Ferropolis - oder vom Umbau der Industriegesellschaft

Vom realen Landschaftsverbrauch zum Virtuellen Museum und übers Rockkonzert zurück in die Arbeitslosigkeit

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Rolf Sachsse hat sich eines der vielen Umbauprojekte der Industriegesellschaft angeschaut: Ferropolis - die Stadt aus Eisen, in der einst Braunkohle im Tagebau abgebaut wurde. Die Industriegesellschaft wird zum Museum oder zum Freizeitpark.

Die Umrüstung der Industriegesellschaft ist in vollem Gang. Was sich so Informationsgesellschaft nennt, basiert vornehmlich auf Unterhaltung. Freizeitparks boomen und suchen die Sucht der Menschen nach Erlebnissen in künstlichen Welten abzuschöpfen. Anhand von Ferropolis fragt Rolf Sachsse, ob es sich dabei um Traumgebilde oder Ruinen handelt. Fragen darf man auch, ob sich Arbeitslosigkeit durch verstärkte Erlebnissuche in der Freizeit mit den entsprechenden Dienstleistungsjobs - wenn möglich mit Niedriglohn - tatsächlich herabsetzen läßt.

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Sylvesternachmittags gegen fünf; im letzten Tageslicht steht die Mittfünfzigerin an der kleinen Tanne neben dem Bauwagen vor dem Schlagbaum und nimmt einige Weihnachtskugeln ab. Zuvor hatte sie uns - die Stadtplanerin, den Photographen und zwei Gäste aus dem Westen der Republik - über das Gelände geführt. Mit dem alten Jahr ist ihre ABM-Stelle abgelaufen; einen neuen Job wird es für sie nicht mehr geben. Die Kugeln kriegen die Enkelkinder fürs nächste Jahr; so ist das eben. Ein Trinkgeld für die Führung lehnt sie entrüstet ab; wir sind in preussischem Kernland. Der Geräteschuppen hinten rechts wird von einer großflächigen Natriumdampflampe erhellt. Die Erinnerung ist schnell lokalisiert: Unter diesen Lampen standen wir früher in Dreilinden, Gerstungen oder Oebisfelde und warteten auf die Einreise in die DDR. Das Wetter an diesem Tag: trocken und schön, aber minus 21° C bei Windstärke 5.

Der Schnee ist ein leiser und vergleichsweise angenehmer Mörder. Man verläuft sich, wird orientierungslos, müde, fällt, rafft sich nicht mehr auf, schläft ein und erfriert. Ein ausgebaggerter Braunkohle-Tagebau im Schnee, der vom Rand oder - wie hier - von einer deichartigen Landzunge aus betrachtet wird, schafft unwillkürlich eine Betrachtungsdistanz zum Planeten, auf dem wir leben. Mediale Bilder kommen in den Kopf, die erste Mondlandung (hatte nicht die chinesische Regierung damals verlauten lassen, das seien alles Fälschungen aus Hollywood?) oder die Voyager-Funkstücke vom Mars (sind die nicht Re-Analogisierungen digitaler Informationen mit künstlicher Farbpalette?). Ein ziemlich verlorener Posten scheint es zu sein für die, die hier stehen und wachen müssen. Vielleicht auch für die, die aus diesem Gelände etwas machen sollen, von dem sie noch nicht wissen, was es sein wird.

Doch, doch, es kommen viele Besucher, selbst an kalten Tagen, aber nur wenn es trocken ist. Alle Besucher wollen die vier alten Braunkohlebagger sehen, die hier stehen; der fünfte, etwas abseits plaziert, wird weniger wahrgenommen. Ihn zur übrigen Bagger-'Familie' zu gesellen, in die Bagger-'Stadt' aufzunehmen, wäre allzu teuer gekommen; ein Abbruch auch. Also wird die Ecke zum Stillen Ort erklärt, wo Big Wheel vor sich hin verrotten darf. Solange keine Einsturzgefahr besteht, ist selbst dieser für Besucher freigegeben - wenn das Konzept Kloster Chorin durchgeführt wird. Sollte die Variante Brüder Grimm beschlossen werden, ist die Bepflanzung mit Efeu und anderem schnellwachsenden Gesträuch bereits ab Durchführungsbeginn vorgesehen, um ein Betreten von vornherein zu verhindern. Die vier anderen mit Namen Mosquito, Mad Max, Medusa und Gemini werden eine "Arena" bilden, in der bis zu 14.000 Menschen Platz finden sollen. Heavy Metal - englische Rückübersetzung eines französischen Comic-Magazins mit dem original deutschen Titel "Schwermetall" - wird dann nicht mehr allein eine Richtung der Rock-Musik sein, sondern gleich der Ort dazu.

