Gefahr im Anzug - und mit Krawatte

Was uns Frédéric Beigbeder mit seinem Roman 99 Francs alles sagen könnte, wenn wir genauer hinlesen würden

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Man sollte eigentlich in einem Online-Magazin über elektronische Dinge schreiben. Nicht über einen so abgefrühstückten Scheiß wie Romane. Man sollte vielmehr den Versuch einer Exegese der aktuellsten Version von Pac-Man ins Auge fassen. Oder Netzkunst begutachten, die neue Farbschattierungen aus dem Ereignis eines Bluescreens hervorzuzaubern vermag. Hatte Yves Klein eigentlich Kinder? Und arbeiten die heute bei Microsoft?

Doch zurück zum Thema: Mit 99 Francs hat der Erbfreund jenseits des Rheins im ewigen Wettstreit um die coolsten Intellektuellen und popkulturellsten Texte wieder einmal eine Marke gesetzt, die man nicht ignorieren kann. Werbemann Frédéric schreibt über Werbemann Octave und dessen Probleme mit Joghurt und Kokain. Octave erzählt uns hauptsächlich Dinge, die wir eh schon wissen. Und der Rest interessiert uns nicht wirklich. Wirklich nicht? Ich behaupte: 99 Francs könnte einer der für Intellektuelle relevantesten Frankreich-Exporte seit diesen schwarzen Rollkragenpullovern sein.

Wir müssen uns nur schnell daran erinnern, dass "kreativer Mitarbeiter in einer Werbeagentur" und der ganze Job-Halo drumherum das Prä-Netz-Pendant zu "Ich mach irgendwas mit Online" gewesen ist. 99 Francs bietet den trendigen Projektleitern und Providern von heute somit einen Ausblick in ihre eigene Zukunft und zeigt ihnen das Leben in jener immer schneller herannahenden Zeit, in der ein Job in der Internet-Branche ungefähr genauso sexy sein wird wie die Position eines Sachbearbeiters im Atomkraftwerk. Es hat alles vielversprechend angefangen. Man hat Wissenschaft und Regierung geglaubt und ist in die Zukunftsbranche gegangen. Heute ist man eindeutig böse und hirntot und man fragt sich, warum.

Was Beigbeder beschreibt, kommt dem Telepolis-Leser bekannt vor. Das Wort "Glück" ist das Eigentum von Nestlé und auch sonst sind alle Domains schon besetzt; überall parkt der fette Arsch eines Megakonzerns und dünstet umweltschädliche Gase aus. Die Megakonzerne ihrerseits bestehen personalseitig aus geisteskranken Soziopathen und debilen Langweilern. Ist es nicht so? Volle Zustimmung, Herr Beigbeder! Es ist genau so!

Was Beigbeder macht, würde sich von den Deutschen Popliteraten niemand trauen. Er schreibt einfach, wie es ist. Oder wie er es in Le Monde Diplomatique gelesen hat. Wie auch immer: Es kommt gerade heraus, was er schreibt. Viele Rezensenten regen sich darüber auf, dass so viele Markennamen und Slogans in dem Buch vorkommen. Das ist ein lustiges Stilmittel, genauso wie es spaßig ist, wenn sich der Autor an den Leser randuzt. So hätte es sein können, wenn auch Du in die Werbung gegangen wärst, mein Sohn! Anstatt Netscape für seine Javascript-Implementation zu verfluchen (und anschließend Dich selbst, weil Du mittlerweile Wörter wie "Implementation" benutzt), wüsstest Du jetzt, wie Pariser Hurenhäuser von innen aussehen und wie man verschnittenes Kokain so geschickt mit der Kreditkarte kleinhäckselt, dass es möglichst smooth durch die Nasenschleimhäute durchgeht. Diese Teile des Buchs erinnern mich an jene Zeiten, in denen rote Hosenträger als schick gegolten haben.

Es fällt auf, wie sehr der Job des Werbers und der des Wissenschaftlers sich einander angenähert haben. Ohne die Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie würden die Werber ziemlich alt aussehen und andererseits könnten unsere publicitygeilen Genomforscherfreaks ihre dubiosen Ziele niemals ohne die subtilen Techniken der zeitgenössischen PR durchsetzen. So ist es. Beigbeder vergisst, das in dieser Deutlichkeit zu erwähnen, aber es ist so. Und ich erledige das ja jetzt für ihn. Überhaupt, die Selbstbespiegelung im literarischen Alter Ego. Das ist besser als Reich-Ranickis Mundgeruch! Ich erfinde mich als zeitgenössischen Wissenschaftler und fange an, zu projizieren: Morgens stehe ich auf, kratze mich am Sack und denke mir einen genialen Slogan für mein nächstes Paper aus. An der Kaffeemaschine denke ich: Meine Frau könnte mich verlassen haben, wenn ich jemals eine gehabt hätte. Ja. Das hätte sie bestimmt. Sie hätte auch das Kind mitgenommen, wie bei Beigbeders Octave. Das ist wahr. Darum hat Beigbeder auch recht und sein Buch ist schön und gut. Meine Produkte müssen auch ankommen. Wir müssen dem American Science Marketing endlich etwas entgegensetzen. Diese ganzen Klugscheißer vom M.I.T. und aus Stanford kochen auch nur mit Wasser. Aber wenn sie das tun, dann pappen sie vorher noch "San Pellegrino" oder "Evian" drauf und es sprudelt dreimal so lecker. Also entwerfen auch wir stromlinienförmige Grafiken, denn: Werbung ist Wissenschaft - Wissenschaft ist Werbung!

