Geschützter Fernverkehr mit Trugbildern

Klaudia Brunst, die "Realität im Unterhaltungsfernsehen" und die Single-Gesellschaft

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Streit, Liebe und Hass werde in der "'unechten' Umgebung eines Fernsehstudios" von vielen kaum mehr "als Einbruch in die Intimsphäre wahrgenommen", schreibt Klaudia Brunst. Demgegenüber werde "es in unserer Single-Gesellschaft als immer peinlicher (weil voyeuristischer) empfunden, wenn wir in der Nachbarwohnung einen 'echten' Ehekrach mit anhören müssen " - oder Geräusche eines Geschlechtsaktes. Es könne also sein, dass Reality-TV-Formate wie Big Brother, jene RTL-Dauerwerbesendung in eigener Sache, "neu definiert" hätten, "was (und wo!) die öffentlichen und diskreten Orte" der heutigen, zunehmend anonym aneinander vorbei lebenden Massengesellschaft seien.

Die Berliner TV-Kritikerin und Ex-"taz"-Redakteurin schrieb diese Sätze im Fachorgan TV Diskurs 12/2000. In ihrer Aufsatzsammlung Leben und leben lassen - Die Realität im Unterhaltungsfernsehen kann derlei nun noch einmal nachgelesen werden. Das Buch enthält - leider teils unaktualisierte - Artikel, Aufsätze und Interviews, die Brunst seit 1994 für verschiedene Zeitungen schrieb, ergänzt um unveröffentlichte Texte. Sie beschäftigen sich alle mit der "inszenierten Alltäglichkeit" zwischen Talk- und Gerichtsshows, Emotainment, TV-Lebenshilfen, Dokusoaps wie Die Fußbroichs sowie "flüchtigen und unpolitischen" Polittalkshows, etwa Sabine Christiansen.

Brunst, heute Mitglied der Jury des Deutschen Fernseh- und des Adolf Grimme Preises, ist Fachfrau, indes auch bekennender TV-Junkie. So konnte sie Mitte der 1990er Jahre zur 100. Sendung von "Schreinemakers live" der Moderatorin Margarethe Schreinemakers auch folgendes abgewinnen: Sie hole ihr Menschen, die sie "aus gesellschaftlichen Gründen zwar nicht kennen lernen möchte, aus Neugier aber sehr wohl gerne kennen würde, einmal in der Woche" ins Wohnzimmer. Im Fernsehsessel könne man derlei, "ohne die Regeln sozialer Höflichkeiten zu verletzten", begaffen, auslachen, verhöhnen - und letztendlich via Zapping "verdammen". Man muss diese Aussage fast etwas weiter denken: Könnte das Schlüsselloch-TV einen (selbst-)therapeutischen Nutzen für Singles haben, die sich sporadisch am Leid anderer erbauen? Denn so schlecht geht es einem als Single ja gar nicht...

Heleno Saña schrieb unlängst in Die Brücke, gerade dann, wenn die Menschen in der Single-Welt nicht allein seien, fühlten sie sich "einsam (...), denn das, was sich noch Gesellschaft nennt, ist mittlerweile nichts anderes als eine Zwischen- und Durchgangsstation, an der sich die vorbeieilenden Passanten kurz aufhalten, um in ihr Alleinsein zurückzukehren." Laut dem spanisch stämmigen, in Deutschland lebenden Journalisten glaubten die Menschen, "nie Zeit zu haben (für) das Gespräch mit anderen. Weil aber die Nähe unserer Nächsten sich immer wieder als eine rein äußerliche, oberflächliche entpuppt, empfinden wir die Rückkehr zu unserem gewohnten Alleinsein als Befreiung." Soll man sich diese dann aber durch eine Echtdosis Reality-TV ruinieren lassen?

Mitte der 1990er Jahre tobte in Deutschland eine Diskussion um Fakes, Medienkompetenz und Talkshow-Hopper, die als Falschspieler mit variierenden Biografien und Schicksalen in verschieden Dailytalks gastierten. Was seinerzeit ein Skandal war, wird heute vom Medium Fernsehen selbst perfektioniert. Denn Reality-TV muss nur real genug sein, echtes Leben und Normalität vorzutäuschen - und muss gleichfalls so unreal wie nötig sein, um überhaupt noch im TV zu funktionieren. Denn Menschen "wie du und ich" sind nur bedingt TV-tauglich, weshalb Realität inszeniert, fiktiv aufbereitet und via Casting vorbestimmt wird. Schließlich will das Gros der Zuschauer bloß nicht der eigenen mittelmäßigen Normalität alias ernüchternden Realität via TV ins Auge sehen.

Bei erfolgreichen Gerichtshows, etwa "Richterin Barbara Salesch", werden lange Prozesse auf Minuten eingedampft und spielen längst Laiendarsteller statt Regina "Maschendrahtzaun" Zindler echte Fälle knackig formatiert nach. Weswegen auch die Zeile einer Punkband, gesungen Anfang der 1980er Jahre, noch immer stimmt: "Der Bildschirm ist das Präservativ der Realität!" Und Saña stellt fest: "Die Nähe unserer Mitmenschen erweist sich fast immer als eine andere Form des Getrenntseins."

Vielleicht sieht man also deswegen immer weniger "echte" Mitmenschen im sich selbst als Reality-TV definierenden Genre. Und da es laut Brunst in der "Fernsehwelt (...) keine Lügen, sondern nur gute oder schlechte Auftritte" gebe, haben die Faker ihren schlechten Ruf längst abgelegt. Die Quote indes hat sie geadelt - und Singles schauen ihnen vielleicht wieder ganz gerne über die Schulter. Wenn sie sich denn nicht gerade den auf sie eigens zugeschnittenen Soap Operas und Serien widmen.

Klaudia Brunst: Leben und leben lassen. Die Realität im Unterhaltungsfernsehen. Essays, Analysen und Interviews. UVK Verlag 2003. 272 Seiten. 24,00 Euro.