Womit wir mitten im Geschehen wären: Die englischen Namen der Großgeräte stammen von Jonathan Park, seinem Selbstverständnis nach 'commercial designer', ansonsten Veranstalter und Konzeptionsgestalter für Rockmusik-Spektakel. Die romantischen Planungsnamen hat das Büro für urbane Projekte von Marta Doehler und Iris Reuther in Leipzig vergeben, das eine solide Durchführbarkeitsstudie zum gesamten Gelände und seiner Verkehrserschließung erstellt hat. Aber spätestens seit Lyotard ist die Wahl romantischer Namen ein überdeutliches Signal für Weltfluchten. Und nicht umsonst beruht die ursprüngliche Idee auf einem Seminar im Dessauer Bauhaus, das eine ebenda angesiedelte Institution gleichen Namens, aber ohne schulische Praxis und mit apokrypher Genese, in die Welt gesetzt hat. Zudem mußte eine Fachhochschule um praxisorientiert studentische Hilfarbeit bemüht werden. Mit Habermas : Die postmoderne Lage (Topographie) ist unübersichtlich.

Postmodern paßt allemal: Keine der Ideen ist neu, sieht man von der Übertragung auf den Ort ab. Jonathan Park hat die Umwidmung und Benennung einem alten Konzept von John Latham abgeschaut, das dieser vor rund 20 Jahren für das Scottish Office und eine ähnlich krisengebeutelte Region im Süden Schottlands ersonnen hatte: "The Niddry Woman" ist die größte Abraumhalde der Welt und damit die größte von Menschen hergestellte Skulptur. Latham war Kopf der Artist Placement Group , der wichtigsten unter den Künstlergruppen der siebziger Jahren, die sich mit Kunst im sozialen Kontext beschäftigten. Jonathan Parks Vorgehensweise und Arbeitskonzept lesen sich wie aus ein Papier der APG abgeschrieben - nur daß das Ganze jetzt ernst genommen wird, während die Gruppe bei ihren Auftritten in der Bundesrepublik und Österreich zwischen 1977 und 1980 mehr oder minder ausgelacht wurde, und daß niemand auf die Idee gekommen ist, die Nachfolgeinstitution '0+1' [Naugtplusone - Organisation and Inspiration] um eine Ideenfindung zu bemühen. Das Vorgehen hat bei Jonathan Park System, denn seine Illumination der Duisburger Thyssen-Hütten-Ruinen-Museums-Landschaft ist eine schlichte Kopie dessen, was Jeffrey Shaw - auch er seinerzeit Mitglied der APG - schon in den siebziger Jahren für die Gruppe 'Pink Floyd' plante. Und was das industrielle Gartenreich angeht: Das Bauhaus ging schon während der zwanziger Jahre gern am Baggersee baden und veredelte diese Ausflüge durch Gedanken zur besseren Lebenswelt in Körperkultur und freier Liebe, meist allerdings (auch historisch) auf Kosten der Frauen und mit reichlich naiven Vorstellungen zur Ökonomie.

Bleibt die De-Plazierung, eine konventionelle Technik der Avantgarde, auch und gerade zu Zeiten einer 'Zweiten Moderne', wie sie Heinrich Klotz propagierte. Ansiedlungen geschehen in Zeit und Raum, nach der Etablierung technischer Netzstrukturen zum Informationsaustausch mehr denn je zuvor. An einem Konzept wie der Baggerstadt Ferropolis sind demnach mehrere Raum- und Zeitebenen zu trennen, einzeln zu betrachten und ist am Ende danach zu fragen, ob das Ganze mehr ist als die Summe der Teile.

