Gelbe Westen jetzt auch in Ungarn?

Victor Orban. Foto: European People's Party / CC BY 2.0

Es ist ein genuin sozialer Protest; es wird sich zeigen, ob dieser Charakter erhalten bleibt

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"Aufstand gegen Orbans Sklaverei-Gesetz" - die Überschrift des Spiegel über die Proteste in Ungarn klang martialisch. Anders als bei den Gelben Westen (häufig auch: Gelbwesten) in Frankreich wurde auch nicht von einer Querfront geredet, obwohl die ultrarechte Jobbik-Bewegung in Ungarn ganz selbstverständlicher Teil der Proteste war und ist.

Die Ungarn-Fahnen sind omnipräsent. Daneben versammeln sich in Ungarn auch Liberale mit EU-Fahnen und die versprengen Reste der ungarischen Linken und Gewerkschaften. Auslöser für die Demonstrationen waren soziale Proteste. Denn das "Sklavereigesetz" ist nur die jüngste der kapitalfreundlichen Maßnahmen der Orban-Regierung.

Mit dieser Arbeitsrechtsnovelle wird die jährlich mögliche Überstundenzahl von 250 auf 400 erhöht. Zugleich können sich Arbeitgeber mit der Bezahlung der Zusatzarbeit künftig drei Jahre Zeit lassen statt wie bisher ein Jahr.

Orban und seine Regierung verfolgen mit dieser Politik den gleichen Zweck wie alle Austeritätspolitiker von Thatcher über Schröder bis Macron. Sie wollen den Preis der Ware Arbeitskraft senken und erhoffen sich so Vorteile in der innerkapitalistischen Konkurrenz.

Deutsche Konzerne profitieren vom Modell Orban

Konkret sieht das so aus, dass deutsche Konzerne wie BMW ihre Werke nach Ungarn verlagern, weil sie von der konzernfreundlichen Politik profitieren.

Mit der Ideologie der Volksgemeinschaft, mit Sicherheitsdiskursen, Rassismus und Nationalismus versuchen die Rechten zu verhindern, dass sich die Beschäftigten gemeinsam organisieren, streiken und deutlich machen, dass sie eine Produzentenmacht haben. Im Fall Ungarn kommt noch ein spezifischer Antisemitismus hinzu. Prompt wird George Soros, der das spezielle Feindbild der ungarischen Rechten ist, nun auch für diese Proteste verantwortlich gemacht.

Damit bewegen sie sich auf altem antisemitischem Gelände. Als vor fast 100 Jahren die ungarische Räterepublik die Hoffnung erweckte, auch in ihrem Land stünde eine Alternative zum Kapitalismus auf der Tagesordnung, reagierten die alten Mächte mit einem Antisemitismus, der sie schließlich zum Partner bei der Shoah werden ließ. Die ungarische Rechtsregierung hat viele der damaligen Protagonisten rehabilitiert.

Die österreichische Rechtsregierung, die mit ihren kapitalfreundlichen Maßnahmen ihren ungarischen Kollegen kaum nachsteht, ist in den letzten Wochen auch mit stärker werdenden sozialen Protesten konfrontiert. Sie werden medial weniger beachtet. Dagegen setzt die Rechtsregierung auf den Sicherheitsdiskurs, wie Reinhard Kreissl vom Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung in einem Interview erläuterte.

In Österreich haben wir gerade eine typische Konstellation: Auf der einen Seite ein Programm der neoliberalen Modernisierung, das heißt Abbau von sozialstaatlichen Rechten und Leistungen und parallel dazu eine Reihe von immer wieder aufgekochten Sicherheitsproblemen. Wir bauen den Sozialstaat ab, und zur Ablenkung bauen wir vorne große Bedrohungen auf: Ausländer, Terroristen, Migration, die Kriminalität, auch wenn sie in Wirklichkeit sinkt. Wenn ich das Sicherheitsgefühl der Menschen permanent mit Meldungen wie "Vorsicht, Ausländer!" oder "Vorsicht, Drogensüchtige!" bombardiere, dann führt das zu einer latenten Verunsicherung, obwohl es keinen Grund dazu gibt.

Reinhard Kreissl, Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung

Soros oder Russland - die unterschiedlichen Verschwörungstheorien gegen die Proteste

Gegen die Gelbwesten in Frankreich reagieren die Freunde der Regierung Macron nicht mit Antisemitismus, sondern mit einer anderen Verschwörungstheorie. Danach steht Russland hinter diesen Protesten. Konkret sollen von Russland gesteuert Fake-News-Seiten für die Ausbreitung der Proteste verantwortlich sein. Darauf gab der Wiener Publizist Robert Misik in der Taz einen guten Konter:

Letzteres ist sicher auch nicht falsch - aber der Glaube, eine sinistre Macht könnte Unmut nach Belieben entfachen und steuern und hinter jeder diffusen Erscheinung, die noch nicht völlig eindeutig interpretiert werden kann, stünde einer, der im Hintergrund die Fäden zieht, lappt schon sehr in Richtung Verschwörungstheorie. Die Idee von Putins Posting-Armeen ist in gewisser Weise die Verschwörungstheorie, die gegenwärtig im liberalen Zentrum beliebt ist. Sie wird eben bloß nicht Verschwörungstheorie genannt, weil die Anhänger dieser Verschwörungstheorie üblicherweise über Anhänger von Verschwörungstheorien lachen. Eine Verschwörungstheorie für Gegner von Verschwörungstheorien, was für eine praktische Sache!

Robert Misik, Taz

Es wäre tatsächlich viel gewonnen, wenn die Proteste in Ungarn nicht für unterschiedliche Formen der Kapitalherrschaft nach dem Motto "Modell Orban versus Modell Macron" vereinnahmt werden könnten. Beide rollen dem Kapital den Teppich aus auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit.