Gesundheit als Lotteriegewinn

"Neue Wege" im US-Bundesstaat Oregon

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Wenn Gewerkschafter und Linke hierzulande gegen Sozialabbau und Kürzungen im Gesundheitswesen protestieren, ist oft davon die Rede, dass die medizinische Versorgung angesichts der neoliberalen Politik immer mehr zu einem "Glücksspiel" wird. Die Wenigsten dürften das allerdings so wörtlich gemeint haben, wie es jetzt im US-Bundesstaat Oregon praktiziert wird. Dort sollen in den kommenden Monaten 24.000 Krankenversicherungen unter Bedürftigen verlost werden. Bisher haben sich mehr als 91.000 Menschen in die entsprechenden Listen eingetragen.

In dem nördlich von Kalifornien gelegenen Staat verfügen 600.000 Einwohner nicht über eine Krankenversicherung. Das sind 16% der Gesamtbevölkerung von 3,4 Millionen. 130.000 davon gelten als besonders bedürftig und erfüllen die rigiden Ausschreibungskriterien. Sie sind entweder alt, behindert, jünger als 19, schwanger oder beziehen befristete Familienbeihilfen. Für US-Verhältnisse ist dies ein unspektakulärer Wert, weist Oregon damit doch denselben Anteil an Unversicherten auf wie die gesamten Vereinigten Staaten, wo 45 Millionen Menschen ihre Arzt- und Krankenhausrechnungen entweder selbst zahlen oder auf Versorgung verzichten müssen.

Für Oregon bedeutet das jedoch einen Rückfall um zwei Jahrzehnte. Noch vor nicht allzu langer Zeit spielte der "Biberstaat", in dem die deutsch stämmigen Einwohner mit 22,5% die größte Bevölkerungsgruppe stellen, nämlich eine Vorreiterrolle bei der Schaffung eines umfassenden Sozialsystems. Der Ende der 80er Jahre entworfene staatliche Oregon Health Plan galt als die innovativste Gesundheitsreform des Landes und senkte den Anteil der Nichtversicherten von 18 Prozent 1992 auf 11 Prozent 1996. Dann allerdings geriet die lokale Wirtschaft in eine schwere Rezession und angesichts sinkender Steuereinnahmen wurde das Projekt gestoppt. Mitverantwortlich für die zu geringen öffentlichen Einnahmen ist die Tatsache, dass Oregon einer von fünf US-Bundesstaaten ist, die keine Umsatzsteuer erheben. Eine Steuerreform erscheint aber auch dem seit Januar 2003 amtierenden Gouverneur Ted Kulongoski (einem Demokraten) als zu heißes Eisen. Er bevorzugt Haushaltskürzungen. Die 2004 vorgenommenen "Einsparungen" ließen die Zahl der Begünstigten von ursprünglich 100.000 Menschen auf zwischenzeitlich nur noch 17.000 sinken.

Dass inzwischen 24.000 Bedürftige das große Los ziehen werden, ist für den Direktor des lokalen Medicaid-Programms, Jim Edge, Anlass genug gegenüber der "New York Times" auf das Prinzip Hoffnung zu setzen: "Vielleicht können wir darauf hoffen, dass im Laufe der Zeit der Staat wieder mehr Geld in dieses Projekt schießt und es wachsen kann." Ähnlich fatalistisch sieht es Shirley Krueger, die sich bereits am ersten Tag für die Verlosung angemeldet hat. "Das ist besser als Nichts. Es ist wenigstens eine Hoffnung." Seit sechs Monaten hat die 61-Jährige sich nur noch sporadisch Insulin zur Bekämpfung ihrer Diabetes kaufen können. Sie geht damit die Gefahr von Nierenversagen, Herzerkrankungen und Erblindung ein. Doch ihr Teilzeitjob wird so gering entlohnt, dass sie für die von ihrem Arbeitgeber angebotene Versicherung nicht in Frage kommt und sich auch keine eigene leisten kann.

Es ist auch über andere Optionen nachgedacht worden. Wie zum Beispiel die am schwersten Erkrankten herauszupicken oder die Kinder oder die Krebs- oder Herzkranken. Aber die Bundesbehörden würden das nicht erlauben und es gibt keine Garantie, dass es dabei fair zugeht. Warum sollte Krebs mehr Versorgung verdienen als eine Herzerkrankung?

Jim Edge

Wie viel "Fairness" die jetzige Lotterielösung bringt, bleibt indes fraglich. Der Manager der drei Kliniken des gemeinnützigen Ochoco Health Systems, Chris Coon, bringt das Problem auf den Punkt, wenn er sagt: "Die Verwendung eines Zufallsgenerators, um darüber zu entscheiden, wer medizinische Versorgung erhält, ist ein Zeichen tiefer Verzweifelung."