Wo Beigbeder Marken und Slogans zitiert, da operiere ich mit den Namen von Philosophen und deren klugen Sprüchen. Je mehr kluge Leute vor uns gelebt haben und ihre Gedanken unauslöschlich in Steintafeln gemeisselt und auf säurefreiem Papier gespeichert haben, desto weniger müssen wir selbst denken. Aber auch die Superdenker müssen sich auf ihrem Markt angemessen platzieren. Würde sich heute noch jemand für Wittgenstein interessieren, wenn er nicht diesen einen schlauen Aphorismus ans Ende seines Tractatus-Manuskripts gebastelt hätte? Man würde von ihm schweigen, das ist alles. Aber mein Darling heißt Nietzsche. "Nietzsche", das klingt schon so blutig nasal... wie bei Beigbeders Kokainbubi. Nietzsche hat absolut alles richtig gemacht. Ein guter Mann, ein echtes Vorbild für uns alle. Der Zarathustra funktioniert wie eine Sitcom. Nur ist er zu lang. Dieser abgefahrene Hippie Zarathustra! Die sprechenden Tiere! Wo bleibt eigentlich die Walt-Disney-Verfilmung von "Also sprach Zarathustra"? Da ist das Copyright doch bestimmt schon abgelaufen! Ich will Donald Duck als Zarathustra sehen, das ist mein gutes Recht als Untertan des Imperium Americanum! Und diese unzähligen cleveren Sprüche - "Göttlich!" könnte man sagen, wenn Nietzsche den nicht schon in einem weiteren coolen Aphorismus nebenbei erledigt hätte. Aber das ist alles ein Witz, verglichen mit Nietzsches grösstem Coup: Er hängt sich an den Popstar Wagner, jubelt ihn empor, um ihn dann wieder fallen zu lassen und verbal in den Dreck zu treten. Ein Manöver, das unzähligen geifernden Boulevardredakteuren heute noch Vorbild sein muss. Ich weiss: Nietzsche TV wird der Nachfolger von ARTE werden. Mit Derrida und Sloterdijk als Moderatoren. Nietzsche TV - Das Fernsehen ist da, um überwunden zu werden!

Man sieht, das name dropping muss heutzutage lasergesteuert präzise ins Ziel gehen. Nichts dem Zufall überlassen. Bei Präsentationen lieber kein Powerpoint benutzen. Denn das gibt Kopfweh. Ich entschlüssle das menschliche Genom und patentiere es. Der Bundeskanzler kommt und schüttelt mir die Hand. Ich brauche seinen Abglanz nicht, er braucht meinen. Aber ich bin auch nur eine Marionette des Megakonzerns, der mich finanziert. Beigbeder schreibt: Die Megakonzerne zerstören nicht nur unsere Zivilisation, sondern die ganze Erde gleich mit. Und wenn wir nicht mehr sind, dann ist es eh egal, ob die Erde noch da ist oder nicht. Also müssen die Megakonzerne zerstört werden, und zwar schnell, bevor alles im Vortex der Finsternis verschwindet. Jeder einzelne der verzweifelt locker schwingenden Sätze von Beigbeder ist ein Schrei nach Vergeltung. Er ist deutlicher noch als die perfekte Ödnis Houellebecq'scher Charaktere oder die kalkulierte Oberflächlichkeit Kracht'scher Society-Trottel. Literatur ist immer nur so gut wie ihr Angriffspotential.

Aber: Wer soll die Megakonzerne ihrer gerechten Strafe zuführen? Wer soll Billys noch blutig tropfenden Kopf auf einem Spieß an der Spitze eines Fackelzugs durchs nächtliche Seattle tragen? Der Staat etwa? Viel zu machtlos. Der einzige Grund, warum ein Staat in der Beigbeder-Welt noch existiert - auch das hat er richtig erkannt - ist der, dass die Megakonzerne einen Werkschutz und einen Sündenbock brauchen. Du hast recht, Frédéric! Das ist so präzise und schön, dass ich weinen könnte, ich Sensibelchen. Warum parken die wütenden Fernfahrer vor dem Bundestag, anstatt vor den Zentralen der Ölkonzerne? Weil wir noch wie im 19. Jahrhundert denken. Die Konzerne verseuchen - wir trotteligen Untertanen prügeln den Staat und damit uns selbst. Beigbeder kommt penetrant oft mit Hitler als Vergleich. Wenn Nietzsche Gott für tot erklärt hat, dann hat Hitler den Staat zum Gott erhoben und damit getötet. In dieses Machtvakuum sind die Megakonzerne gerutscht. Nicht, dass sie nicht schon vorher geduldig darauf gewartet hätten.

Beigbeders restliche Dilemmata kann man auch billiger in einer aktuellen Ausgabe von Werben und Verkaufen nachlesen. Kreative Werber kämpfen gegen dumme Kunden und sahnen dabei ab. Dumm nur: Das System verbraucht auch seine leitenden Angestellten. Die sind noch verbitterter als das untere Personal, denn sie blicken durch und können gleichzeitig absolut nichts dagegen tun, denn die Hierarchie ist auch im Elektrokommerz-Zeitalter gerade mal so flach, dass man über sich selbst immer noch mindestens einen weiteren Boss hat.

Die Zukunftsvision ist Extasy für das Volk.

Frédéric Beigbeder: 99 Francs. Paris: Grasset, 2000. Preis: 15,10 Euro