Es lebe die vertikale Revolution!

Colson Whitehead unternimmt in "Die Fahrstuhlinspektorin" für den Fahrstuhl das, was Thomas Pynchon in "Die Versteigerung von Nr. 49" für das Postwesen geleistet hat

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Es gibt Erfindungen, die gehören so sehr zu unserem Alltag, dass wir ihren prägenden Einfluss nur in ganz seltenen Momenten wahrnehmen - meistens dann, wenn sie ihren Geist aufgeben. In einer Zeit immer schneller aufeinander folgender technischer Innovationswellen, wo das Handy vom Vorjahr einen schnell als rückständigen Nostalgiker aussehen lässt, braucht es den poetisch-verfremdenden Blick, um die Faszination von Alltagsobjekten zurück ins Bewusstsein zu holen. In seinem Debütroman "Die Fahrstuhlinspektorin" ("The Intuitionist"), der nun in deutscher Übersetzung vorliegt, unternimmt Colson Whitehead für den Fahrstuhl das, was Thomas Pynchon in "Die Versteigerung von Nr. 49" für das Postwesen geleistet hat: eine poetische Umschreibung der Moderne im Zeichen einer ihrer prägenden Erfindungen.

1852 entwickelte Elisha Graves Otis eine Vorrichtung für Aufzüge, die im Fall eines gerissenen Kabels den Fall des Lifts abbremste. Schon fünf Jahre später konnte Otis den ersten Passagierfahrstuhl in einem New Yorker Kaufhaus einweihen. Aus dieser Randnotiz der Technik-Geschichte wird in Whiteheads Roman die "erste vertikale Revolution" und damit der Gründungsakt einer in die Höhe strebenden, dynamisierten und modernen Welt.

Etwa ein Jahrhundert später prägen Wolkenkratzer und auf engstem Raum versammelte Gebäude das Bild der Metropolen. Es braucht nicht viel, um den Handlungsort von "Die Fahrstuhlinspektorin" als ein leicht verfremdetes New York zu erkennen, die vertikale Stadt schlechthin. Die Macht liegt in den Händen des Vorsitzenden der Fahrstuhl-Gilde, deren Mitglieder sich wiederum aus den Reihen der hoch angesehenen Fahrstuhlinspektions-Behörde zusammensetzen. Aus dieser Grund-Prämisse zaubert Whitehead den ebenso bizarren wie plausiblen Hintergrund für seinen Roman. Die Wahlen zum Vorsitzenden der Gilde stehen mal wieder vor der Tür, und hinter den Kulissen versucht eine Handvoll korrupter Fahrstuhl-Magnaten, die Oberhand zu gewinnen: Mobster und Medien-Mogule, die verschiedenen Fraktionen innerhalb der Gewerkschaft und die beiden multinationalen Lift-Imperien Arbo und United.

In dieser von undurchsichtigen Interessen und Korruption regierten Stadt, dem Ort so vieler Noir-Thriller, ist es eine schwarze Frau, die zwischen die Linien gerät. Lila Mae Watson ist die erste Schwarze überhaupt, die für die Fahrstuhlinspektions-Behörde arbeiten darf. In diesem von weißen Männern dominierten Machtzentrum ist sie eine extrem marginalisierte Figur. Sie ist außerdem eine "Intuitionistin", das heißt sie inspiziert Fahrstühle, indem sie sie erfühlt, in einem begrifflich nicht klar fassbaren Sinne mit ihnen eins wird und ihren Zustand spürt. Von den "Empiristen", die jede Schraube und jedes Rädchen eines Lifts einzeln untersuchen, werden die Intuitionisten als Voodoo-Inspektoren und Hexendoktoren beschimpft. Doch ihre Erfolgsquote liegt um 10% höher als die der Empiristen, und Lila Maes ist sogar die beste der Behörde. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ein von ihr inspizierter Lift 40 Stockwerke im freien Fall in die Tiefe rauscht.

Der Absturz beherrscht schon bald die Schlagzeilen der Stadt, und alle beteiligten Lager versuchen, ihn für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren. Vollkommen auf sich allein gestellt, macht sich Lila Mae daran, das Geheimnis zu lösen, und kommt schon bald einer mysteriösen Black Box auf die Spur, dem Entwurf eines Fahrstuhls, der den Zwängen der Schwerkraft und bisheriger Konstruktionshemmnisse enthoben ist und somit die zweite vertikale Revolution einleiten könnte. Er entstammt der Feder James Fultons, des genialen Begründers des Intuitionismus und Autors des Standardwerks "Theoretische Fahrstühle". Der Besitz der verschollenen Notizbücher Fultons würde nicht nur den endgültigen Durchbruch für die Intuitionisten bedeuten, was die Empiristen unbedingt verhindern wollen, sondern entweder Arbo oder United das absolute Marktmonopol verschaffen.

Auf der Oberfläche hat man es bei Whiteheads Roman also mit einem klassischen Noir-Krimi à la Chandler zu tun: Die Stadt ist ein Sumpf, keinem kann man vertrauen, alle jagen nach einem McGuffin, und im Mittelpunkt steht ein marginalisiertes Individuum, das einen moralischen Fixpunkt für den Leser bildet. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass wir es im Gegensatz zum coolen, weißen und männlichen Helden hier mit einer schwarzen Frau zu tun haben, die keinerlei Erfahrung mit den komplexen Regeln von Korruption und Macht hat. Ihre Perspektive, die zugleich von innen wie von außen kommt, gibt dem Genre-Roman mit fantastischen Elementen seine wichtigste Prägung, denn er entpuppt sich als sehr genaue und realistische Schilderung von Rassismus. Lila Maes Ausgrenzung innerhalb der Behörde, ihre Isolation im Institut für vertikalen Transport und der von allen Seiten unternommene Versuch, sie für Machtinteressen zu manipulieren und zu opfern, lassen unter dem fantastischen Überbau immer klarer eine realistische Schilderung immer noch herrschender Rassenverhältnisse sichtbar werden.

