Europa - ein großer Natur- oder Geschichtspark?

Soll Europa zu einem Natur- oder zu einem Geschichtspark werden? Weder noch, aber diese Entscheidung wird gerade diskutiert. Paul Treanor plädiert für den Abriß historischer Stätten und schlägt vor, mit der Räumung von Stonehenge zu beginnen.

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Gegenwärtig ist es nicht unmöglich oder absurd, Europa zu einem einzigen Themenpark zu machen. Die ersten Nationalparks in den USA waren groß, aber sie befanden sich in abgelegenen und dünn bevölkerten Gegenden, während die Nationalparks und geschützten Landschaften Europas kleiner sind, aber jetzt ein immer größeres Territorium innerhalb der Nationalstaaten einnehmen. Die Menge und die Arten von geschützten Zonen nehmen bei gleichbleibender Fläche zu, und es gibt daher einen unausweichlichen Trend, daß sie alles bedecken.

Einige parkähnlich geplanten Gebiete waren sogar schon vor einer Genration oder länger groß. Die Grüngürtel Londons oder Moskaus erstrecken sich über 100 Kilometer. Die neuen Pufferzonen, Erholungsgebiete und nicht mehr landwirtschaftlich bestellten Landflächen der Europaplanung haben in den Benelux-Ländern, in Deutschland und in Europa 2000+, dem Protoplan der EU, bereits einen Umfang von annähernd 500 Kilometern.

Online-Informationen über archäologische Parks findet man beispielsweise hier:

  1. Archäologischer Park Cambodunum/Kempten
  2. Merida
  3. Parco Archeologico della Neapolis, Siracusa
  4. Fourvière Archeological Park, Lyon

Der jetzt aufgegebene Disney-Themenpark zum amerikanischen Bürgerkrieg in Virginia gibt einen Hinweis auf die Investitionssummen. Beim weniger stark historisch ausgerichteten Themenpark Huis ten Bosch in Japan läßt sich das auch sehen. Allerdings waren die Investitionen in nicht-historischen Themenparks immer hoch (Theme Park Research Site).

Räumliche Strukturen von Themenparks siedeln sich auf früheren Industriegebieten (Warner im Ruhrgebiet) oder Innenstadtbereichen (Disney in der 42nd Street) an. Geht man von der wachsenden Größe dieser Parks aus, dann werden auch die archäologischen und historischen Parks größer werden. Wahrscheinlich werden sie in 20 Jahren einen Umfang von 100 Kilometern besitzen.

Wenn diese Trends weiter wirken, dann werden sie dazu führen, daß Europa in 50 Jahren eine parkähnliche Gestalt haben wird. Dieser Trend zu Megapark-Strukturen ist für die Moderne grundlegend (vgl. An Urban Ethic of Europe). Die EU betreibt im Prinzip bereits für ganz Europa eine Landschafts- und Tourismuspolitik .

Wenn man einen großen Teil Europa als "historisches Erbe" definiert, dann schließt man Bereiche aus, die das nicht sind. Solche Zuweisungen beanspruchen ein Territorium. Das ist unabhängig vom Stellenwert der Archäologie oder des Erbes selbst, also ob es real ist oder nicht, ob es authentisch ist oder ein Pastiche darstellt. Wahrscheinlich werden derartige Ansprüche nicht durch computergraphische Rekonstruktionen wie beispielsweise die von Xanten ersetzt. Virtuelle Rekonstruktionen werden vermutlich nur den Druck erhöhen, sie wirklich zu bauen. Solche Projekte können etwa vom Virtual Museum of European Archaelogy ausgehen. Die gemalte Fassade, die man zur Werbung für die Wiederherstellung des Berliner Stadtschlosses benutzte, war auch eine virtuelle Realität. Virtualität nicht nur elektronisch und nicht nicht immer als Ersatz intendiert.

Natur oder Geschichte?

Dieser immer größere Ausmaße annehmende Trend zur Restauration bringt die Möglichkeit von Konflikten zwischen Themen mit sich., beispielsweise den Konflikt "Natur oder Geschichte", an dem das Virginia-Projekt von Disney gescheitert ist. Eine weitere Möglichkeit ist die Verschmelzung zu einem einzigen Park. Die Stadtpolitik in Europa ist bereits auf die Kombination Nachhaltigkeit-Erbe-Kultur ausgerichtet.

