Gibt es wie in England boomende Nullstundenverträge in Deutschland?

Telepolis hat beim Arbeitsministerium, dem Arbeitgeberverband, dem DGB und Ver.di nachgefragt

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Vergangene Woche hatten wir über die schnelle Zunahme von Nullstundenverträgen in Großbritannien seit der Finanzkrise geschrieben (Starke Zunahme von Nullstundenverträgen in Großbritannien). Die britische Statistikbehörde geht davon aus, dass es mehr als eine halbe Million "Arbeitnehmer" gibt, die mit solchen Verträgen beschäftigt werden, die keine garantierte Arbeitszeit und damit keinen garantierten Lohn beinhalten. Oft wird nur der Mindestlohn bezahlt. Das sind dreimal mehr als noch 2010, andere Schätzungen gehen von einer Million Beschäftigungsverhältnisse auf Abruf aus.

Das britische Arbeitsministerium hat gerade eine Befragung abgeschlossen, um zu sehen, ob es Regulierungsbedarf gibt. Grundsätzlich sind solche Verträge aber in Großbritannien legal und sollen auch weiterhin bestehen, Labour will sie verbieten. Amazon oder McDonald's haben viele Beschäftigte mit solchen Nullstundenverträgen. Nullstundenverträge stellen eine Vereinbarung zwischen einem Arbeitsnehmer und einem Arbeitgeber dar, in der der Lohn und die Umstände für das Anbieten bzw. die Anforderung von Arbeit geregelt sind, aber es gibt keine minimale Stundenzahl. Ansonsten herrscht bei weiteren Klauseln Wildwuchs. Manchmal werden die Mitarbeiter auf Abruf verpflichtet, die Arbeit anzunehmen, wenn sie angeboten wird, gelegentlich dürfen die Mitarbeiter auch nicht bei einem anderen Unternehmen arbeiten, selbst wenn ihnen gerade keine Arbeit angeboten wird. Es kommt auch darauf an, ob die Mitarbeiter als Angestellte gelten, womit ihnen eine Reihe von Rechten zukommt, als Arbeiter oder als Selbständige. Zweidrittel sollen als Angestellte beschäftigt sein.

Telepolis interessierte, ob es solche Nullstundenarbeitsverhältnisse, die eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsmarktes zu Lasten des Arbeitnehmers auch in Deutschland gibt. Daher haben wir Anfragen an das Arbeitsministerium, Gewerkschaften, den Arbeitgeberverband und die Arbeitsagentur gerichtet, um zu klären, ob es Kenntnis von vergleichbaren Beschäftigungsverhältnissen auf Abruf gibt und wie die rechtliche Situation aussieht.

Die Arbeitsagentur, die eigentlich wissen müsste, ob sie Arbeitslose auch in Nullstundenverträgen vermittelt bzw. dies nicht darf, überraschte durch demonstratives Nichtwissen: Die Pressestelle Zentrale erklärte, die BA könne die Anfrage "nicht beantworten": "Ich kann Ihnen auch keinen Tipp geben, wer Ihnen weiter helfen könnte."

Von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wurde erklärt, dass es solche Arbeitsverhältnisse nicht geben dürfe, da sie verboten seien. Es gibt aber Arbeit auf Abruf, dabei müsse eine Mindestarbeitszeit vereinbart sein:

Nullstundenarbeitsverträge wie in Großbritannien, in denen der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer Arbeit anzubieten, und der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, Arbeit zu verrichten, sind in Deutschland verboten.

Das Teilzeit- und Befristungsgesetz erlaubt Arbeit auf Abruf: Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat. Die Vereinbarung muss eine bestimmte Dauer der Arbeitszeit festlegen. Außerdem ist der Arbeitnehmer nur zur Arbeitsleistung verpflichtet, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage seiner Arbeitszeit jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitteilt. Damit ist der Schutz der Arbeitnehmer in Deutschland umfassend gewährleistet.

BDA

Ähnlich die Auskunft des Bundesarbeitsministeriums (BAMS). Dort heißt es zwar nicht, dass der Schutz der Arbeitbnehmer "umfassend" gewährleistet sei, aber dass Arbeit auf Abruf "in einem gesetzlich eingegrenzten Rahmen" stattfinde. So müsse eine Mindestarbeitszeit von 10 Stunden in der Woche und eine rechtzeitige Ankündigung des Arbeitseinsatzes garantiert sein. Da es noch keinen Mindestlohn gibt, ist die Entlohnung nicht geregelt:

Von einem "Null-Stunden-Arbeitsvertrag" spricht man, wenn die Arbeitsvertragsparteien keine oder "Null-Stunden" Arbeitszeit vereinbaren. Der Arbeitnehmer steht generell zur Arbeit auf Abruf bereit. Er erhält vom Arbeitgeber nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden vergütet. Durch solche Verträge wird das Beschäftigungsrisiko vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert. In Deutschland sind solche "Null-Stunden-Arbeitsverträge" rechtlich ausgeschlossen.

