Gefährlich = verrückt = verwahrt?

Der Druck der Straße sorgte dafür, dass sich seit 2010 viele aus der Sicherheitsverwahrung Entlassene "freiwillig" wieder hinter (irgendwelche) Gitter begeben haben, die Zahl der Sicherheitsverwahrten wird bald einen Rekordstand erreichen

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Wegen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts mussten dieses Jahr einige Gefangene aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Aber wenn diese sogenannten Altfälle frei kommen, werden sie regelmäßig von Anwohnern, Lokalpolitikern und Boulevard-Presse vertrieben. Gegen die deutsche Bevölkerung ist eine Reform, die die Präventivhaft einschränken würde, anscheinend nicht durchzusetzen. Die Zahl der Gefangenen in Sicherungsverwahrung könnte bald neue Höchststände erreichen.

"Ich bin der Meinung, dass jemand, der eine Frau vergewaltigt oder eine Sexualstraftat begeht - der hat sein Recht in dieser Gesellschaft verwirkt."

Als Til Schweiger Anfang des Jahres in der ZDF-Talkshow Markus Lanz sich beim Thema "Kinderschänder" erregte, reagierte das Publikum im Saal spontan mit Applaus. Der Schauspieler forderte unter anderem ein öffentliches Register für Sexualstraftäter und beklagte "dieses deutsche Gutmenschentum".

Wohin mit den Kinderschändern, den Vergewaltigern und Mördern? Schweigers Lösungsvorschlag trifft die Haltung der meisten Deutschen genau. Sie wollen "diese Menschen" verschwinden lassen und sich dabei nicht von Recht und Gesetzen behindern lassen. Und wenn sie schon nicht für immer weggesperrt werden (können), dann sollen sie wenigstens nicht in die Nachbarschaft ziehen!

Das Beispiel von Heinsberg-Randerath hat Schule gemacht. Dort demonstrierten Dorfbewohner über ein Jahr lang gegen den Zuzug des entlassenen Straftäters Karl D., zeitweise täglich. Wegen ihres Protestes und der Dauerüberwachung durch die Polizei hat sich D. mittlerweile in eine geschlossene Einrichtung einweisen lassen. Ganz ähnlich reagierte nun das Dorf Insel bei Stendal in Sachsen-Anhalt auf zwei ehemalige Sicherungsverwahrte. Der Bürgermeister des Ortes meldete die Demonstrationen gegen ihre Anwesenheit selbst an.

Auch in der Großstadt Hamburg verhinderte Druck aus der Bevölkerung, dass der ehemalige Verwahrte Hans-Peter W. dort untergebracht werden konnte. Laut der Zeit hatte W. mittlerweile sechs verschiedene Wohnsitze und wurde aus jedem vertrieben. Anwohner, Lokalpolitik und Boulevard-Presse bilden einen sich aufschaukelnden Regelkreis. Regelmäßig enttarnen Boulevard-Medien die Zugezogenen als "tickende Zeitbomben", lassen sie von Fotografen verfolgen und befragen schon mal Kinder auf Spielplätzen, ob sie sich auch fürchten. Wenn dann Anwohner protestieren, ernten sie häufig Verständnis und Unterstützung von Lokalpolitikern.

Im Fall von Hans-Peter W. schrieb die "Hamburger Morgenpost" im Juli: "Der sadistische Serienvergewaltiger Hans-Peter W. darf mitten in Hamburg leben." Ein paar Tage später beschrieb die Zeitung das von ihr angeheizte Szenario so: "Immer wieder brüllt ein Mann 'Todesstrafe!'. Eine Frau schreit: 'Verpiss dich, du Bestie!'" Auf Details kommt es da offenbar nicht an: So titelt die Bild-Zeitung über Hans-Peter W. "Der Tod ist jetzt auf freiem Fuß - nach 30 Jahren Knast", obwohl der zwar vergewaltigt, aber bis jetzt niemanden umgebracht hat.

In einem anderen Fall wurde ein aus der Sicherungsverwahrung Entlassener aus dem niederbayerischen Natternberg-Deggendorf vertrieben. Wolfgang D., verurteilt wegen zweifacher Vergewaltigung, wohnte ein halbes Jahr im Dorf; mittlerweile ist er in einer geschlossenen Psychiatrie - weil er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, nämlich Cannabis konsumiert hat. In einem lesenswerten Artikel in der Passauer Neuen Presse heißt es über die Situation:

Der Spielplatz ist leer, seit ein Ex-Häftling (46) im Oberen Steinfeld wohnt. (…) "Er ist ein freier Mann und darf laut Recht und Gesetz alles machen − nur nicht bei uns", findet eine Natternbergerin. Dieser Meinung waren am Mittwochabend bei einem privaten Treffen von rund 40 Bürgern eigentlich alle, wird berichtet. … "Weil die Angst immer dabei ist. Weil abends niemand mehr spazieren geht. Weil bald die Sommerferien beginnen und weil wir extra von der Stadt aufs Land gezogen sind, damit die Kinder unbekümmert draußen spielen können." Für die meisten spielt es da keine Rolle, dass der Ex-Häftling nicht pädophil ist.

Der Druck der Straße sorgte dafür, dass sich seit 2010 viele Entlassene "freiwillig" wieder hinter (irgendwelche) Gitter begeben haben. Mittlerweile stehen die verantwortlichen Behörden vor der unangenehmen Alternative, offensiv die Ansiedlung von entlassenen Verwahrten zu vertreten oder sie zu verheimlichen - was regelmäßig auf sie zurückfällt, wenn schließlich doch heraus kommt, wo der neue Nachbar herkommt! Der Hamburger Senat zahlte der Berliner Agentur Johanssen und Kretschmer 3.850 Euro für eine Kommunikationsstrategie, mit der Bevölkerung Hans-Peter W. Vorhandensein erklärt werden sollte - offensichtlich erfolglos.