Historische Ebenen sind die industrielle Situation von Braunkohle-Tagebau und chemischer Großindustrie, der Kontext der Ausstellungsplanung von Expo 2000 und die Aufführungspraxis von Rockmusik sowie die Musealisierung jedes dieser Elemente. Räumliche Bezüge entstehen durch das ausgebaggerte Areal selbst und seine Verkehrsanbindung, durch die Nähe zu Bitterfeld, Dessau und Wittenberg, durch die Ferne von Leipzig und Berlin, durch die Präsenz der ganzen Planung im Internet. Zeitlich prospektive Ebenen werden durch die soziale Lage der Menschen und ihrer Orte markiert, ebenso wie durch die materielle Existenz der vorhandenen Geräte und Maschinen. Denn das lehrt die Mediengeschichte neuerer Kunst : Installation und Deplazierung fallen ineins.

Der Braunkohle-Tagebau trägt historische Verknüpfungen von Dimensionen der Dinosaurier. Kaum eine Energie-Rohstoff-Gewinnungs-Technologie ist so extrem unwirtschaftlich und ökologisch problematisch wie diese; kaum eine ist in ihrer Fortschreibung auf deutschem Boden politisch so umstritten . Für den Erhalt von rund 200 Arbeitsplätzen auf etwa sechs Jahre werden mehr als 7.500 Menschen Haus, Hof und Lebensraum verlieren und über 48 Qudratkilometer Land verschwinden. Denn der Braunkohle-Tagebau ist die größte 'friedliche' Landschaftsvernichtung, die sich der Mensch bislang geleistet hat: Was da einmal abgebaggert ist, kann nicht mehr in eine Form gebracht werden.

Der in den fünfziger Jahren so gern benutzte Begriff der "Rekultivierung" ehemaliger Tagebauflächen ist ein Euphemismus der zynischsten Art: Schutthügel hoch kontaminierter Inhalte wurden mit robustem Nadelholz aufgeforstet, dazwischen ein wenig Wasser gepumpt und dazu drei Gastwirtschaften samt Badesteg finanziert - fertig waren die Ausflugsziele für die frisch gekauften Motorroller und VW-Käfer der Köln-Bonn-Aachener Bucht. Wer alles für diese Idylle mit Krebserkrankungen bezahlt hat, wissen vorsichtshalber nicht einmal die zuständigen Krankenhäuser.

Johannes Bruns, Photograph, Meisterschüler von Bernd Becher, hat einige Jahre lang in regelmäßigen Abständen den Tagebau Garzweiler I zwischen Köln und Aachen besucht und am Grubenrand ein Landschaftspanorama aufgenommen. Während der Vorbereitung zur Ausstellung eines solchen Panoramas berichtete er mir von seinen vergeblichen Versuchen, jeweils auch nur die Nähe seines vorherigen Standortes zu bestimmen - die Basis seiner Winkelfehler lag zuweilen im Bereich von mehr als zwei Kilometern, und das bei genauer, militärisch geübter Kompaßmessung. Nichts erinnere mehr an einen Platz, auf dem man zuvor gestanden habe, keine Straße führe mehr in die passende Richtung; und klarerweise gäbe es weder Bäume noch Sträucher noch Steinhaufen noch sonst irgendeine Landmarke, an der man sich orientieren könne. Um nur andeutungsweise diesen Effekt des Verlorenseins zu simulieren, hat er für die Ausstellung eine Vergrößerung des Panoramas im Format 22 x 1,3 m angefertigt; sie wurde so aufgehängt, daß es an keiner Stelle mehr als 1,5 m Distanz zum Bild gab. Die Besucherinnen und Besucher waren erschreckt, die Politiker der Umgebung witterten ungehöriges Verhalten, die Kritiker konnten nichts damit anfangen.

Die Grube Golpa gehört wie alle Braunkohle-Tagebaue der Umgebung von Leipzig zur Muldelandschaft, einer der ältesten Formen agrikultureller Topographie. Das flach hügelige Terrain wurde von kleinen Wäldern unterbrochen, die mit sanften Flußläufen und niedrigen Gebüschrainen für überschaubare Feldgrößen sorgten. Die Fruchtbarkeit des Gebiets war so groß, daß auf ihm auch jener Überschuß ästhetischer Produktion gedieh, der aus den Deutschen ein Volk der Dichter und Denker machte. Von der Muldelandschaft gibt es nur noch kleinere Restflächen im Südosten Leipzigs, das andere hat in knapp anderthalb Jahrhunderten der Tagebau weggefressen. Und wenn die entsprechenden Energielieferanten könnten, dann würden sie auch noch aus jedem Leipziger Bauloch, in dem man unweigerlich auf einen Braunkohleflöz stößt, einen Tagebau auf Zeit machen - was den Kölnern die Archäologen, sind den Leipzigern die Geologen. Sieben Jahre Bundesrepublik haben den Prozeß lediglich beschleunigt, denn auch dieser Bergbau ist noch immer hoch subventioniert, nur merken die Arbeitslosen nichts davon.

