Frankreich: die politische Bombe nach dem Attentat

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Polizei und Geheimdienste fahnden nach den Tätern; die öffentliche Diskussion über gewalttätige Islamisten wird neu aufgeladen

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Der französische Staatspräsident Hollande hat für morgen einen nationalen Trauertag ausgerufen. Bei dem heutigen Anschlag auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo (Terroranschlag in Paris mit "Allahu Akbar"-Rufen) sei die ganze Nation angegriffen worden. Die Opfer des barbarischen Aktes seien für eine fundamentale Idee Frankreichs gestorben, für die Idee der Freiheit, so der Präsident in einer landesweit übertragenen Ansprache, in der er die Franzosen dazu aufrief, Einheit zu bewahren: "Alle sollen sich versammeln." Er kündigte einen verstärkten Schutz öffentlicher Einrichtungen an und eine Reaktion, die dem Verbrechen angemessen sei. 100.000 demonstrierten heute Abend in mehreren französischen Städten.

In der aktuellen Ausgabe des Magazins ist eine Zeichnung veröffentlicht, die von einem bei dem Massaker ermordeten Zeichner stammt, von Charb. Sie ist überschrieben mit der Feststellung: "Noch immer keine Attentate in Frankreich" und zeigt einen bärtigen Kämpfer mit einer Pakul, einer paschtunischen Kopfbedeckung, die als zeichnerisches Symbol für radikale islamistische Gruppen nach dem Vorbild der Taliban steht, und einer Kalaschnikow auf dem Rücken.

Es ist ganz offensichtlich die Karikatur eines islamistischen Kämpfers. In der Sprechblase sagt der Mann, dessen verdrehte Augen auf Trunkenheit, Verrücktheit oder Entrücktheit, auf fehlenden Durchblick und Irrationalismus deuten: "Man hat ja noch den ganzen Januar, um seine Neujahrswünsche zu präsentieren."

"Wir haben den Propheten gerächt" - Großfahndung nach den Tätern

Man habe sich in letzter Zeit sicher gefühlt, wird ein Redaktionsmitglied zitiert. Man hatte keine Befürchtung. Drohungen waren dem Magazin seit Jahren bekannt. Die Redaktion wurde schon einmal verwüstet.

Ob die beiden Täter, die heute 12 Personen töteten und 11 verletzten, davon vier so schwer, dass sie sich laut Meldungen um 20 Uhr noch immer in einem kritischen Zustand befinden, einer militanten islamistischen Gruppierung angehören, darüber gibt es noch keine Auskünfte. Die Polizei - und die Geheimdienste - fahnden mit einem Großaufgebot von über 3.000 Polizisten nach dem flüchtigen Trio (einer saß mutmaßlich nur am Steuer). Sie hat eine strikte Informationssperre über die Fahndung verhängt, ist den französischen Medien zu entnehmen.

Laut Zeugenaussagen, die unterschiedlichen Berichten zu entnehmen sind, sollen zwei der Männer sehr gutes Französisch gesprochen haben. Berichtet wird, dass die beiden, die sofort mehrere Salven abschossen, als sie das Zimmer betraten, in dem sich die Redaktion und Mitarbeiter des Magazins sowie ein eingeladener Gast befanden, den Tatort, der einer Schlachterei geglichen haben soll, mit den Worten verlassen haben: "Nous avons vengé le prophète. Charlie Hebdo est mort." (zu deutsch: "Wir haben den Propheten gerächt. Charlie Hebdo ist tot.") [Update: Später wird diese Darstellung dahingehend korrigiert, dass die Männer diesen Satz erst auf ihrer Flucht außerhalb des Gebäudes, auf der Straße, gerufen hätten).

Eine Zeichnerin des Magazins namens Coco sagt aus, dass sich die Täter ihr gegenüber auf al-Qaida berufen hätten. Nach ihrem Bericht, der in mehreren Medien wiedergegeben wurde, war sie es, die mit Waffen bedroht, den Zahlencode für die Eingangstür eingegeben hat. (Ergänzung: Sie war den Männern zufällig im Treppenhaus begegnet und wurde von ihnen als Geisel genommen. Ihr Versuch, die Männer in eine andere Etage zu führen, scheiterte). Sie hatte Glück und kam mit ihrem Leben davon, ein Angestellter der Hausverwaltung wurde erschossen.

