Gefährlicher Erfolg

"Turbowachstum", Industrialisierungsschub und Inflation verschärfen die Widersprüche in den Golfstaaten

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Während die Weltmacht USA am Rande einer Rezession entlang balanciert und die „Abkopplung“ Europas von der niedergehenden US-Ökonomie ein Wunschtraum bleibt, findet auf der arabischen Halbinsel ein Boom statt, der nur noch von China übertroffen wird. Angestoßen durch die steigende Nachfrage nach Erdöl beträgt das jährliche Wirtschaftswachstum dort seit 2005 auch außerhalb der Ölindustrie durchschnittlich 8%. Das Bruttoinlandsprodukt der sechs Staaten des Golf-Kooperationsrates (GCC) Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, Bahrain, Oman und Vereinigte Arabische Emirate (VAE) hat sich von 2003 bis 2007 auf fast 800 Milliarden Dollar verdoppelt und liegt damit im Bereich des indischen BIP (1 Billion $), obwohl sie mit insgesamt 38 Millionen Einwohnern nur einen Bruchteil der Bevölkerung des Subkontinents aufweisen. Dank der sprudelnden Öleinnahmen lag der Leistungsbilanzüberschuss der GCC-Staaten im vergangenen Jahr bei 225 Milliarden Dollar. Vier Jahre zuvor waren es „nur“ 50 Milliarden $ gewesen.

Während die politischen Strukturen noch weitgehend dem Feudalsystem entstammen, sind die Golfstaaten sozio-ökonomisch längst eine imperialistische Macht, deren Kapitalexport beachtliche Ausmaße angenommen hat. Dem IWF-Direktor für die Region, Mohsin Khan, zufolge flossen allein 2006 3,2 Milliarden $ nach Ägypten sowie jeweils 2,3 Milliarden nach Tunesien und in den Libanon.

Für Aufsehen sorgten in jüngster Zeit auch die arabischen Staatsfonds. So will die saudische Zentralbank in Kürze einen zunächst mit sechs Milliarden Dollar ausgestatteten „souveränen Fond“ für strategische Investitionen im Ausland ins Leben gerufen. Bei dieser Gelegenheit gab sie bekannt, dass der Buchwert ihrer Auslandsanlagen (die vor allem in US-Staatsanleihen gehalten werden) um 80 Milliarden auf nun 301 Milliarden Dollar gestiegen sei. Das Gesamtvolumen der Auslandsinvestitionen der Golfstaaten wird vom IWF auf zwei Billionen Dollar geschätzt. Angesichts gemeinsamer Erlöse aus dem Ölgeschäft von 400 Mrd.$ im vergangenen Jahr, weiter steigender Ölpreise und einer forcierten Ölproduktion wird es dabei nicht bleiben.

Ein zunehmend größerer Teil der Einnahmen fließt allerdings in die Binnenentwicklung. Der Arabien-Experte und Professor an der Washingtoner Georgetown University, Jean-Francois Seznec, erwartet, dass die GCC-Staaten bis 2015 ihre chemische und petrochemische Produktion auf 120 Millionen Tonnen pro Jahr verdoppeln und damit die bislang größten Produzenten USA und Deutschland hinter sich lassen werden. Zu diesem Zweck erwerben die Golfstaaten gezielt industrielle Hochtechnologie. Der saudische Chemiekonzern Sabic kauft sie (wie bei der Übernahme des Kunststoffunternehmens von General Electric) oder entwickelt sie in seinen vier Forschungszentren selbst. Auch bei der Aluminiumproduktion werden die sechs Wüstenstaaten nach Ansicht von Seznec 2015 mit einem Weltmarktanteil von 25% den ersten Platz einnehmen. Nicht zu unterschätzen sei darüber hinaus die Dynamik in der Automobil- und Stahlindustrie. Bereits heute produzieren in Saudi-Arabien General Motors, Mercedes und Volvo Nutzfahrzeuge.