Braunkohle-Tagebau als Denkmal?

Eine ausgebaggerte Grube, mit Wasser verfüllt, am Rand etwas begrünt, und dann darin eine Halbinsel mit Bahnanschluß, Museum, Konzert-Arena, Restaurants, Campingplatz? Dazu eine weitere Landnahme durch rund 10.000 Parkplätze? Denn niemand wird so hoffnungslos naiv sein anzunehmen, daß die Besucherinnen und Besucher von Veranstaltungen am Ort - etwa von Berlin aus - erst mit dem IC nach Halle oder Leipzig, dann mit dem IR oder SE nach Bitterfeld oder Dessau, von dort mit der RB zum Bahnhof Gräfenhainichen oder mit der wiederbelebten Privatbahn Dessau-Wörlitz zum Haltepunkt Oranienbaum, von dort auf der Privatbahn zum Areal selbst reisen werden. Wer nicht mit dem Auto bis kurz vor den Schlagbaum kommt, ist als Besucher von Rockkonzerten schon vergessen. Dafür stehen alle Festivals dieser Musik, die bislang stattgefunden haben, als Paten Schlange. Ökologisches Denken entwickeln Freaks allenfalls im eigenen Verdauungstrakt und auf der Epidermis, beim Nachbarn hört das schon auf. Wie sollte es dann ausgerechnet in Ferropolis klappen? Allen guten Willen vorausgesetzt, wird sich - wie immer im Umfeld solcher Austragungsorte - eine kleine Wüste wilder Abstellflächen entwickeln, die sich an den nicht genutzten Abenden für illegale Rennen, Waffenschiebereien und ähnlich appetitliche Freizeitbeschäftigungen anbieten.

Im Internet ist das Projekt Ferropolis recht gut vertreten, dreisprachig. Schließlich ist es Teil einer Ausstellungsplanung, die eigentlich rund 150 km weiter westlich abläuft, der EXPO 2000. Selbst die Geschichte der Baggerstadt läßt sich ansatzweise im Netz rekonstruieren, von der langen Rede Harald Keglers bis zu aktuellen Angeboten einer Führung über die Brach- und Baustelle. Dennoch bleibt diese Präsenz im Gegensatz zu vielen anderen Projekten, die aus telematischem Ursprung in objekthafte Realisation streben, merkwürdig abstrakt: Fast alle Angebote sind reine Texte - keine Zeichnungen, keine dreidimensionale Darstellungen, keine Animationen können die Vorstellungskraft derer, die dorthin geholt werden sollen, stärken. Die Texte wiederum stehen in einer sprachlichen Tradition von Verlautbarungen, Ankündigungen und Dokumenten zur Wiedervorlage: bestes Amtsdeutsch. Nichts Falsches ist an diesen Materialien, doch in der vorgeführten Trockenheit auch nichts Begehrenswertes - und Aufmerksamkeit ist die wichtigste Ressource im Netz. Medial steht die virtuelle Existenz von Ferropolis weit hinter der von Telepolis zurück, und doch scheint das eine ohne das andere nicht denkbar.

Jonathan Park wollte der virtuellen Existenz des Ganzen schon früh zuarbeiten, indem er zunächst einen kleinen Katalog produzieren ließ, vierfarbig auf Umweltpapier und mit rührend kitschigen Graphiken aus der frühen Amiga-Welt. Auch das ist keineswegs neu, denn das Druckwerk steht in der Tradition britischer 'Working Papers' mit Photomontagen zukünftigen Geschehens, die in den siebziger Jahren auch in der Bundesrepublik zur Basis aller demokratischen Bau-, Denkmalpflege- und Instandbesetzer-Bewegungen wurde. Da laufen glückliche Menschen durch bunte Baggerwelten, da spannt sich ein Zeltdach über das vorgesehene Arena-Areal - auch wenn die Plazierung laut Grundriss an einer anderen Stelle vorgesehen ist -, da zucken Lichtblitze über eine nächtliche Bühne mit jubelnden Besuchern davor. Für Bastler gibt es im Prospekt noch alle Bagger als Kartonsteckmodell, immerhin mit recht exakten Seitenansichten der Geräte, die sonst nicht zu finden wären. Umfangreichste Textstrecke und einzige Ausnahme von verbalen Belanglosigkeiten ist eine Chronik der Ideen und Ereignisse, die von bemerkenswerter Eitelkeit der Beteiligten zeugt. Das alles wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn es denn allein um eine nette Idee ginge und alles im Virtuellen verbliebe. Dagegen spricht jedoch die Umwelt des Vorhabens und ein politischer Wille.

