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Friedensforschung: Von der trügerischen Zeitenwende zu fragwürdigen Rückschlüssen

Zeitenwende vor der "Zeitenwende": Vietnam-Krieg. Bild: manhhai, CC BY 2.0

Warum ein Gutachten von Friedensforschern Öl ins Feuer gießen und den Konflikt um die Ukraine befördern könnte

Unlängst veröffentlichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deutscher Friedensforschungsinstitute ihr gemeinsames "Friedensgutachten 2022" mit Empfehlungen für die Politik [1]. Das Papier fokussiert gleich im ersten Kapitel die "Friedens- und Sicherheitspolitik nach der Zeitenwende".

Diese Zeitenwende sehen die Institute in Anlehnung an die Bundestagsrede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vom 27. Februar als Resultat des Krieges Russlands gegen die Ukraine:

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat nicht nur unermessliches Leid über die Zivilbevölkerung gebracht und einen souveränen Staat teilweise in Schutt und Asche gelegt. Er hat auch die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zerstört.

Diese Beschreibung indes befördert die unausgesprochene Botschaft, dass es keine andere vergleichbare Situation weltweit gebe, auf die bezogen der Begriff "Zeitenwende" als Resultat von Krieg, Leid und Zerstörung längst schon hätte angewendet werden können.

Russland und die Ukraine [2] haben bislang mehrere zehntausend Kämpfer im Kriegsgeschehen verloren [3]. Die Opferzahlen der Zivilbevölkerung bewegen sich ebenfalls in diesem Bereich [4].

Im Vietnamkrieg und in den Folgejahren starben weit über zwei Millionen Menschen [5].

Der sogenannte Krieg der USA gegen den Terror, der wiederholt ohne Kriegserklärung und gegen das Völkerrecht exerziert worden ist und wird, starben ebenfalls mehrere Millionen Zivilisten.

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (0 Bilder) [6]

[7]

Die Berliner Zeitung schrieb dazu, die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, die die Zahl der Opfer in Afghanistan, Pakistan und Irak nach den ersten zehn Jahren untersucht haben, schätzten auf Basis der verfügbaren Daten, "dass bereits nach dem ersten Jahrzehnt mindestens 1,3 Millionen Menschen in diesen Ländern infolge der Kriege starben". Für das zweite Jahrzehnt der "Post 9/11-Kriege" stehe eine ähnlich sorgfältige Analyse noch aus:

Neta C. Crawford und Catherine Lutz vom ‚Costs of War‘-Projekt an der Brown University in Rhode Island haben jedoch immer wieder Fallzahlen für Afghanistan, Pakistan und Irak, später auch Syrien und Jemen veröffentlicht, wenn auch nur auf Basis passiv beobachteter Fälle. Insgesamt haben sie, ihrem aktuellen Bericht zufolge, bis August 2021 für diese fünf Länder über 900.000 direkte Kriegstote ermittelt, 375.000 davon zivile. Die beiden Wissenschaftlerinnen gehen aber davon aus, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher ist und die Zahl der indirekten Opfer ein Vielfaches davon beträgt.

Berliner Zeitung [8]

Zeitenwende 2022 und andere Zeitenwenden

Diese dramatischen Angaben machen deutlich, dass der Begriff "Zeitenwende" trügerisch ist. So bitter jedes Schicksal ist, so katastrophal jede Zerstörung, wir haben es in der Ukraine mitnichten mit etwas zu tun, was die Welt seit dem Ende des letzten großen Krieges noch nicht gesehen hat.

Das Friedensgutachten führt als weitere implizite Begründung für den Begriff "Zeitenwende" an, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine "die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zerstört" habe. Dies unterstellt, dass es eine solche Ordnung gegeben hat.