Der Bericht des Staatsanwalts

Im Bericht, den der Staatsanwalt François Molin am frühen Abend gegenüber der Presse abgab, wurde dies nicht erwähnt. Dort heißt es nur, dass sich die Eindringlinge mit Gewalt Zutritt verschafft haben. Er bestätigt, dass die Täter "Allahu Akbar" gerufen haben. Nach den Ausführungen des Staatsanwaltes sind die Täter bei ihrer Flucht kurz nach dem Anschlag auf drei Polizeistreifen getroffen, jedesmal kam es zu einem Schusswechsel, zwei verliefen ohne Verletzte, bei dem dritten Zusammentreffen tötete ein Attentäter einen Polizisten, der verwundet auf dem Boden lag, mit einem gezielten Schuss, wie in einem Video dokumentiert.

Dass der Mann derart kaltblütig, schnell und gezielt tötete, wird als Anzeichen dafür gewertet, dass es sich um militärisch ausgebildete Männer handelte. Bis auf eine kurze Unsicherheit am Anfang des Attentats, als die Männer angeblich den falschen Eingang wählten (Ergänzung: wie tags darauf auch eine genauere Chronologie der Ereignisse von Le Monde bestätigt), wird der Ablauf des Attentats von Fachleuten, die von France Inter interviewt wurden, als "professionell und präzise" bezeichnet.

Der Staatsanwalt enthielt sich solcher Wertungen und der Bestätigung von Zeugenaussagen. So berichtete er davon, dass die Täter bei der Flucht zweimal das Auto gewechselt hätten, aber er ging nicht auf eine weitere Zeugenaussage ein, die von France Inter berichtet wurde, wonach die Täter bei einem der Fluchtwagenwechsel ebenfalls von al-Qaida im Jemen gesprochen hätten. Offiziell gab es bislang kein Bekenntnis irgendeiner Terrorgruppe.

Vorwurf an Medien: Gewalttätige Strömungen des Islam zu wenig beachtet

Doch gibt es gegenwärtig aufgrund der Allahu-Akbar-Rufe im Blutrausch der Attentäter in der öffentlichen Berichterstattung und den Diskussionen keinen Zweifel an islamistischen Motiven hinter dem Massaker. Das Attentat hat Frankreich emotional in einer besonderen Tiefe getroffen, ist aus Medienberichten, aus Berichten von Kollegen der getöteten Journalisten, aus Kommentaren und von Befragten auf der Straße zu hören.

Die getöteten Zeichner, allen voran Wolinski, werden als Familienmitglieder einer nationalen, republikanischen Kultur verstanden, die für Grundwerte der gegenseitigen Selbstverständigung stehen, für Freiheit, Meinungsfreiheit, Witz und Esprit. In vielen Haushalten stehen deren Werke in den Bücherregalen.

Der Anschlag birgt enorme politische Sprengkraft. Den französischen Medien wird - ähnlich wie hierzulande - vorgeworfen, dass sie eine bestimmte Realität nicht wahrnehmen wollen oder aussprechen. Was gemeint ist, wird an den Worten des ehemaligen Chefredakteurs von Charlie Hebdo, Philippe Val, deutlich. Hörbar bewegt äußerte er heute Nachmittag vor dem Mikrophon von France-Inter nach einigem Zögern und Wortesuchen, dass man nicht umhinkomme, "ohne Rassist zu sein", darauf zu verweisen, "dass es im gegenwärtigen Islam eine Tendenz gibt, die verrückt (i.O. "fou") ist".

Es habe sich das Gefühl verbreitet, so ein Journalist von Radio Hérault gegenüber Telepolis, dass eine bestimmte Realität von den Medien nicht oder nicht genug wahrgenommen wird. Jemand wie Houllebecq, dessen Buch "Soumission" heute in Frankreich erschien (der auf dem aktuellen Titel von Charlie Hebdo verulkt wird), würde als einer der Wenigen versuchen, das "Unsagbare" zu formulieren. In den Medien würden bestimmte Sentiments nur an der Oberfläche behandelt und häufig mit Umfragen zugedeckt.

Der Konflikt mit einer Art des Islamverständnisses, das Werte der Republik ablehnt und Gewalt im Namen der Religion legitimiert, werde von Medien tunlichst vermieden; daraus resultiere ein Schweigen, von dem hauptsächlich der Front National profitiere. Das Attentat könnte eine rigidere Spaltung in Lager zur Folge haben, differenzierte Standpunkte würden es künftig schwerer haben, sich durchzusetzen.

Man kann nur hoffen, dass sich das öffentliche Leben auf die französische Hochschätzung des Esprit besinnt. Mit Charlie Hebdo wurde nicht nur ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit ausgeübt, sondern auch auf die Freiheit zum Lachen, hieß es heute, mitten in der Trauer über die feige hingemordeten Satiriker.