Das finanzielle Risiko erscheint dabei als kleinster Schwierigkeitsfaktor: Das Demontieren und Wegräumen der Großgeräte ist teuer, ein wenigstens vorläufiger Erhalt der Anlagen kaum teurer und möglicherweise langfristig durch zusätzliche Einnahmen wenigstens im Ansatz zu sichern. So stellen sich das jedenfalls die Bürgermeister, Regierungspräsidenten, Landesminister und Bevollmächtigten des Bundes vor, und die entsprechenden Willensbekundungen sind in diversen Papieren nachzulesen. Unter den Bedingungen eines mehrfach codierten Zynismus im politischen Tagesgeschäft ist der Musikveranstalter sicher ein Geschenk des Himmels: Die ausgebaggerte und vollgelaufene Grube ist ohnehin zu nichts zu gebrauchen, der museale Aspekt erscheint einigermaßen fragwürdig, das Gelände ist weit genug weg von allen bewohnten Siedlungsflächen. Hier darf es ruhig einmal etwas lauter werden, hier dürfen die Kids und ihre junggebliebenen Eltern einer Hippie-Romantik frönen, die schon zu den seligen Zeiten der Festivals der Isle of Wight, von Woodstock, Ann Arbor und Monterey nicht funktionierte. Daß der Klang vom Wasser der verfüllten Grube kilometerweit befördert und ungehindert übertragen wird, wissen die Bodensee-Anrainer Bregenzscher Opernspektakel auch schon eine Weile, und die Menschen in Gräfenhainichen werden es dann eben noch lernen.

Zunächst jedoch ist das Projekt, wie gesagt, Teil einer Ausstellungsplanung, eben der EXPO 2000, und die ist selbst nicht unumstritten. Als 'Korrespondenzregion' der EXPO will das Land Sachsen-Anhalt den Bereich um Bitterfeld, Dessau, Wolfen und Wittenberg im Sog der Ereignisplanungen einer Weltausstellung aufwerten, ein löbliches Unterfangen, zumal es sich bei diesem Raum historisch um die schmutzigste Industriebrache Deutschlands handeln dürfte. Die humane Lebenserwartung ist so gering wie nur noch in den südwestpolnischen Industriegebieten; Wasser- und Bodenqualität verdienen nicht einmal den entsprechenden Namen. Ausstellungsplanungen haben in Topographien mit strukturellen Umbruchproblemen immer schon einen guten Teil zur Lösung der Fragen beigetragen, indem sie modellhafte Varianten möglicher Realitäten bereitstellten; und daß die Betreiber in diesem Gebiet mit seiner spezifischen Geschichte keine der üblichen Bundesgartenschauen plazieren wollten, spricht mehr für als gegen sie. Doch die Virtualität ihres Vorgehens liegt weit diesseits aller Netze und Medien.

Ferropolis ist nicht nur vernetzt in Telepolis, hat seinen Ursprung in medial vermittelten Ereignisstrukturen und folgt in seiner Präsentation der Ästhetik des Videoclips, sondern steht in einem realen Umfeld voller Probleme. Die Region Bitterfeld-Wolfen grenzt nach Westen an die Grube und zeigt sich auch voller Orte, denen schon ein galliger Humor der Anwohner die passenden Namen verliehen hat: Der 'Silbersee' ist ein Teich am südlichen Stadtrand von Wolfen, dessen hohe Kontamination mit Schwermetallen und Giftcocktails noch jedem Versuch einer Sanierung getrotzt hat. Die Innenstädte von Bitterfeld und Wolfen sind weitgehend leergefegt, in jedem Sinn des Begriffs. Sie gleichen aufgeräumten Trümmerwüsten, an vielen Stellen von Hausbesitzern und Städtebauern repariert und liebevoll gepflegt, aber ohne Gesamtbild und vor allem ohne Perspektive. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und wenn die ABM-Maßnahmen nicht wären, läge sie in schwindelerregender Höhe. Zu sagen, daß die soziale Balance solcher Städte heikel ist, entspricht bereits einem Euphemismus.

