Gewählte ohne Volk: Unsere Demokratie steckt in der Krise

Taktieren und Machtspiele bestimmen Profipolitik. Der Souverän zieht sich stetig weiter zurück. Doch eines der größten Probleme unserer Gesellschaft findet kaum Beachtung.

Drei fiktive Strategiegespräche in Berlin

Franziska Giffey sitzt nach den offiziellen Terminen abends mit ausgewählten Spindoktors in ihrem Büro. Die wenigen Stimmen Vorsprung gegenüber den Grünen lassen hoffen, dass ihre Amtszeit als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nicht beendet wird, bevor es richtig begonnen hatte.

Wahlkampf, Verhandlungen, Einführung, Wahlkampf. Jetzt beratschlagt man wieder das Vorgehen bei den Sondierungen. Das unterschätzte Wahlchaos von 2021 war der Ausgangspunkt für die jetzige Niederlage, die selbst die geschulten Experten hier kaum schönzureden vermögen.

Aber Ablenkung funktioniert meistens und wenn Giffey weiterregieren kann, wird die verlorene Neuwahl schnell in Vergessenheit geraten. Doch was ist jetzt die richtige Strategie, der nächste taktische Zug?

Marco Bülow ist Publizist, Politiker und Aktivist. Von 2002 bis 2021 war er direkt gewählter Abgeordneter der im Bundestag. Bis 2018 für die SPD dann Fraktionslos. Bild: Julia Bornkessel

Giffey selbst würde wohl auch mit der Union regieren, dann könnten sie zusammen den unbequemen Volksentscheid von 2021 "Deutsche Wohnen & Co enteignen" umgehen und die Linke insgesamt raushalten.

Allerdings wären die SPD nur noch Juniorpartner und die Bürgermeisterin würde ihren Posten verlieren. Als taktische Finte könnte man einbringen, dass die SPD auch über die Opposition nachdenke, um eine scheinbare Unabhängigkeit zu suggerieren. Und sonst?

Nicht weit davon entfernt sitzt zeitgleich Bettina Jarasch mit ihrer Beraterin und Analystin zusammen. Die versteht sich vor allem auf Zahlen und ist immer noch gewurmt davon, dass sie so knapp hinter der SPD liegen. Nur wenige Stimmen mehr und man könnte die eigentlich mäßige Wahl als riesigen Erfolg verkaufen.

Ist es so nicht fast egal, ob man mit SPD und Linke weitermacht, oder doch eine Koalition mit der Union eingeht? Mit SPD und Linken lässt es sich auch nicht einfach regieren und wenn Vorhaben nicht gelingen, wäre es, um vieles leichter auf die Union zu schieben.

So wie man das im Bund auch mit der FDP macht. Dies müsste aber der Basis beigebracht werden. Wären da nur nicht die "Kleinen", vor allem die Tierschutzpartei und Klimaliste. Locker hätte es für die Grünen reichen können. Wie kann man die nur wählen, warum haben die Menschen nicht taktisch gewählt?

Zwei Morgen später plant die Redaktion einer Berliner Zeitung ihre nächsten großen Themen. Auch hier kommt man noch mal auf die Wahl zurück. "Gibt es was Neues?", fragt der Chef vom Dienst: "Ach, das übliche, taktische, öffentliche Spielchen und dann laufen ja die Sondierungsgespräche. Zudem die Meldung, der SPD-Parteivorsitzende schließt eine Opposition nicht aus."

Müdes Lächeln in der Runde. Ok, müssen wir wohl bringen. Die ganze übliche Berichterstattung hat man bereits abgearbeitet Eine Redakteurin meldet sich: "Wir könnten doch mal was zu den Nichtwählenden bringen." Es kommt die erwartete Antwort, dass die sinkende Wahlbeteiligung doch mittlerweile auch ein alter Hut ist und die Nichtwähler ohnehin keinen interessieren. Abgeschmettert, dabei meinte sie ja eigentlich die Hintergründe und ein Blick auf die absoluten Zahlen ...

Gegen das Gewissen stimmen

Die drei Szenarien sind fiktiv, kommen der Realität aber wahrscheinlich sehr nah. Bei wie vielen solchen Gesprächen war ich dabei, auf unterschiedlichsten Ebenen.

Insgesamt geht es nicht nur nach und vor einer Wahl zunehmend vor allem um taktische und strategische Fragen. Wie können wir das verkaufen, wie gehen wir damit um, wie können wir diesen ausbremsen, wie kann man jenen ins Boot holen?

Strategie und Taktik sind ursprünglich militärische Begriffe und natürlich spielen sie eine Rolle, wenn es um Macht geht. Aber wir sollten in einer Demokratie nicht permanent als militärische Aktionen planen.

Doch Strategie und Taktik dürfen nicht alles dominieren. Inhalte, Positionen und das Gewissen müssen die Grundlage bleiben.

Mittlerweile geht es aber so weit, dass dann auch schon die Wählerinnen und Wähler beschimpft werden, die nach ihrem Gewissen abstimmen und nicht taktisch wählen. Das müssen nicht mal die Kandidierenden selbst tun, dies übernehmen ungefragt selbsternannte "Demokratiewächter" mit teilweise hoher Reichweite in den sozialen Medien und der Öffentlichkeit

Schon die harmlose Variante – "Wie kannst du deine Stimme verschenken?" – ist demokratisch betrachtet ein absurder Vorwurf. Wir haben ein Wahlrecht, nach dem jeder frei entscheiden kann, wen er wählt und wen er nicht wählt.

Wenn sich dabei jemand von den Inhalten oder seinen Gewissen und nicht von einer Taktik leiten lässt, dann ist es völlig respektabel. Es steht daher eher die Frage im Raum, wie viel Taktik und Strategie unsere Demokratie verträgt?

Wenn ich taktisch wähle, weil ich Angst habe, meine Stimme wäre "verschenkt", sollte ich dann nicht eher über das Wahlsystem nachdenken? Konkret in Berlin: Sollte ich mich da nicht fragen, warum der 2021 erfolgte Volksentscheid mit bald 60 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht einmal ansatzweise umzusetzen versucht wurde, aber eine Partei mit 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen den Regierenden Bürgermeister stellen kann?

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