In Deutschland gibt es gesetzliche Vorschriften, insbesondere im Teilzeit- und Befristungsgesetz, die sicherstellen, dass Arbeit auf Abruf nicht einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer geht. Dazu gehören z. B. die gesetzlich fingierten 10 Wochenarbeitsstunden und die Pflicht des Arbeitgebers, den Arbeitseinsatz rechtzeitig anzukündigen. Auch das Bundesarbeitsgericht hat in anderen Fällen der Arbeit auf Abruf feste Grenzen gezogen. Arbeit auf Abruf findet also in Deutschland nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern nur in einem gesetzlich eingegrenzten Rahmen statt.

BAMS

Nach dem DGB sind Nullstundenverträge wie in Großbritannien in Deutschland "so nicht denkbar". Es gebe "Arbeit auf Abruf", die aber an "enge Voraussetzungen gebunden" sei. Der DGB verweist dabei auf die einschlägigen Bestimmungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz §12:

(1) Arbeitgeber und Arbeitnehmer können vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf). Die Vereinbarung muss eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Wenn die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, gilt eine Arbeitszeit von zehn Stunden als vereinbart. Wenn die Dauer der täglichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, hat der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers jeweils für mindestens drei aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen. (2) Der Arbeitnehmer ist nur zur Arbeitsleistung verpflichtet, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage seiner Arbeitszeit jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitteilt. (3) Durch Tarifvertrag kann von den Absätzen 1 und 2 auch zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden, wenn der Tarifvertrag Regelungen über die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit und die Vorankündigungsfrist vorsieht. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen über die Arbeit auf Abruf vereinbaren.

Arbeit auf Abruf gebe es bei "Freien Mitarbeitern", die aber keine Angestellten, sondern Selbstständige sind. Das sei auch Minijobbereich verbreitet, dazu könne man aber nicht mehr sagen. Gibt es also doch eine Grauzone? Der DGB verwies uns auf Ver.di. Dort teilte man mit:

Uns sind keine konkreten Beispiele für Null-Stunden-Verträge in Deutschland bekannt. Eine vergleichbare Praxis haben wir bei der Modekette H&M erlebt, wo Beschäftigte auf Abruf teilweise erst vier Wochen vorher erfahren, wie viel Stunden sie im kommenden Monat arbeiten dürfen - und da kommt es vor, dass jemand nur 20 Stunden (im gesamten Monat) arbeiten darf und damit keine Chance hat, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Ver.di

Dass Zero-Hour-Contracts, wie es sie unter anderem bei Amazon in Großbritannien gibt, etwa für Langzeitarbeitslose eine Perspektive darstellen würden, bezweifelt man bei Ver.di: "Die Betroffenen (Langzeitarbeitslose und sogenannte "Gering-Qualifizierte") würden in den Betrieben/Unternehmen letztendlich ausgebeutet und die Kosten für deren Lebensunterhalt würden für den Sozialtransfer (z.B. Hartz-IV-Leistungen) durch öffentliche Haushalte (also die Steuerzahler) weiterhin finanziert."

Profitieren würden demnach eigentlich nur die Arbeitgeber durch Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse. In einer Umfrage unter britischen Arbeitsnehmern mit Nullstundenverträgen vom November des letzten Jahres scheinen diese allerdings gar nicht so unzufrieden zu sein. Mehr als die Hälfte würde gar nicht mehr arbeiten wollen. Und mit ihrem Job waren 65 Prozent ganz zufrieden, mehr als bei normal Beschäftigten, von denen dies nur 58 Prozent sagten. Sowohl viele Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer waren aber über die auch mit solchen Verträgen verbundenen Arbeitsrechte nicht informiert.

Ausschließen will Ver.di allerdings nicht, dass es den britischen Nullstundenverträgen ähnliche Beschäftigungsverhältnisse auch in Deutschland gibt:

Es gibt in Deutschland längst einen Wildwuchs von prekärer Beschäftigung und alle Formen von Ausbeutung, insbesondere in Betrieben ohne Betriebsräte und ohne Gewerkschaftsmitglieder. Letztendlich ist es daher denkbar und möglich, dass es auch solche Null-Stunden-Verträge auf Abruf gibt, solange die Arbeitsverhältnisse und die Entlohnung nicht staatlich kontrolliert und sanktioniert werden sowie die Verstöße nicht an die Öffentlichkeit gelangen.

Aus unserer Sicht muss man zudem davon ausgehen, dass solche Verträge gegen das Nachweisgesetz (und somit auch gegen die europäische Nachweisrichtlinie, 91/533/EWG) verstoßen, denn dort wird eine vereinbarte Arbeitszeit vorausgesetzt (§2, Abs. 7, NachwG).

Ver.di