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sieht die Golfmonarchien denn auch bereits im „Epizentrum der Globalisierung (…), deren Wurzeln in die Zeit des europäischen Kolonialismus zurückreichen. Erst waren die Händler gekommen, dann die Militärs. Heute sind sie Partner einer Globalisierung, die ihnen ihren Stempel aufdrückt. Denn sie verändert sie rascher als die Gesellschaft – mit den Supermärkten und den globalen Markenartikeln, mit den ausländischen Unternehmen und Banken, mit der Art zu wohnen und sich zu kleiden. Zudem kontrollieren Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO) inzwischen den wirtschaftlichen Wandel.“ (FAZ 23.4.3008)

Saudische Ölmonarchie im Dilemma

Tatsächlich bedeutete die Aufnahme Saudi-Arabiens in die WTO 2005 einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung des Landes. Um diesen Beitritt zu ermöglichen, mussten 42 Gesetze geändert und das Justizwesen den Wünschen des Auslandskapitals angepasst werden. Während die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) unter einem massiven Arbeitskräftemangel leiden und die einheimische Bevölkerung bei einem Ausländeranteil von 80% inzwischen zur Minderheit geworden ist, hat die Regionalmacht Saudi-Arabien noch immer mit einer Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen. Laut den offiziellen Zahlen liegt die Erwerbslosenquote bei 11%. Expertenschätzungen zufolge ist tatsächlich aber jeder vierte Saudi im Alter zwischen 20 und 29 Jahren arbeitslos. Um diesen sozialen Sprengstoff zu entschärfen, will die saudische Regierung nun gezielt die Ansiedlung arbeitsintensiver Branchen fördern.

Für weitere Brisanz sorgt die zunehmende Inflation. In Saudi-Arabien schnellte sie von 0,7% in 2005 auf 8,7% im Februar dieses Jahres in die Höhe. Die Nahrungsmittelpreise stiegen um 13% und die Mieten sogar um 18%. Die Ursachen sind unterschiedlicher Art. Zum Teil handelt es sich um typische Überhitzungserscheinungen. Der Wirtschaftsboom hat zu einer Verknappung von qualifizierten Arbeitskräften, Baumaterial und Wohnraum geführt, was u.a. die Immobilienpreise explodieren ließ. Aber auch die massiven staatlichen Investitionen in die Infrastruktur, Gesundheits- und Erziehungswesen zeigten Wirkung. Ebenso der zusätzliche Konsum durch die zinsgünstigen Kredite. Ein nicht unwesentlicher Teil der Inflation wurde allerdings auch durch die höheren Preise der importierten Nahrungsmittel und die Anbindung der heimischen Währungen an den Dollar importiert.

Das Gegensteuern erweist sich als ausnehmend schwierig, da die Ölmonarchie hier in einem Dilemma steckt. Die staatlichen Infrastrukturinvestitionen sind ökonomisch und auch sozial (als materielles Zugeständnis an die Bevölkerung) notwendig und eine Abkopplung vom Dollar wäre derzeit wenig ratsam. IWF-Regionaldirektor Khan warnte in diesem Zusammenhang die Golfstaaten vor der Vernichtung eines Teils ihres Vermögens, da der allergrößte Teil der arabischen Auslandsinvestitionen von ca. 2 Billionen Dollar in US-Währung gehalten werde. Eine Aufwertung der eigenen Währungen um 20% würde Vermögen im Gegenwert der Hälfte des heutigen GCC-Bruttoinlandsproduktes vernichten.

Die saudische Zentralbank versucht es daher mit sekundären Maßnahmen wie einer Erhöhung der Mindestreserven und geringerer Verzinsung der Einlagen der Geschäftsbanken, während die saudische Regierung die Subventionen für Grundnahrungsmittel heraufsetzte, den Importzoll auf Nahrungsmittel senkte, die Fertigstellung von Neubauten beschleunigte und im Februar die Löhne und Gehälter um 5% anhob. Die entscheidende Geldmenge M3 wuchs in den zwölf Monaten bis Januar 2008 dennoch um satte 24%.

Westliche Beobachter und liberale arabische Intellektuelle, wie die Politikprofessorin Ibtisam Kitbi von der Universität der VAE, befürchten deshalb, dass die turbulente ökonomische Entwicklung und die sozialen Veränderungen (inklusive der Entwicklung bürgerlicher Mittelschichten und eines erheblichen Industrieproletariats) angesichts des „Mangels an Kanälen, die eigene Meinung zu äußern, nichtstaatliche Organisationen zu gründen und an politischen Entscheidungen teilzuhaben, früher oder später zu einer Explosion führen könne“. In jedem Fall – hielt die FAZ am 23.4.2008 fest – habe die Wirtschaft und die Globalisierung eine „Schneise“ in die Golfstaaten geschlagen. „Entlang dieses Weges können die politischen Änderungen auf Dauer nicht ausbleiben.“