Colson Whiteheads große Kunst ist es, die vielfältigen Ebenen seines erstaunlichen Debüts über weite Strecken unter Kontrolle zu bringen und für einander nutzbar zu machen. Die detaillierten Schilderungen undurchschaubarer Behörden und für den Laien kryptischer Apparate erinnern durchaus an Kafka und Borges. Insbesondere Lila Maes Studienzeit im Institut für vertikalen Transport, wo sie Standardwerke wie die "Einführung in die Gegengewichte" und Fultons bahnbrechenden "Versuch eines Systems vertikalen Transports" liest und philosophischen Fragen wie der nach dem Phantom-Passagier nachgeht ("was geschieht, wenn ein Passagier einen Lift per Knopfdruck herbeiruft, sich dann aber eines anderen besinnt und die Treppe benutzt; was geschieht mit dem Fahrstuhl?") wirken absurd. Zugleich bergen sie aber immer genaue Beobachtungen über Lila Maes Isolation innerhalb des Instituts, bedingt durch ihre Hautfarbe. Wie auch Kafkas Gerichtsgebäude im "Prozess" sind die Behörden und Institute in Whiteheads Roman reale Machtzentren, mit klaren Ausgrenzungs- und Disziplinierungs-Mechanismen.

Nicht nur realistische und fantastische Elemente durchdringen einander in diesem Roman, im Fortlauf der Handlung tritt auch zunehmend eine metaphysische Ebene in den Vordergrund. Immer wieder sind kleine Auszüge aus den "Theoretischen Fahrstühlen" von Fulton zu lesen, die sich eher wie poetische, denn als technische Schriften lesen. Nicht von Gegengewichten und Treibscheiben ist hier die Rede, sondern vom "Fahrstuhl an sich", von der Idee eines perfekten Aufzugs und von einer Welt jenseits der Sichtbaren. Eher Prophet als Ingenieur, kündet Fulton im zweiten Band seines Hauptwerks von einem Lift, der die Menschen von ihren "erdgebückten Hütten" und undurchdringlichen Städten erlöst. Die Black Box entpuppt sich letztlich als ein utopisches Versprechen einer Gesellschaft, die empiristische Sachzwänge und die Tendenz, an der "Haut der Dinge" zu verhaften, hinter sich gelassen hat.

Die Metapher ist klar: Die Black Box ist mehr als ein Fahrstuhl, sie steht für eine Gesellschaft, in der nicht nach Hautfarben unterschieden wird. Intuitionismus Fultonscher Prägung steht also nicht nur für eine Fahrstuhlinspektions-Methode, sondern letzlich für die Transzendierung einer zugleich oberflächlichen und analytischen, d.h. Unterschiede produzierenden, Wahrnehmung der Welt, wie sich im Empirismus ausprägt. Zugleich steht er für eine neue afroamerikanische Identität, die eng mit Spiritualismus und Holismus verbunden ist, sich letzlich aber nicht auf so eindeutige Zuweisungen festlegen lässt. Als erste Schwarze der Behörde, als erfolgreichste Intuitionistin und detektivisch um ihr Überleben kämpfende Empiristin zugleich, als Frau zwischen allen Stühlen also ist Lila Mae Watson vielleicht schon die Verkörperung dieser neuen Identität.

Colson Whitehead sieht seinen Roman in einer Traditionslinie, die von der, weißen wie schwarzen, Literaturkritik bisher vernachlässigt wurde. In einem Interview nennt er Jean Toomer's "Cane" und die Romane von Ishmael Reed, Charles Wright und Clarence Majors als Beispiele für eine afroamerikanische Literatur, die sich weder empiristisch-realistischen Erzählweisen noch ausschließlich schwarzen Themen verpflichtet fühlt. Nach den realistischen Anfängen der Literatur der Schwarzen, die dem Bedürfnis entsprang, die nicht erzählte und verdrängte Wahrheit öffentlich zu machen, bildeten sich in den 60er Jahren zwei Richtungen heraus, die sich polemisch gegenüber standen. Während die Anhänger des Black Arts Movement schwarze Künstler auf einen bedingungslosen ästhetischen Kampf gegen die Kultur der Weißen verpflichten wollten, richteten sich Schriftsteller wie Ralph Ellison und James Baldwin in ihren Romanen auch an ein weißes Publikum. Whitehead zufolge hat er als schwarzer Schriftsteller in der heutigen Zeit mehr Freiheiten, da ihm viele Traditionslinien und Anknüpfungspunkte offen stehen, ohne dass er sich auf eine festlegen muss. "Die Fahrstuhlinspektorin" ist ein gelungenes Beispiel für die Überschreitung von ästhetischen Grenzlinien. Aus Kafka, Reed, Pynchon, Chandler, Ellison und dem "Amerikanischen Handbuch für die Inspektion von Aufzügen" hat Whitehead ein fremdes Parallel-Universum geschaffen, das uns doch verdammt bekannt vorkommt.

Colson Whitehead: "Die Fahrstuhlinspektorin", Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 39,80 DM