Über die Wiederherstellung von Landschaften bis hin zur planetaren Größenordnung gibt es bereits eine "Konvergenz"-Literatur. "Restaurationsökologie", die Wiederherstellung des geschichtlichen Erbes und der Landschaft, ist das Thema. Der behauptete Dualismus von Natur und Kultur oder Natur und Menschheit mag vielleicht nur vorübergehend sein. In der Stadtpolitik laufen jetzt "Nachhaltigkeit" und "Kultur" zusammen. Tourismusprojekte wie der European Culture Park verbinden in der EU bereits Natur und Kultur, Archäologie und zyklische Wege. Der Größenmaßstab der Projekte zur Wiederherstellung der Natur werden wahrscheinlich von archäologischen Projekten übernommen. Ein ausgeschilderter Fahrradweg für Touristen, die "Via Romana", ist 5500 Kilometer lang.

In Holland gibt es Pläne für die vollständige Umwandlung von großen urbanen Gebieten mit einer Fläche von 50 Quadratkilometern zu Naturparks. Besonders der World Fund for Natur/Wereld Natuurfonds (WNF) wünscht die Neugestaltung von Holland zu einem bevölkerten Naturpark mit einer Landschaft, wie es sie vor der Landwirtschaft gegeben hat.

Holland ein Naturpark? Natürlich können Archäologen das nicht durchgehen lassen. Die Archäologen Jan Kolen und David van Reybrouck griffen in De Volkskrant die WNF-Pläne an. Sie sagen, daß die "Natur" in Naturparks auf Kosten des jahrhundertealten kulturellen Erbes gefälscht werde.

Es ist eine Ironie, daß auf ehemaligen landwirtschaftlichen Gebieten neue Naturbereiche eingerichtet werden. Der Bauer muß den Freizeitmenschen weichen. Das erzeugt einen falschen Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Produktion und Erholung, Geschichte und Stagnation.

Kolen/van Reybrouck

Doch die Autoren haben selbst die Gegensätze erfunden. Es wird nichts abgebaut, sondern eine Politik der Natur- und Archäologieparks aufgebaut. Das ist ein einfacher Trick, eine Manipulation der Ethik. Wenn man behauptet, daß einer Perspektive ein "falscher Gegensatz" zugrundeliegt, kann deren Wert durch eine "Auflösung des Gegensatzes" hergeleitet werden. Der Trick geht so:

  1. Gegensätze müssen dekonstruiert werden;
  2. es gibt in Europa einen Gegensatz zwischen Christentum und Demokratie;
  3. eine christliche Demokratie überwindet den Gegensatz;
  4. daher wähle man Helmut Kohl.

Diese Diskussion geht daher in Wirklichkeit um den Gestaltungsprozeß der nächsten Generation von Megaparks, die sowohl die Natur als auch das kulturelle Erbe feiern.

Der Trend zur Verschmelzung

Es gibt, um das Vorhergehende zusammenfassen, einen Trend zu einem archäologischen Raum Europas, der durch die Konvergenz von Natur-, Themen- und Geschichtsparks, die Größenzunahme solcher Natur- und Geschichtsparks, die Integration von urbanen Bereichen in solche parkähnlichen Strukturen und höhere Investitionen in solche parkähnliche Strukturen vorangetrieben wird.

Dieser Trend beruht auf einer impliziten territorialen Definition, nämlich daß jedes Territorium wenigstens teilweise der Weiterführung der Vergangenheit dienen soll. Dieser Anspruch kann wiederum in die Werte der konservativen Tradition in Europa aufgenommen werden. Die Archäologie, die sich mit materiellen Hinterlassenschaften der menschlichen Vergangenheit beschäftigt, ist für diesen räumlichen Trend die legitimierende akademische Disziplin.

Selbst wenn die Metapher des Erbes nicht verwendet wird, weisen die Archäologie und mit ihr verbundene Wissenschaften den Artefakten und vielen Materialien und nicht-materiellen Dingen einen aus der Vergangenheit abgeleiteten Wert zu. Die Europäische Kommission definiert das europäische Kulturerbe folgendermaßen: "Geschichte und Architektur (städtische Denkmäler und Bauten, archäologische, militärische, religiöse und maritime Stätten usw.), Industrie und Technologie (Textilindustrie, Eisen- und Stahlindustrie usw.), Handwerk (Kunsthandwerk, herkömmliche Handwerksberufe, Know-How usw.) oder Musik."

