Europas letzte Eurokrise?

Der mit der Pandemiebekämpfung einhergehende Wirtschaftseinbruch lässt die nationalen Widersprüche in Europa wieder aufbrechen - und er droht, die ohnehin erodierende Europäische Union vollends zu sprengen

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Wie es um Europa am Vorabend des nächsten großen Krisenschubs bestellt ist, machten Episoden deutlich, die sich vor rund einer Woche abspielten. Staatliche Wegelagerei, wie einstmals in der frühen Neuzeit üblich, scheint wieder im Aufwind: Polen und Tschechien ließen Atemschutzmasken und Beatmungsgeräte konfiszieren, die für Italien bestimmt waren.

Ähnlich agierte auch die Bundesrepublik, die ebenfalls eine Lieferung von 830.000 OP-Masken an der Grenze aufhielt, um nach Interventionen italienischer Diplomaten erklären zu müssen, dass das medizinische Gerät nicht mehr auffindbar sei. Mehr als 19 Millionen Schutzmasken sollen insgesamt von den lieben europäischen Nachbarn Italiens in den vergangenen Wochen blockiert worden sein. Der europäische Binnenmarkt, das Kernprojekt der EU, ist faktisch seit Ausbruch der Pandemie ausgehebelt, es dominieren dumpfer Nationalismus und bornierte Kleinstaaterei.

Wenn es schon bei Atemschutzmasken dermaßen übel um die in Sonntagsreden immer wieder gern bemühte europäische Solidarität bestellt ist, wie sieht es erst beim lieben Geld aus?

Die krisenbedingt zunehmenden Spannungen zwischen den Eurostaaten brachen schon am vergangenen Donnerstag voll auf, als es während eines europäischen Video-Gipfels zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kanzlerin Angela Merkel und den Regierungschefs der südlichen Eurostaaten - insbesondere Italiens und Spaniens - kam.

Die alten Frontverläufe der Eurokrise, bei der Berlin die südliche Peripherie des Währungsraumes zu einem absurden Austeritätsdiskurs nötigte, zeichnen sich abermals deutlich ab - zumal der ohnehin stotternde deutsch-französische Motor Europas endgültig zu zerfallen droht. Frankreichs Präsident Macron scheint eine führende Rolle bei der Formung einer gegen das maßgeblich von Schäuble im Gefolge der Eurokrise geformte "Deutsche Europa" einzunehmen.

"Corona-Bonds": Macron an der Seite Italiens

Macron hat sich öffentlich mehrmals klar an der Seite Italiens positioniert und von Berlin mehr europäische Solidarität in der gegenwärtigen Krise eingefordert, was im Kontrast zu den Versuchen der vergangenen Jahre steht, eine stabile Achse Berlin-Paris aufzubauen.

Im Vorfeld der "Videokonferenz" der europäischen Staatschefs unterschrieb Macron eine Erklärung von neun Eurostaaten, in der angesichts der dramatischen Wirtschaftseinbrüche die Einführung gemeinsamer europäischer Anleihen, sogenannter Corona-Bonds, gefordert wurde.

Es sind nicht nur die südlichen Euroländer, die nun die schon während der Eurokrise umkämpfte Idee von Eurobonds wiederbeleben. Neben Frankreich wurde der Appell auch von Italien, Spanien, Portugal, Belgien, Irland, Luxemburg, Griechenland und Slowenien unterschrieben. Während der hitzigen Konferenz am Donnerstag, die kurz vor dem Scheitern ohne Abschlusserklärung stand, soll der französische Staatschef gar vor dem Zerfall der EU gewarnt haben.

Während der Konferenz sollen vor allem die Regierungschefs Italiens und Spaniens die Einführung europäischer Anleihen mit Nachdruck gefordert haben. Diese Initiativen wurden von Merkel abermals abgeblockt. Die Bundeskanzlerin erteilte den Corona-Bonds eine klare Absage, wobei sie von Österreich und den Niederlanden unterstützt wurde.

Stattdessen verweist Berlin die besonders hart von der Pandemie betroffenen Länder auf den europäischen "Rettungsfonds" ESM, der rund 410 Milliarden Euro für Krisendarlehen zur Verfügung stellen könnte. Das Problem mit dem ESM besteht aber darin, dass es sich hierbei um ein maßgeblich von Berlin geformtes, neoliberales Instrument handelt, bei dem Kredite nur gegen "strenge Auflagen", wie es Zeit-Online formulierte, also nur bei Umsetzung von Austeritätsmaßnahmen vergeben werden. Merkel schlug somit Südeuropa letztendlich vor, in der gegenwärtigen, historisch beispiellosen Krise sich doch abermals auf Austerität einzulassen.