Umbau der Industriegesellschaft?

Im Nordwesten von Ferropolis liegt Dessau. Im Wörlitzer Park wurden um 1800 bewußt Elemente der Muldenlandschaft aufgegriffen, als ob schon Erdmannsdorff geahnt hätte, daß es mit der Natur am Ort bald vorbei sei. Sechs Generationen später ist in Dessau für sieben Jahre das Bauhaus gelandet und hat mit Gropius' Schul-, Werkstatt- und Meister-Bauten ein Denkmals-Ensemble hinterlassen, das gleichzeitig von industriellem Fortschrittsglauben wie von Rücksichtslosigkeit gegenüber gewachsenen Strukturen kündete. Daran zu denken, ist komplex, und insofern steht den Ideen der heutigen Gebäudenutzer, die sich auf ökologisch und sozial verträgliche wie nachhaltige Konzepte zur erneuten Umwandlung einer ehemals ländlichen, dann industriellen und nun ausgebrannten Region kaprizieren, zunächst unbedingtes Wohlwollen zu. Doch weder wissen die jetzigen Bauhaus-Besetzer, wohin was umgewandelt werden soll oder kann, noch haben sie eine Vorstellung von dem, was die ökonomische Realisierung und den sozialen Sinn ihrer vielen kleinen Vorschläge ausmachen soll. Vom Stochern im Nebel wird die Übersicht nicht besser. Und solange man nicht einmal sein eigenes Haus bestellen kann, solange fremde Besucherinnen und Besucher ungläubig vor verschlossenen Türen stehen müssen, weil das Museum mehr geschlossen als geöffnet ist und weil man nicht einmal die eigenen neuen Idee zu präsentieren vermag, solange ist aus dieser Himmelsrichtung für Ferropolis auch nicht viel zu erwarten.

Nordöstlich der Grube Golpa liegt die Lutherstadt Wittenberg, historischer Bezugspunkt nicht nur dieser Gegend, sondern des ganzen anhaltinischen Kernlandes. Sich von dieser Stadt und ihrem Ruf einen moralischen Ausweis eigenen Handelns zu erhoffen, scheint zum basso continuo aller Aktivitäten der Region zu gehören - und strahlte seinerzeit ja auch auf das Dessauer Bauhaus aus. Doch die Stadt hat selbst genug Probleme: Streng lutherisch geht es in ihrer Geschichte um Worte, doch eine Universität von Rang ist nicht vorhanden. Die protestantische Handlungsanweisung des Sich-Regens bringt unter den Auspizien des sterbenden Industriezeitalters alter Prägung keine automatischen Erfolge mehr mit sich; zukunftsweisende Projekte sind in der Stadt nicht angesiedelt. Und für das hedonistische Geschäft des Massentourismus ist Martin Luther denn doch zu spröde.

Kurzum: Die Region ist von Arbeitslosigkeit geprägt, Hoffnungslosigkeit macht sich allerorten breit. Klar haben dann alle die Politiker Konjunktur, die mit einfachen Lösungen auf Stimmenfang gehen - besonders Rechtsradikale aller Art. Ihnen paßt die Kulisse von Ferropolis auch nicht schlecht, was wiederum die letzten Aufrechten des Ostens schmerzt. Immerhin kann man sich auf dem Gelände austoben, sind die Bagger kaum mit menschlicher Kraft demolierbar - außer an ihren empfindlichen und richtungsweisenden Extremitäten - und können vor der Flut auch einige Autos in der Kohlengrube zu Schrott gefahren werden. Doch eine Perspektive ergibt sich aus diesen Auslaufmöglichkeiten nicht. Und mehr Arbeit wird aus einer solchen Resteverwertung ebenfalls nicht gewonnen.

Alle Politiker und insbesondere die rosaroten mehrerer Schattierungen reden gern vom Umbau der Industriegesellschaft. Als neues Präfix für Gesellschaft wird nun Information oder mindestens Dienstleistung angeboten, ohne daß man merkt, wie sehr man als Politiker der nächsten Industrie aufgesessen ist - der Kompensationsindustrie. Wo nichts Reales zu tun ist, soll man sich wenigstens wohlfühlen, und sei es auf Teufel komm' 'raus. Vom Umbau der Industriegesellschaft ist da immerzu die Rede, und daß Information die neue Ware sei, doch was darunter zu verstehen sei, darüber schweigen Politiker wie Macher. Nichts Greifbares scheint es jedenfalls zu sein, und viel Geld kosten die Anfangsinvestitionen. Was daraus wird, ist ebenfalls unbekannt - aber mitmachen muß jeder, der nicht zu spät kommen will, denn den bestraft bekanntlich das Leben.