Was eine Friedensordnung in Europa angeht, übergeht das Papier grundlegende Eckpfeiler der schon 1975 in Helsinki vereinbarten Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa [9]:

Allgemeine Erwägungen

Nach Erwägung der Ansichten, die zu verschiedenen Themen zum Ausdruck gebracht worden sind, welche mit der Festigung der Sicherheit in Europa durch gemeinsame Bemühungen zur Förderung von Entspannung und Abrüstung zusammenhängen, werden die Teilnehmerstaaten, wenn sie solche Bemühungen unternehmen, in diesem Zusammenhang insbesondere von folgenden wesentlichen Erwägungen ausgehen:

- dem komplementären Charakter der politischen und militärischen Aspekte der Sicherheit;

- der Wechselbeziehung zwischen der Sicherheit eines jeden Teilnehmerstaates und der Sicherheit in Europa als Ganzem sowie der Beziehung, die im weiteren Zusammenhang der Sicherheit der Welt zwischen der Sicherheit in Europa und der Sicherheit im Mittelmeerraum besteht;

- der Achtung der ihrer souveränen Gleichheit innewohnenden Sicherheitsinteressen aller an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teilnehmenden Staaten;

- der Bedeutung, dass die Teilnehmer an Verhandlungsgremien Sorge tragen, andere an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teilnehmende Staaten mit Information über diesbezügliche Entwicklungen, Fortschritte und Ergebnisse auf geeigneter Grundlage zu versehen, sowie dem berechtigten Interesse eines jeden dieser Staaten daran, dass seine Rückäußerungen erwogen werden.

Es liegt auf der Hand, dass die Nato-Osterweiterung diesem Prinzip von Anbeginn widersprochen hat.

Die Nato hat sie exerziert, obwohl es auch auf westlicher Seite nicht an Einsprüchen, etwa von Strategen wie George F. Kennan, Ex-US-Verteidigungsminister Robert McNamara und William Perry, CIA-Chef William Burns und führenden Entspannungspolitikern wie Klaus von Dohnanyi, Egon Bahr und Erhard Eppler gemangelt hat. Sie alle haben sich auch seit Beginn der Nato-Osterweiterung gegen diese Entwicklung ausgesprochen. Zitat von Erhard Eppler [10]:

Hier geht es nicht darum, ob westliche Politiker – mündlich gegebene – Versprechen gebrochen haben, es geht lediglich um die Schilderung der Tatsachen. Dass diese Fakten in Washington oder Berlin andere Gefühle wecken als in Moskau, versteht sich von selbst. In den USA zeigen sie, dass man den Kalten Krieg gewonnen hat. In Moskau fühlt man sich etwa so, wie man sich in Washington fühlen würde, wenn Mexiko oder gar ein abtrünniges Texas ein Militärbündnis mit Russland abgeschlossen hätte.

Welche europäische Friedensordnung?

Die Formulierung, Russland habe "die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zerstört", führt nach dieser unzutreffend einseitigen Schuldzuweisung zu sinnvollen Empfehlungen, die allerdings weiter fragwürdig bleiben, da sie einem Friedensgutachten für Waffen und militärische Strategien eintreten. Das Gutachten empfiehlt auf Seite 26 [11]:

Nach dem Krieg muss deshalb nicht nur die Ukraine wieder aufgebaut werden. Es muss auch ein neues Konzept europäischer Sicherheit entwickelt werden, das Verteidigungsfähigkeit mit einer langfristigen Perspektive auf zukünftige kooperative Sicherheitsstrukturen und dauerhaften Frieden verbindet.

Kooperative Sicherheit muss das langfristige Ziel bleiben

Einen schnellen Weg zurück zu einer europäischen Friedensordnung wird es nach dem russischen Angriffskrieg nicht geben. Dennoch bleibt kooperative Sicherheit auf lange Sicht die einzige Möglichkeit, um den weltpolitischen Herausforderungen zu begegnen.

EU nach innen und außen stärken

In der neuen Sicherheitslage muss die EU ihre Integration nach innen stärken, um ihre drängendsten Aufgaben wie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und die Erweiterungspolitik geschlossen voranzutreiben.

Beschaffungswesen der Bundeswehr muss reformiert werden

Eine Reform des Beschaffungswesens ist für die effektive und effiziente Verwendung des Sondervermögens Bundeswehr unerlässlich. Sie sollte mit Priorität vorangetrieben werden.

Keinen Systemkonflikt heraufbeschwören

Der Westen sollte vermeiden, den Gegensatz von Demokratie und Autokratie zu einem neuen Systemkonflikt zu überhöhen, um China und Russland nicht unnötigen Anlass zur koordinierten Herausforderung liberaler Ordnungsprinzipien zu geben.