Die umkämpfte Konferenz vom Donnerstag endete mit einer Vertagung der entsprechenden Entscheidung. In zwei Wochen soll eine Arbeitsgruppe Vorschläge zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ausarbeiten, die "dem beispiellosen Charakter des Covid-19-Schocks Rechnung tragen soll, der alle unsere Länder trifft", so die Abschlusserklärung.

Die Einführung von Eurobonds - diesmal in der Gestalt von Corona-Bonds - wird von Berlin abgeblockt, weil sie die Zinslast der südlichen Peripherie der Eurozone bei der nun anstehenden, astronomische Kreditaufnahme substanziell absinken würde.

Die gute Bonität des Zentrums der Eurozone würde so auf deren Peripherie ausgeweitet. Zugleich würde dies aber die nun anstehende massive Kreditaufnahme des Bundes verteuern, der ja innerhalb des deutschen Krisenpaketes eine Neuverschuldung von rund 156 Milliarden Euro beschloss.

EZB - Europas Gelddruckmaschine

Der Spread, also der Zinsunterschied zwischen deutschen und südeuropäischen Anleihen, der in den vergangenen Tagen bereits kurzzeitig wieder ein krasses Krisenniveau von bis zu zwei Prozent erreichte, würde sich so nivellieren. Dies wird in Berlin heftig abgelehnt und als eine "Vergemeinschaftung" der Schulden interpretiert.

Bislang trägt die Krisenpolitik der Bundesregierung klar nationale Züge, etwa bei dem rund 600 Milliarden Euro umfassenden Rettungsfonds für die deutsche Industrie, der vor allem dazu dienen soll, den Aufkauf strategischer Betriebe durch ausländisches Kapital zu verhindern.

Da sich Berlin abermals gegen Eurobonds stemmt, bleibt nur eine Institution übrig, die den maroden, von nationalen Zentrifugalkräften zerrütteten Euroladen noch zusammenhalten kann: die EZB, die mittels einer massiven Ausweitung von Anleiheaufkäufen die rasch ansteigende Zinslast in der südlichen Peripherie der Eurozone absenken musste.

Die französische Chefin der EZB, Christine Lagarde, legte Mitte März ein Pandemie-Notfall-Kaufprogramm (PEPP) in Höhe von 750 Milliarden Euro auf, um die bereits steigende Zinslast der südlichen Peripherie der Eurozone zu senken und eine Eskalation der angespannten Lage an den Finanzmärkten zu verhindern.

Bis Ende 2020 wird die Europäische Zentralbank allmonatlich Anleihen im Wert von rund 100 Milliarden Euro aufkaufen, um so - ganz nach dem Vorbild der US-Notenbank Fed - den Märkten zusätzliche Liquidität zuzuführen.

Hierbei handelt es sich letztendlich um die Folge der entsprechenden Machtkonstellation in Europa, wie sie ja auch die Eurokrise kennzeichnete. Die deutsche Blockadehaltung bei direkten Finanzhilfen oder Eurobonds für die südliche Peripherie wird durch die Geldflut der EZB kompensiert, die die Zinslast dieser Krisenländer niedrig hält.

Über den Umweg der Finanzmärkte betreibt die EZB somit de facto - laut EU-Recht verbotene - Staatsfinanzierung, um eine Eskalation der Krise zu verhindern. Berlin kann so behaupten, keine "Vergemeinschaftung" der Schulden zu erlauben, während die Gelddruckmaschinen in Frankfurt heißlaufen müssen, um diese deutsche Stammtischillusion aufrechtzuerhalten.

Die EZB hat diese Aufkäufe von Staatsanleihen in der Eurokrise bereits fleißig praktiziert - sonst gäbe es den europäischen Währungsraum längst nicht mehr. Die europäischen Währungshüter halten beispielsweise italienische Anleihen im Wert von 370 Milliarden Euro, was in etwa 18 Prozent des Gesamtvolumens italienischer Bonds entspricht.

Ein weiterer Faktor, der die Krisenbekämpfung in Europas südlicher Peripherie erleichtert, besteht aus dem Umstand, dass diesmal auch das Zentrum betroffen ist. Mit der Neuverschuldung Berlins musste auch die schäublerische Schuldenbremse ausgesetzt werden, was auch eine Aussetzung des Europäischen Stabilitätspaktes ermöglichte, sodass nun die Eurostaaten mittels verstärkter Kreditaufnahme den wirtschaftlichen Fallout der Pandemie angehen könnten - falls die EZB auch künftig genug frisch gedrucktes Geld in die Märkte pumpt, um ihre Zinsen niedrig zu halten.

Spanien etwa will den drohenden Wirtschaftskollaps mit einem Hilfspaket von 200 Milliarden entgegenwirken - viel Arbeit für die EZB, um die Zinsen entsprechend niedrig zu halten.