Geschichten aus der Moderne vom Bio-Opa für seine virtuellen Enkel

Das "GrandChair"-Projekt des MIT

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Großeltern sind randvolle biologische Datenbanken, die über die schlechte alte Zeit mindestens so viel zu erzählen vermögen wie über die gute. Nicht nur jener berühmte "rote Großvater" kann über seine Kampf- und Drangzeit berichten, auch auf der Suche nach dem verlorenen Alltag von Oma und Opa Jedermann gibt es spannende Geschichten zu hören. Aber wer hat noch Zeit, Großeltern zu lauschen, wenn selbst die Kids inzwischen in einem verplanten Alltag zwischen Schule, Musikunterricht und Reitstunde selten auf den Schoß der Alten gelangen, um sich erfahrungsgesättigte "Face-to-face"-Geschichten anzuhören.

Jennifer Smith vom MIT hat das Problem, unwiederbringliche Alltagsgeschichten der älteren Generationen zu sichern, mit GrandChair psychologisch bis ergonomisch gelöst: Die Großeltern sitzen gemütlich in einem Schaukelstuhl vor einem Monitor, auf dem zwar lediglich ein virtueller, aber dafür wenigstens aufmerksamer Enkel nicht nur zuhört, sondern wissbegierig Fragen nach der Steinzeit der Alten stellt.

Die Interaktivität wird dadurch intensiviert, dass der Computer über einen Geschwindigkeitsmesser ("Accelerometer") am Rücken des schaukelnden Großvaters in bedingtem Maße Daten über die Körperaktivität empfängt, um gleichsam empathisch auf bestimmte Momente der Körpersprache zu reagieren. Ein Problem des Interface besteht nach Jennifer Smith nämlich vor allem darin, dass virtuelle Agenten, die menschenähnlich agieren und lebendig aussehen, hohe Verhaltenserwartungen beim Gesprächspartner auslösen. Reagiert das Interface daher nicht "humanoid", produziert es beim menschlichen Gegenüber Frustrationen.

Offensichtlich vermied das vorgestellte Techno-Ensemble diese Schwachstelle des Mensch-Maschine-Dialogs: Eine der Test-Grandmas fühlte sich vom aufmerksamen Enkelsurrogat besonders gut verschaukelt. Ließ ihre Erzähllust nach, schnitt der virtuelle Nachwuchs ein neues Thema an, um die Erinnerungen wieder sprudeln zu lassen. Die Einleitung des Algorithmus funktioniert so, dass die virtuelle "Jenny" eine kleine Geschichte erzählt und mit einer Frage ihr Gegenüber zum Erzählen animiert:

So my family always gets together for my father's birthday. It doesn't matter where they are, everybody gets together. And we get this special orange cake that my mother makes. It's kind of gross but it's some really old recipe. It's a special occasion! What kind of special occasions did you have with your kids when they were little?

Spätestens seit Proust weiß man ja, welche literarischen Erinnerungsschübe etwa in frühen Jahren genossenes Gebäck auslösen kann. Überdies ist das digitale Enkelkind "Jenny" so programmiert, dass es auf Schlüsselwörter "einfühlsam", etwa durch Zeichen von Fröhlichkeit, Trauer etc. reagiert. Smiley auf dem Weg zum Charakterdarsteller!

So präsentiert "GrandChair" ein interaktives System, um das fragil gewordene Geschichtenerzählen wiederzubeleben und den flüchtigen Alltag für die Ewigkeit zu konservieren. Auch Walter Kempowskis "Echolot" im ärchaologischen Steinbruch des Alltags, wäre der Kauf einiger Dutzend kommunikativer Schaukelstühle dringend anzuraten. Nach Jennifer Smiths Untersuchungen gaben die interaktiven Momente des gesprächsfreudigen Gestühls jedenfalls dem schaukelnden Altersheim zu längeren Geschichten Anlass, als sie etwa ein schnöde rotierendes Tonband provoziert. Wer weiß, ob die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm enzyklopädische Ausmaße erreicht hätten, wenn sie ihre Zuträger in immer detailliertere Geschichten hineingeschaukelt hätte?

Zwar mag ein Biobackup der gesamten Festplatte der Großeltern im Zip-Format vorzugswürdig erscheinen, aber noch bestehen hier technologische Hindernisse, die in der vorliegenden Erzählanordnung eben psychologisch kompensiert werden. Dass Computer und virtuelle Assistenten geduldige Zuhörer sein können, ist spätestens seit Joseph Weizenbaums berühmten Programm Eliza bekannt, das 1966 auch im MIT vorgestellt wurde. Das psychotherapeutische Computerprogramm auf den Spuren der Gesprächstherapie spendete das feedback, das in Kommunikationsgesellschaften wider ihr erklärtes Selbstverständnis so oft fehlt.

Jennifer Smith, die mit dieser Studie im Mai letzten Jahres ihren "Master of Science in Media Art and Sciences" erworben hat, und ihre Ergebnisse jetzt in "New Scientist" veröffentlicht hat, sieht für "GrandChair" noch ein reiches Untersuchungsprogramm, um mehr Erkenntnisse über Zuhören, Erinnerung, Unterhaltung und Geschichtenerzählen zu gewinnen. Die Arbeitsgruppe MIT Media Laboratory Research Group des MIT Gesture and Narrative Language arbeitet an diversen Narrationsprojekten, um die Schnittstellen zwischen realen und virtuellen Welten zu verlöten.

Da gibt es beispielsweise auch Sam, der als erzählfreudiger Spielkamerad in einem Echtzeitvideo der jeweiligen kindlichen Spielumgebung auftritt. Sams Java-Module wurden auch dem "GrandChair" zugrundegelegt. Das Kind und sein Spielkamerad "Sam" teilen sich die real-virtuelle Playstation und spielen gemeinsam mit Spielzeug, das die Erzähllust weckt. Einige Testläufe haben bereits erwiesen, dass das Kind so zu kreativem und kooperativem Spiel animiert wird. Auch dieses Projekt ist geeignet, eine ganze Reihe von Vorurteilen gegen den Einsatz virtueller Welten ins Wanken zu bringen, um das in rasanten Zeiten oft so still stehende Gespräch zu beleben. Die Kinder reagierten auf den "cyberfriend" nicht etwa passiv, wie es das antiquierte Verdikt gegen Computereinsatz will, sondern zeigten vollen Körpereinsatz.

Die Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität wird immer diffuser. Als ein Vater neulich seinem vierjährigen Sohn aufforderte: "Komm, wir gehen mal ins Netz", war dieser schwer enttäuscht, dass beide vor dem Monitor sitzen bleiben mussten. Aber vielleicht schaukelt uns das Modell des virtuellen "Rocking Chair" ja morgen schon über die Schwelle...Hoffen wir weiter auf das MIT!