Falludscha-Offensive: Massaker befürchtet

Selbst der einflussreiche schiitische Geistliche al-Sistani fordert Zurückhaltung, in der Stadt sollen sich noch bis zu 100.000 Menschen aufhalten

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Selbst bei besonnenen und staatstragenden schiitischen Geistlichen wie dem einflussreichen al-Sistani werden Ängste laut, dass die vom irakischen Militär und schiitischen Milizen eingeleitete Offensive zur Befreiung von Falludscha aus den Händen des Islamischen Staats das Gegenteil des Intendierten bewirken könnte.

Al-Sistani forderte die von Schiiten dominierte Regierung in Bagdad und die Schiitenmilizen, die in der Stadt befindliche Zivilbevölkerung zu schonen und keine unnötigen Schäden zu verursachen. Offenbar ruft er aber nur zur Zurückhaltung auf, aber fordert nicht den Rückzug der schiitischen Milizen. Die berechtigte Angst besteht, dass durch eine brutale Eroberung der Stadt der Rückhalt des IS seitens der sunnitischen Bevölkerung wieder anwachsen könnte. Auch die Vereinten Nationen befürchten ein Massaker.

Der irakische Verteidigungsminister besuchte gestern die Truppen vor Falludscha.

Das Pentagon unterstützt die Offensive und meldet in ähnlichen Listen, wie dies auch der IS macht, was durch Luftangriffe in den letzten Tagen alles zerstört wurde, zur Propaganda auch auf arabisch. Gezeigt wird etwa ein Video, das angeblich beweisen soll, dass bei Falludscha eine "taktische Einheit" des IS, was immer auch das sein soll, zerstört wurde.

OIR-Bild von der angeblichen Zerstörung einer "taktischen Einheit" in der Nähe von Falludscha.

Während bei den vorherigen Eroberungen von Tikrit und Ramadi mit dem Einsatz von schweren Waffen und heftigen Luftbombardements vorgegangen werden konnte, weil sich dort kaum noch Menschen aufhielten, sollen in Falludscha noch zwischen 50.000 und 100.000 Menschen leben. Gäbe es dort viele Tote unter den Zivilisten, würden die irakischen Sunniten und deren Unterstützer im Ausland eher eine Racheaktion und die Zivilisten als Opfer sehen, was den Konflikt zwischen den schiitischen und sunnitischen Bevölkerungsteilen weiter schüren würde. Der IS versucht sowieso, mit dauernden Anschlägen in Bagdad gegen sunnitische Viertel diesen Konflikt zu verstärken. Die Terrorgruppe hatte sich auch deswegen ausbreiten können, weil die nach dem Sturz Husseins stets schiitisch dominierte Regierung die sunnitische Bevölkerung unterdrückte und diskriminierte.

Das irakische Militär demonstriert den Abschuss einzelner Fahrzeuge in Falludscha.

Seit Tagen wird die Bevölkerung aufgefordert, die Stadt zu verlassen, um wie gewohnt dann den IS mit schwerem Beschuss und großen Zerstörungen vertreiben zu können. Die irakische Luftwaffe hat Flugblätter über der Stadt abgeworfen. Die Menschen sollen auf eingerichteten Korridoren mit weißen Fahnen aus der Stadt kommen. Aber die weißen Fahnen sind für die IS-Scharfschützen ebenfalls ein weit sichtbares Zeichen. Bislang trauen sich offenbar nur wenige Menschen, aus der Stadt zu fliehen, nach den Vereinten Nationen waren es in den vergangenen Tagen gerade einmal 80 Familien.

Dass sich in der Stadt, die schon während der US-Besatzung eine Hochburg des sunnitischen Islamismus und mittels einer mörderischen Schlacht "befreit" wurde, noch so viele Menschen aufhalten, verdankt sich nicht nur dem IS, der versucht, die Menschen mit bewährten grausamen Mitteln von der Flucht abzuhalten. Schuld ist auch die Strategie der irakischen Führung, die seit fast einem halben Jahr zur Vorbereitung der Offensive die Stadt weitgehend abgeschnürt und verhindert hat, dass Hilfslieferungen in sie gelangen. Was in Syrien, wenn dies die Assad-Truppen machen, heftige Kritik hervorgerufen hat, wurde in Falludscha lange mit Schweigen übergangen, auch wenn dort bereits Menschen verhungerten und die medizinische Versorgung zusammenbrach. Das fördert nicht unbedingt die Zustimmung der Eingeschlossenen. Zu denen gehören auch Menschen aus dem umgebenden Land, das von schiitischen Milizen eingenommen wurde und die vor diesen geflohen sind.

Das irakische Militär demonstriert den Abschuss einzelner Fahrzeuge in Falludscha.

Angeblich treiben die IS-Kämpfer die noch in der Stadt lebenden Bewohner im Zentrum zusammen, um sie kontrollieren zu können, aber auch um damit Artillerie- und Luftangriffe zu verhindern. Bislang scheinen die Kämpfe sich in den Außenbezirken abzuspielen. Man darf allerdings vermuten, dass sich viele IS-Kämpfer sowieso schon aus der Stadt zurückgezogen haben und sich nur noch ein paar hundert dort aufhalten. Der IS verhält sich durchaus taktisch, wie dies auch schon in der ersten Schlacht um Falludscha gewesen ist, als sich al-Sarkawi, der Vorläufer und das Vorbild von IS-Chef al-Bagdadi, bereits vor dem Beginn der Offensive mit den meisten Kämpfern aus der Stadt abgesetzt hatte.

Der junge Mann soll am 24. Mai einen Selbstmordanschlag mit einem gepanzerten Fahrzeug bei Falludscha ausgeführt haben.

Mit der zahlenmäßigen und waffentechnischen Unterlegenheit der IS-Kämpfer wäre eine Verteidigung unmöglich. Der IS setzt der Offensive vereinzelte Selbstmordanschläge entgegen, die zermürben sollen, und favorisiert das Konzept der verbrannten Erde, also der Zerstörung der Städte, indem diese mit Sprengfallen und Minen übersät werden. Und möglicherweise gehen die IS-Strategen auch davon aus, dass sie kurzfristig vielleicht große Gebiete verlieren, aber langfristig durch Terror ihren Einfluss erhalten können. Erstaunlich ist, wie der IS weiterhin eine nicht abreißende Menge an jungen Männern finden kann, die bereit sind, aus taktischen Gründen ihr Leben zu opfern.