Hier wird ebenfalls freundlich verklausuliert eine Theorie über die Genesis des Krieges vorausgesetzt, die umstritten ist. Das Nato-Narrativ geht in der Tat davon aus, dass die Russische Föderation wieder die Ausmaße und Macht des Zarenreichs und der Sowjetunion zurückgewinnen will. Eine andere Genesis des Krieges wird hier nicht in Andeutungen für erwägenswert gehalten.

Es ist vor dem Hintergrund der durch die Nato-Osterweiterung untergrabenen Vision einer Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit, die die Sicherheit eines jeden, also genauso die der westlichen Staaten wie die Russlands, notwendig, sich die Entwicklung zu vergegenwärtigen, die in den Wochen vor Kriegsbeginn zu beklagen war.

Rückblick: die russischen Vorschläge

Die russische Regierung unternahm im Dezember 2021 einen erneuten Versuch, die von ihr als Bedrohungslage eingestufte Gefahr, dass nun auch noch die Ukraine mit ihrer hunderte Kilometer langen Grenze und einer sich abzeichnenden auch nuklearen Kooperation mit den USA entsprechend der geänderten ukrainischen Verfassung und entsprechend vielen Verlautbarungen der Regierung Selenskyj Nato-Mitglied wird, durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen.

Die russischen Vertragsvorschläge enthielten diese Kernforderungen [12]:

• keine erneute Erweiterung der NATO nach Osten bis an die russische Westgrenze,

• Rückbau der militärischen NATO-Präsenz auf den Stand von 1997, als NATO-Russland-Grundakte von beiden Seiten vereinbart worden war

• Truppenreduzierung beiderseits der Grenze in einer gemeinsam festzulegenden Breite,

• keine Stationierung von Atomwaffen außerhalb der nationalen Territorien (also auch keine "nukleare Teilhabe" von Nichtatomwaffenstaaten)

• und keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa.

Diese Forderungen lehnten die USA und die NATO Anfang Februar ab. Am 19. Februar 2022 betonte Präsident Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Forderung nach einem Nato-Beitritt der Ukraine als Ziel für den Nato-Gipfel in Madrid [13].

Die analytischen und dadurch auch in ihren Auswirkungen auf die Empfehlungen bedenklichen Schwächen des Gutachtens bedeuten, dass so sinnvolle Empfehlungen wie die folgenden Gefahr laufen, zu Lippenbekenntnissen der Politik missbraucht zu werden, sodass sie von Frieden sprechen und weiter Öl ins Feuer gießen.

Freilich gibt es einige Forderungen der Friedensforschungsinstitute, die es verdienen, im Diskurs mit der Friedensbewegung im Rahmen einer kohärenten Strategie diskutiert und fortentwickelt zu werden:


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7151447

Links in diesem Artikel:
[1] https://friedensgutachten.de/2022/ausgabe
[2] https://www.fr.de/politik/ukraine-news-schwere-verluste-russland-soldaten-militaer-panzer-krieg-zr-91597695.html
[3] https://www.nzz.ch/visuals/ukraine-krieg-die-wichtigsten-zahlen-zu-den-opfern-ld.1674853
[4] https://www.ohchr.org/en/news/2022/06/ukraine-civilian-casualty-update-21-june-2022
[5] https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/BodyCount_internationale_Auflage_deutsch_2015.pdf
[6] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_7073020.html?back=7151447;back=7151447
[7] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_7073020.html?back=7151447;back=7151447
[8] https://www.berliner-zeitung.de/open-source/wie-viele-menschen-starben-im-krieg-gegen-den-terror-li.183169
[9] https://www.osce.org/files/f/documents/6/e/39503.pdf
[10] https://le-bohemien.net/2016/08/11/die-verkannte-demuetigung-der-russen/
[11] https://friedensgutachten.de/user/pages/02.2022/02.ausgabe/01.Gutachten_Gesamt/FGA2022_Gesamt.pdf
[12] https://friedensratschlag.de/2022/06/baf-positionspapier-ukrainekrieg/
[13] https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/346833/dokumentation-rede-des-ukrainischen-praesidenten-wolodymyr-selenskyj-auf-der-58-muenchener-sicherheitskonferenz-19-02-2022-muenchen/