Schon Theodor W.Adorno mußte die Kulturindustrie bemühen, als er dem Phänomen der flüchtigen Existenz der Aufführungspraxis all jener Kunstwerke nachjagte, die mehr als Partitur denn als Erlebnis existierten. Partituren sind heute durch Programme ersetzt, und die Interpreten haben weiterhin alle Mühe damit zu verstehen, was die Schreiber wollten. Für Adorno war die Musikindustrie das inkarnierte Böse aller künstlerischen Produktion, und für seine Enkel spielt die Software-Industrie jene Rolle. Dazwischen liegen ein paar reale Gegenstände herum, und schon soll ein neues Industriekonzept fertig sein? Dreimal im Jahr ein großes Musikspektakel, dazu eine kleinere Reihe von illuminierten Abenden, tagsüber ein mittelgroßer Museumsshop und abends ein gastronomischer Betrieb; ein wenig Unterstützung durch lokale Anbieter im Medienbereich, etwas mehr Geld durch die Vergabe von Exklusivrechten bei kleineren Ereignissen, vielleicht noch ein gesponsorter Skulpturenpark - alles Konzepte aus den Dinosaurierzeiten der Unterhaltungsindustrie, und keines davon tragfähig in einer Gegend, die arbeiten und nicht unterhalten werden will.

In Ferropolis treffen zwei Strukturen aufeinander, die zeitweise eine Synergie produzieren konnten, als das ganze Prinzip noch neuartig und selten durchgesetzt war. Zum einen ist es ein museales Konzept der Erinnerung an eine Produktionsweise und Erhaltung von dazugehörigen Geräten oder Gebäuden. Zum zweiten ist dies eine Konzeption aus der Unterhaltungsindustrie und deren hohem Bedarf an identifikatorischen Räumen zur Plazierung sonst ortsloser Inszenierungen. Keine dieser Strukturen ist an sich schlecht, und es gibt gute Beispiele dafür, daß ihr Zusammengehen funktioniert, aber dem stehen ebenso viele Orte gegenüber, an denen dieses nicht klappt. Wer den Disney-Themen-Park in Orlando/Florida anführt, darf die utopische Stadtkonzeption Epcot in derselben Stadt nicht vergessen, und deren Häuser wie Straßen zerfallen gerade heftigst. Wer in Oberhausen sündhaft teuer einkaufen will, kann dies in bestens geschützter Atmosphäre und unter den wachsamen Augen privater Rambos tun; den Zynismus, dies in einer Stadt mit extrem hoher Arbeitslosigkeit zu praktizieren, kann er nicht am Eingang abstreifen - dafür ist man entweder unsensibel genug oder segnet sich mit der Amnesie der Besseren.

Traumgebilde oder Ruine?

Für Ferropolis hält eine solche Betrachtung mehrere Alternative bereit. Entweder wird das ganze Projekt als schön und unpraktikabel vergessen - das wäre schade und unter den bisherigen Bedingungen den Menschen der Region gegenüber auch schon bösartig. Oder der Ort wird musealisiert und im Zusammenhang einer fixierten Konzeption als Spiel- wie Schauplatz erhalten - das wird unnötig teuer und hilft niemandem in der Umgebung. Die Bedingungen einer Ausstellung wie der EXPO 2000 ermöglichen zunächst einen Zwischenweg der kurzfristigen Bestandssicherung und der fallweisen Erprobung als Bühne musikalischer Show-Spektakel. Langfristig ist dem Areal damit nicht zu helfen. Denn einerseits ist der museale Aspekt nicht unproblematisch, wenn auch nicht unpopulär: Dinosaurier als evolutionäre Fehlentwicklung stehen leitbildartig für eine katastrophale Entwicklung der Erd- und nachfolgend Menschheitsgeschichte, der mit einem Baggerloch samt Altgerät die Musealisierung nur unter negativem Vorzeichen gelingen kann. Und das wiederum hilft den Menschen in der Region keinesfalls, weder in Bezug auf die Entwicklung einer neuen Identität noch im Hinblick auf einen gelassenen Umgang mit der Geschichte, auch der Industrie-, Sozial- und politischen Geschichte.

Andererseits ist die Kompensationsindustrie Musik/Theater/Show nicht allein tragfähig zur Entwicklung eines regional bedeutsamen Tourismus. Die Muldenlandschaft ringsum ist weitgehend zerstört, das ökologische Gleichgewicht der westlichen Randgebiete Bitterfeld-Wolfen binnen der nächsten drei Generationen nicht wiederherstellbar, eine produzierende Industrie in Deutschland nur noch auf der Basis kleiner, maximal mittelständischer Einheiten denkbar. Sinnvoller erscheint es da, das Gelände über die Ausstellung hinweg zu einem multifunktionalen Erprobungsareal werden zu lassen: Von Eisenbahnwaggons auf wackeligen Schienen über Motorboote auf flachem Wasser zu schall- und rauchintensiven Entwicklungen aller Art ist die verfüllt Grube und ihr Deich mit industriellen, auch post-industriellen Erzeugnissen bespielbar. Dafür mögen unter anderem die neuen Kulturen von Eschen und Weiden am nahen Elbufer stehen, aus denen langsam eine subkulturelle Handwerkstradition des Korbflechtens erwächst, deren Produkte über 'manufactum' und andere Spezialversender vermarktet werden (können).

Keine schöne Aussicht für die Anwohner der Region: Zur hohen Arbeitslosigkeit und schlechten Lebensqualität kommen weitere Belastungen aller Art, und allerhöchstens Nischen lassen sich finden, in denen Existenzen aufgebaut werden können. Ferropolis kommt in dieser Hinsicht eine zweischneidige Aufgabe zu: Als Traumgebilde verknüpft es Gewesenes und Gegenwart, ohne Zukunft anbieten zu können. Als Ruine verkörpert die Baggerstadt einen Zustand, den sich niemand wirklich zurückwünschen kann - damit lehrt sie wieder langsfristiges Denken. Die landschaftliche, ökologische und ökonomische Struktur um diese Ruine herum muß jenseits der Erinnerung wachsen. Die Voraussetzungen dafür sind marginal gut, weil noch wenig profiliert und damit von wenigen Verwaltungsvorschriften eingeschränkt - wer weiß wie lange? Prinzipiell ist die Grube Golpa-Nord die gleiche Industriebrache wie die Hinterlassenschaft eines Stahlwerks an Rhein, Ruhr, Oder, Elbe: kontaminiert auf Generationen, kaum zu versiegeln, damit aber auch rücksichtslos nutzbar.

Wenn überhaupt, dann hat Ferropolis die Rolle einer doppelten Mahnung: Ein industrielles Zeitalter des Denkens in großen Dimensionen der Apparate bei kleinem Horizont der Ökonomie ist endgültig vorbei. Der Referenzkapitalist Staat, den Marx noch beschwören mußte, ist der Globalisierungsfalle anheimgefallen. Dafür ist Ferropolis tatsächlich das derzeit beste Denkmal. Andererseits mag die Baggerstadt den Menschen der Region als Ansporn dienen, aus der eigenen Notsituation heraus Mikrostrukturen zu schaffen, die erst in einer oder zwei Generationen als Identität sich niederschlagen können - etwa in der Ansiedlung postindustrieller Gewerke.

Von der Anschauung her gibt es für das Stehen auf dem Deich der verschneiten Grube mit dem Hintergrund der toten Geräte keine bessere Beschreibung als die auf Medien bezogene Formulierung von Peter Sloterdijk : "Die Modernisierung will ihrem Grundzug nach ein Glückskreislauf, ein circulus virtuosus sein, in dem aus Gekonntem weiteres Können, aus Gelungenem mehr Gelingen, aus Reichtum weitere Bereicherung entspringt. Die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung eines solchen Systems in seinem Nachrichtenwesen ist darum von sich selbst her eine Informatik des Gelingens. Wenn das System als Ganzes aber auf die Verlustseite gerät, wenn es langfristig gesehen mehr Teufelskreise als Glückskreise zu beobachten und zu melden gibt, dann führt die Selbstverständigung der Gattung zu einer Informatik des Scheiterns."

Alle Fotos von Rolf Sachsse