bewusstsein hat. Und natürlich bedeutet dies, dass es einen Konflikt gibt, zwischen Gegenwärtigkeit und Bewusstsein. Und eine Balance zu finden zwischen dem, was absolute Gegenwart ist, und dem, was Bewusstsein ist, also notwendig gespalten, das ist sozusagen die Menschheitsaufgabe. Und die Mönche lösen das auf sehr harmonische Art - die aber natürlich nur Sinn ergibt, wenn man das Zentrum Gott als Zentrum anerkennt. Denn sich hier jetzt anstelle des Saunaraums eine Karthäuserzelle einzurichten, das ist natürlich komplett irrsinnig. Die Mönche würden niemals sagen, dass das komplett falsch ist, wenn wir hier mit Laptops leben und mit Flugzeugen fliegen. Aber der Grundgegensatz ist: Bin ich bereit, meine eigene Gegenwart anzunehmen, oder lasse ich sie mir wegspülen durch Überflutung.

Gott der Herr, das steht schon in der Bibel, in einer Stelle vom "Buch der Könige", die Gröning seinem Film voranstellt, zeigt sich nicht im Wind, und nicht im Erdbeben, und nicht im Feuer, sondern im Sausen.

Gröning versucht einen Vorstoß in den inneren Kern der Religion. Er versucht das Kommen lassen des Nichts und das Umschlagen in die Fülle zu zeigen. Gelänge das, müsste es zu einer anderen Wahrnehmung der Dinge führen.

Das vollständige Schweigen ist nicht mehr nur das tacere, sondern trifft sich wieder mit dem silere: die Stille der ganzen Natur. Das Verwehen des Menschengemachten in der Natur. Der Mensch wäre gleichsam ein Rauschen der Natur, eine Kako-Phonie. Doch immer dieselbe Aporie: Um diese Aporie auszusprechen, bedarf ich einer Vorlesung.

Roland Barthes

"Die Große Stille" ist ein Film über die Frage, was Religion und Religiosität heute bedeuten. Damit ist dies also mindestens so sehr wie zum modernen Leben auch ein Gegenentwurf zu den Ratzingers, Meissners, den Erleuchteten Bushs, zu den Weltjugendtagen dieser Erde und zu dem ganzen allzu bekannten und allzu modernen Religionskitsch und Esoterikschmarrn. Stattdessen mehr Stille eben. Anders gesagt: Einfach mal die Klappe halten!