Aus der Vergangenheit kann jedoch kein Wert der Vergangenheit abgeleitet werden, egal ob sie real, ein Simulakrum oder ein Pastiche ist, ob sie eine Bedeutung oder eine umstrittene Bedeutung besitzt, ob sie vielfältig oder fragmentiert ist, ob sie das Andere der Gegenwart oder das Selbe ist. Die Versuche, ganz Europa als Erbe zu rekonstruieren, sind monopolistisch. Eine Erbe schließt alles aus, was kein Erbe ist. Ein archäologisch strukturiertes Europa soll die Vergangenheit fortsetzen und schließt dabei die Innovation aus, besonders dann, wenn Innovation irgendeine Form der territorialen Abgrenzung benötigt. Eine Zone zur Bewahrung des Erbes ist kein Ort für Innovation. Man muß nur daran denken, wie sich Menschen im Museum verhalten, um eine Vorstellung von einer Gesellschaft in einem großen musealen Gebiet zu bekommen.

Das Auslöschen des Erbes

Um dieses Monopol zu beenden, sollten archäologische Stätten und Dinge zerstört werden. Es gibt bereits Dringlichkeitslisten für die Räumung des geschichtlichen Erbes. In der Tradition der Nationalstaaten besitzen die meisten europäischen Länder eine amtliche Liste des nationalen Erbes, das meist in der UNESCO-Liste des Welterbes enthalten ist. Diese Listen können von lokalen oder regionalen Listen ergänzt werden. Online existieren Beispiele für Baden-Württemberg, Österreich, Vigo, die Region Grampia

Ein Räumungsprogramm aufgrund solcher Listen würde ein Programm zur Räumung von zentralen Orten sein, denn eine vollständige Räumung aller Hinterlassenschaften wäre unmöglich. Stonehenge wäre ein geeigneter Ort, um mit einem solchen Programm zu beginnen, weil es ein überall in Europa bekanntes Monument ist. Das Ziel sollte darin bestehen, die Region von allen gut sichtbaren prähistorischen Monumenten zu reinigen. Für Stonehenge würde das bedeuten: die militärische Absicherung des Gebietes gegen britische Nationalisten, das Zerstören der Megalithen, Entfernung und Durchsieben des Bodens, Plattwalzen aller Gegenstände, schließlich die Vermischung des Bodens und der Überbleibsel und schließlich Auffüllung zu einer ebenen Fläche.

All das wird nicht verhindern, daß Stonehenge zu einem Pilgerort für Nationalisten wird, aber ein Ort selbst kann nicht zerstört werden. Es macht daher keinen Sinn, das Material vom Ort zu entfernen. Natürlich ist solch ein Programm im real existierenden Europa irreal. Es gibt hier keine postmoderne Fragmentierung, keinen vielstimmigen Diskurs, keine Ende der Ideologie und keine annehmbaren virtuellen Ersatz. Hingegen gibt es eine große politische Front, um das geschichtliche Erbe zu verteidigen:
- die staatlichen Organe des britischen Nationalstaates: die Queen, das Parlament, die Rechtssprechung, die Polizei und Armee;
- die Nation Britannien, die Nation England, die Menschen von Großbritannien, andere Nationalstaaten, die UN, die UNESCO, andere Nationen und staatenlose Völker;
- Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler, Planer, Wissenschaftsakademien;
- die Aristokratie und ganz allgemein die Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse;
- die Kirchen, den Papst, andere Religionsführer;
- Bürgerorganisationen, kommunale Gruppen, Frauen- und Jugendgruppen.

Das alles ist nicht übertrieben. Man kann sich nur schwer eine Gruppe in Großbritannien vorstellen, die einer Vernichtung von Stonehenge zustimmen würde. (Vielleicht betrachten es einige protestantische oder moslemische Gruppen als einen heidnischen Tempel oder als satanische Kultstätte.) Großbritannien schützt Stonehenge.

Die Vergangenheit ist bereits eng mit der Nation und der Gesellschaft in Nationalstaaten verbunden. In diesem Kontext weicht der Trend zu einem archäologisch strukturiertem Europa nicht von der grundlegenden Voraussetzung eines Europa der Nationen ab. Nationen benötigen ein Erbe, Nationen müssen eine Vergangenheit besitzen. Daher ist es für ein Europa der Nationen logisch, daß Europa zu einem historischen Themenpark wird. Aber das ist weder gut noch richtig.

Es gibt zu einem Europa des geschichtlichen Erbes, zu einem Europa der Vergangenheit, keine bestimmte Alternative. Der Trend ist in sich falsch - nicht weil er eine Alternative ausschließt, sondern weil er alle Alternativen blockiert. Er blockiert andere mögliche Zukünfte Europas.

Aber es ist glücklicherweise noch nicht zu spät, die impliziten territorialen Ansprüche zu hinterfragen. Das ermöglicht es, über diese möglichen Zukünfte nachzudenken, anstatt die Zukunft Europas rigide als "ewiges Erbe" zu definieren.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer