George Tenets Mäuschen

Bob Woodward über die Geburtstunden des US-Kriegskabinetts

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Sucht man eine nahezu lückenlose Rekonstruktion der US-Regierungsentscheidungen in den ersten Monaten nach den Terroranschlägen vom 11. September, gibt es derzeit nur eine einzige Quelle, die die offizielle Geschichtsschreibung beeinflussen wird: Den Bericht des Watergate-Enthüllers Bob Woodward "Bush at War. Amerika im Krieg", der als Spiegel-Buch im DVA veröffentlicht wurde.

Bob Woodward erzählt seine Geschichte eigentlich wie meine verstorbene Großmutter. Sie war eine begnadete Erzählerin und konnte aus der kleinsten alltäglichen Begebenheit eine lustige Geschichte machen. Erstaunlich für uns alle war, wie genau sie sich daran erinnern konnte, wer was zu wem sagte und was dieser dann darauf antwortete und so weiter. Und in den späteren Jahren, wenn sie alte Geschichten immer wieder erzählte, waren für uns auch die kleinen inhaltlichen Veränderungen interessant, die sich in ihre Geschichten einschlichen, wodurch diese ganz neue Wendungen erhielten. Auch erzählte sie Geschichten nach, die sie irgendwie erfahren hatte. Was den Wirklichkeitsgehalt dieser Nacherzählungen anbelangte, die wir natürlich auch genossen, waren wir allerdings etwas vorsichtig.

Bob Woodward erinnerte mich nun ganz an meine Oma in ihren späten Jahren. Wortwörtlich gibt er Gesprächsverläufe aus dem Lageraum des Weißen Hauses wieder, als hätte er Mäuschen gespielt. Um die Geschichten noch dramatischer und aufregender zu erzählen, ließ meine Oma übrigens auch Nebenfiguren das Ereignis kommentieren. Wobei diese in den Mund gelegten Kommentare - dabei haben wir sie ertappt - eher das reflektierten, was diese Nebenfiguren Omas Ansicht wohl gedacht haben.

Auch Woodward weiß, was Menschen denken. So zitiert er etwa die oberste Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice mit dem Gedanken, dass sich die Arbeit der CIA der vergangenen Jahren in Afghanistan nun langsam auszahle. Dies ehrt zwar CIA-Direktor George Tenet, passt jedoch nicht ganz zu den Erfahrungen vor Ort, die der ehemalige CIA-Operationsleiter im Nahen Osten, Robert Baer, in seinem Buch "Der Niedergang der CIA" schilderte.

Tag für Tag, vom 11. September bis 12. November, erzählt Woodword nach, welche Gespräche am Kabinettstisch geführt wurden und welche Entscheidungen getroffen wurden. Er weiß, in welcher Tonlage die Gespräche stattfanden und ob sich jemand gefreut und geärgert hat. Doch wen wundert es? Woodward war bei keinem einzigen Gespräch dabei. Dabei, so schreibt er in seinem "Hinweis an die Leser", stammen viele direkte Zitate aus den Aufzeichnungen der Kabinettmitgliedern, aus Memos, Terminkalendern, internen Chronologien, Transkripten "und sonstigen Dokumenten". Auch führte er Interviews mit über einhundert Beteiligten, darunter George W. Bush, einigen Kabinettsmitglieder, und vielen, vielen Beamten. Genau diese Fülle von Hintergrundmaterial macht die Glaubwürdigkeit von "Bush at War" aus.

Unerwähnt bleibt jedoch Woodwards wichtigste Quelle: CIA-Direktor George Tenet. So schildert Woodward etwa den Morgen des 16. Septembers 2001 ganz aus Tenets Perspektive. Tenet schrieb vor der morgendlichen Sitzung mit Bush ein Memo an sein eigenes Beratungsteam, das Woodward fast wortwörtlich wiedergibt. Die Überschrift: "Wir sind im Krieg". Auch berichtet Woodward über Entscheidungen im CIA-Hauptquartier und verdeckte CIA-Operationen in Afghanistan. Die Details aus den täglichen "President's DailyBriefings", die Tenet Bush unter vier Augen nur mündlich gab, wären ohne die Mithilfe Tenets ebenfalls nie ans Licht gekommen. Bushs Vorgänger hatten übrigens immer schriftliche Kurzinformationen erhalten - die dann irgendwann auch über den "Freedom of Information Act" der Öffentlichkeit zugänglich waren.

An diesen CIA-Analysen der "President's DailyBriefings" war übrigens der Untersuchungsausschuss des Kongresses brennend interessiert - vergeblich. Bush, alles andere als ein Freund der Informationsfreiheit, sagte laut Woodward: "Ich will den Kongress zufrieden stellen, ohne eingestufte Informationen preis zu geben." Und so war es auch:

Am 6. August hatte Bush das CIA-Briefing "Bin Laden determined to strike in the U.S." erhalten. Dieses hatte man auf die Bitte Bushs ausgearbeitet, nachdem er über ernst zu nehmende Warnungen über einen im Sommer 2001 bevorstehenden Angriff unterrichtet worden war. Bis heute ist das Briefing jedoch unter Verschluss.

Für den Politikwissenschaftler Nafeez Ahmed, der kürzlich die gründliche Analyse "Geheimsache 09/11" veröffentlichte, ist "die standhafte Weigerung der Regierung, diese Informationen freizugeben, ein Indiz dafür, dass das politische Establishment der USA sicherlich häufiger von den Angriffen gewarnt worden ist, als bisher zugegeben wird". Solche für die CIA eher belastenden Informationen erhielt Woodward von Tenet allerdings nicht. Nach kritischen Hintergrundinformationen sucht man in diesem Buch auch vergebens, schildert es doch genau die offizielle Sicht der Dinge.

Ironischerweise jedoch sind es George Tenet und Donald Rumsfeld, die das Heraussickern unerwünschter Informationen unnachgiebig in ihren Behörden verfolgen, so der US-Verein Accuracy in Media. Woodward zitiert einen von Tenets Zornausbrüchen: "Die undichten Stellen werden uns umbringen." Hätte jemand anders als Tenet Woodward die Informationen gesteckt, meint "Accuracy in Media", wäre wohl die Bürokratie damit beschäftigt, Berichte zur Schadensabschätzung zu schreiben. Und das Justizministerium müsste eine Untersuchung gegen den Whistle-Blower in Gang setzen. Doch dergleichen ist bislang nicht geschehen und wird aller Voraussicht nach auch nicht mehr geschehen.

George Tenet war als CIA-Direktor derjenige, der nach dem 11. September am meisten zu verlieren hatte. Schließlich waren die Anschläge nur deshalb gelungen, weil, so die öffentliche Meinung, die Geheimdienste umfassend versagt hatten. Was schreibt Woodward darüber, was die CIA über die Attentatspläne wusste?

Tenet bleibt jedenfalls am Morgen des 11. Septembers merkwürdig gelassen: Zwei Flugzeuge waren bereits in die Türme des World Trade Centers gerast, ein drittes hatte das Pentagon getroffen. In allen drei Fällen waren Abfangjäger nicht rechzeitig zur Stelle gewesen, obwohl die gültigen Verfahrensrichtlinien dies verlangt hätten. Es ist 9.50 Uhr. Eine vierte Maschine befindet sich im Anflug auf Washington. Tenets Reaktion: "Wir müssen das Gebäude räumen." Um 15.30 Uhr eröffnet Bush auf der Offut Air Force Base in Nebraska die erste Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats. Tenet berichtet, dass "mit nahezu vollständiger Gewissheit" Bin Laden hinter den Anschlägen stecke.

Tage zuvor, so Tenet, habe man einschlägige Informationen aufgefangen, "die aber erst jetzt übersetzt worden waren". Demnach hatten mehrere Aktivisten ein Großereignis erwartet. Dabei hatte die CIA schon Monate vor dem 11. September gewusst, dass sich mindestens zwei Terroristen mit Verbindungen zu Al-Qaida in den USA aufhielten. Den Namen des mutmaßlichen Chefplaners, Chalid Scheich Mohammed, erklärte die CIA nach den Anschlägen sogar zur absoluten Verschlusssache, obwohl mehrere Medien über ihn berichtet hatten. Für Nafeez Ahmed scheint damit klar zu sein, "dass CIA-Direktor George Tenet, der diesen Informationsstopp veranlasste, dadurch zu verhindern sucht, dass die Öffentlichkeit erfährt, was die CIA über den Organisator des 11.9. wusste und welche konkreten Maßnahmen sie vor den Terroranschlägen ergriff".

Am 11. September selbst waren bei der zuständigen NSA übrigens auf einmal genügend Übersetzer vorhanden und auch die Informationsübermittlung klappte einwandfrei: Noch am gleichen Tag hatten Beamte Senator Orin Hatch über einen Mitschnitt informiert, demzufolge sich zwei Bin-Laden-Anhänger darüber freuten, dass die Ziele getroffen worden seien. Davon ist jedoch bei Woodward nichts zu lesen - wie überhaupt kritische Kommentare mit der Lupe zu suchen sind.

Für den konservativen Watchdog "Accuracy in Media" steht jedenfalls fest, dass Woodward Tenet für sein Entgegenkommen zum "absoluten Star" des Buches gemacht hat. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus stehe über ihm nur noch der Präsident. Der republikanische Senator Richard Shelby hingegen hatte in seinem Bericht über den 11. September festgestellt, dass Tenet mehr als jeder andere CIA-Direktor zuvor fehlerhafte Aufklärungsarbeit übersehen habe.

FBI-Chef Mueller kommt in Woodwards Buch übrigens nur als Marginalie vor. Seinen schon fast ausführlichsten Auftritt bei Woodward hatte der frisch gebackene FBI-Chef am 15. September, als er vor dem Kabinett über die Ermittlungen berichtete. Kein Wort verliert Woodward zu den Ermittlungsergebnissen, dafür leitet er rasch zum nächsten Teilnehmer über: Mueller "merkte, dass er fast stammelte, und überließ das Wort rasch dem nächsten".