Freiheit auf Ägyptisch

Millionen junger Menschen suchen ihren Platz - und finden ihn im Netz

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Was wurde nicht schon alles über Cyber-Aktivismus und dessen Beitrag zu „echten“ Zivilgesellschaften geschrieben – und gepriesen... Einige kleine Webprojekte in Ägypten beschreiten einen weit weniger spektakulären Weg und bewirken langfristig damit vielleicht umso mehr.

Er ist die Zentrale von "Horytna" („Unsere Freiheit“): ein lärmisolierter, zum Studio umfunktionierter Raum in einer Kairoer Altbauwohnung. Für die Multiplikation des Webradios sorgen die Internetriesen Twitter, Facebook und Youtube. Seit März 2007 sendet „Horytna“ mit Hilfe ausländischer NGOs, Spenden, Werbebanner-Einnahmen sowie rund 25 Journalisten 24 Stunden um die Uhr. Leicht sei es nicht, doch man halte sich wacker – allein die Facebook-Anhängerschaft nähere sich der 10.000-Marge, erklärt Moderator Mohamed Ezz Aldin.

Eingedenk der Einwohnerzahl Ägyptens (80 Millionen) klingt das mau, in Anbetracht der Themen aber beinahe grandios: Menschenrechtsverletzungen, verhaftete Blogger, mangelnde Frauenrechte, Armut und Arbeitslosigkeit kommen ebenso zu Gehör wie Demontrationen, die regierungsnahe Medien verschweigen. Bis zu einem gewissen Grad ermutigt „Horytna“ selbst zu Aktivismus: etwa 2008, als ein Felsabrutsch ein Kairoer Viertel fast begrub und Tausende von Hörern dem Aufruf zu freiwilliger Hilfe folgten. Man mag sich angesichts dessen fragen, wie lange es noch dauert, bis Diktator Hosni Mubarak das Forum mundtot macht.

Ezz Aldin aber winkt ab: Solange man weder Mubarak noch die Armee attackiere, halte sich die Aufregung in Grenzen. Zudem weiß er um die Politikverdrossenheit der Jugend. Auch sie wolle nicht laufend hören, was sie ohnedies täglich sehe. Statt rund um die Uhr auf die Regierungspolitik einzuprügeln, streut „Horytna“ daher geschickt Spiel, Spaß und Spannung – etwa durch Features über die neuesten Soap-Operas und deren Stars und Sternchen.

Für Ezz Aldin grenzt dies dennoch an eine Revolution, ja er spricht gar vom „68er Feeling Ägyptens“: „Eine ganze Generation sucht ihren Platz“, und den stellten am besten die neuen Medien zur Verfügung – vielfältig, technisch und finanziell relativ unaufwendig und so verschachtelt, dass es den Geheimdiensten schwer falle, Schritt zu halten.

„Statt 2010 schreibt Ägypten 1968 – endlich!“

Mahasen Sabers Projekt bestätigt dies. „Herzlich Willkommen! Sie hören das Radio Motalakat, das 'Radio der geschiedenen Frauen', 'www.motalakatradio.com' ... ein neues Leben mit der Stimme des Herzens... ein Raum zum Reden und Zuhören…“. Mit diesen Worten ging die 31-Jährige am 1. Januar dieses Jahres erstmals im Web auf Sendung.

Warum ein Radio für geschiedene Frauen? Weil es in Ägypten ein Riesenthema ist. Während Ägyptens Scharia-basierte Gesetze Ehemännern keinerlei Hindernisse in den Weg legen, müssen Ehefrauen unumstössliche Beweise für Missbrauch oder Vernachlässigung anführen. Zudem sind die Gerichtsverfahren derart langwierig, dass Frauen, die mit 25 Jahren die Scheidung einreichen, das rechtskräftige Urteil mitunter erst zu ihrem 40. Geburtstag erhalten, wie das ägyptische Justizministerium selbst bekannte. Dessen ungeachtet blieben die Scheidungsraten so hoch – von 40 Prozent ist die Rede -, dass das Parlament im Jahr 2000 ein vereinfachtes Scheidungsgesetz verabschiedete: „Khulaa“ („Auflösung“) ermöglicht Frauen eine Scheidung ohne Begründung, allerdings gegen Rückzahlung des Brautpreises und unter Verzicht auf jegliche Absicherungen.

Zu den juristischen gesellen sich die gesellschaftlichen Hürden. Geschiedenen Frauen wird ein „Lotterleben“ nachgesagt und ihr Alltag vielfach zum Spiessrutenlauf. Saber weiss dies, weil sie selbst geschieden ist. Drei Jahre hatte ihr Eheglück, das keines war, gedauert, die meiste Zeit davon verbrachte sie vor Gericht und sie stieß dabei auf soviele Grenzen ihrer Rechte, dass sie sich ab Juli 2008 in einem Blog Luft machte: „Ayiza atala wa“ (Ich will die Scheidung und“). Von den positiven Rückmeldungen der Leserinnen ermutigt, wechselte sie zum Audioformat - Ägypter würden mehr hören denn lesen.

Mit heftigen Angriffen seitens des Patriarchats hat die Historiker seither durchaus zu kämpfen, obwohl sie keineswegs walküregleich zum Kampf bläst. Das will sie auch nicht: Vorwürfe, sie rufe Ägyptens Frauen zur „Rebellion“ auf, begegnete sie rasch, indem sie Porträts allein erziehender Männer in ihr Programm aufnahm – auch diese gehören zur Zielgruppe.

„Wenn die Diktatur zugreift, stehen sie allein da“

Beide, „Horytna“ und „Radio Motalakat“, suchen danach, etwas zu bewegen, jedoch ohne Pauken und halbwegs unter Beachtung der furchterregenden, und dabei so schwammigen, roten Linien.

Für Marc Lynch ist dies der einzig gangbare Weg. Nichts ist dem Politikwissenschaftler von der George Washington University und Autor des Buches „Voices of the New Arab Public“ suspekter als die – nicht zuletzt durch traditionelle Medien verbreitete - Euphorie über das Cyber-Dissidententum: Junge Aktivisten könnten sich dadurch derart bestärkt fühlen, dass sie beginnen, das Ganze „für ein Spiel zu halten, weil sie glauben, ihre globale Vernetzung könnte sie vor der Rache ihrer Diktaturen bewahren", sagt Lynch und verweist auf eine weitere Aktivität im ägyptischen Raum, die „April 6“-Gruppe. 2008 gründete sie die 29-jährige Esraa Abdel Fattah Ahmed Raschid mit ihrem Aktivistenkollegen Ahmed Maher: Man wollte sich mit den streikwilligen Industriearbeitern solidarisieren.

Als es tatsächlich zu Massenprotesten kam, wurde Raschid inhaftiert. Bei ihrer Freilassung 17 Tage später brach sie vor laufenden Kameras in Tränen aus und gestand, sie hätte nie zu dem Streik mobilisiert, wenn sie mit ihrer Verhaftung gerechnet hätte. Ihren Mitstreiter Maher folterten die Polizisten zwölf Stunden lang, um an das Administratorenpasswort zu gelangen. Den Anblick seines striemenübersäten Rückens publizierte der renommierte Aktivist Wael Abbas auf seinem Blog.

Er, wie viele andere, zeigte sich empört über Raschids Tränenausbruch. „Sie hat uns alle vor dem Regime lächerlich gemacht. Viele von uns, auch Frauen, werden inhaftiert, doch weder winseln noch entschuldigen sie sich dann.“ Indes – nicht jeder ist aus diesem Holz geschnitzt und es bleibt mit Lynch festzuhalten:

Wenn der Geheimdienst zugreift, stehen sie alleine da.

Seine Mahnung zu Zurückhaltung ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen: Dass von den ursprünglich 76.000 Mitgliedern der „April 6“-Gruppe heute nurmehr 565 übrig sind, beweist, dass sich keine virtuelle Zivilgesellschaft, und sei sie noch so vibrierend, durchsetzen kann, wenn die reale Welt von der Staatspolizei patroulliert wird.

Dennoch heißt die Alternative für Lynch keineswegs „Nichtstun“. Die Nutzung neuer Technologien könne vor allem dort etwas genuin ins Gang setzen, wo sie statt eines globalen das lokale Publikum anvisiere und dies weniger unter politischen als sozialen Aspekten.

Wir sprechen von nichts Sensationellem, sondern von kleinen Foren mit Raum für Meinungen, die andernorts nicht oder selten anzubringen sind.

Eben in der Art von „Horytna“ und „Radio Motalakat“.