Glasnost im Guruland

Die Hare Krishnas in Bewegung

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Wer kennt sie nicht, die in indischer Kluft in deutschen Fußgängerzonen Bücher verteilenden, singenden und tanzenden Jünger Krishnas, die seit Jahrzehnten mit ekstaktischer Hartnäckigkeit Menschen für den Sprengel ihres indischen Gottes fischen? Das Hare Krishna-Mantra, das die glatzköpfigen Mönche auf unseren Strassen intonieren, ist in die Pop-Kultur eingegangen und vielen etwa aus dem Musical Hair oder aus Liedern von George Harrison und Boy George vertraut. Wenn Sektenbeauftragte der christlichen Kirchen die Abwanderung ihres Klientels in diverse religiöse Konkurrenzunternehmen beklagen, dann wird auch diese Gruppe immer wieder erwähnt. Auch in der skandalisierenden Berichterstattung der Regenbogenpresse über das Sektenphänomen spielen die Hare Krishnas, obwohl es ruhiger um sie geworden ist, oft noch eine gewisse Rolle. Nicht selten haben die Kritiker recht. Die Geschichte der Bewegung handelt von Mord, Macht und Missbrauch. Doch es gibt auch Versuche, sich zu ändern.

Skandale haben die Geschichte der "International Society for Krishna Consciousness" (ISKCON) immer begleitet. Betrügerische Verkaufspraktiken und finanzielle Unregelmäßigkeiten, der Vorwurf der Gehirnwäsche an Anhängern, sexueller Missbrauch und Frauenfeindlichkeit - die Liste der behaupteten und oft auch realen Vergehen der Kinder Krishnas ist lange. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die Anhänger dieser Gruppe begonnen, sich von ihren Jugendsünden zu befreien. Es hat in der Bewegung eine Art Glasnost und Perestroika stattgefunden.

Hare-Krishna-Jünger in der Leipziger Innenstadt. Bild: Vaishnava108. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die ISKCON gehört zum Phänomen der amerikanischen Hippie-Counterculture, die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Amerika entstand. Gegründet wurde die Organisation 1966 in New York. Die religiöse Tradition, aus der die ISKCON kommt, ist in Indien aber viel älter. Diese spezifische Spielart eines volkstümlichen, auf Hingabe an einen persönlichen Gott, Vishnu oder Krishna, basierenden Hinduismus, wird als Vaishnavaismus bezeichnet. Die spezielle Linie von spirituellen Lehrern, aus der der Gründer der ISKCON stammt, geht auf den Mystiker und Heiligen Chaitanya zurück, der im 16. Jahrhundert in Bengalen gelebt und gewirkt hat.

Abhay Charan De, oder Bhaktivedanta Swami Prabhupada, wie der Mönchsname des ISKCON-Gründers lautet, kommt 1965 nach Amerika. Er findet in New York in der aufblühenden Hippekultur erste Anhänger. Für seine Schüler schafft er einen kompletten hinduistischen Kosmos mitten in Amerika. Er verpflanzt ein Stück des mittelalterlichen Indien dorthin, in dem indische Lebenswirklichkeit, bis in Alltagsdetails wie Kleidung und Essen, nachvollzogen wird. Sein Fundamentalismus in Beziehung auf die heiligen Schriften und die Rigidität des Lebensvollzuges, etwa der völlige Verzicht auf Rauschmittel und eine Beschränkung der Sexualität auf die Ehe zum Zwecke der Fortpflanzung, kontrastieren auffällig mit dem Hedonismus und der Liberalität der Hippies.

Bhaktivedanta Swami Prabhupada

Trotzdem breitet sich die Bewegung schnell über das ganze Land aus, greift auf England und viele andere Länder über. Sie findet prominente Fürsprecher wie den Schriftsteller Allen Ginsberg oder den Beatle George Harrison, der in seinem Hit "My Sweet Lord" Bezug auf Krishna nimmt. Die meist jugendlichen, subkulturell geprägten Jünger des Hindu-Gottes leben in klosterartigen Tempelgemeinschaften zusammen, sie bringen große persönliche Opfer für die Ausbreitung ihres Glaubens. Als äußeres Zeichen ihrer Hingabe an den Guru und Krishna scheren sie sich bis auf den charakteristischen kleinen Haarschopf ihren Kopf. Sie erhalten einen Sanskritnamen mit dem Suffix "dasa" für Diener, etwa Krishna dasa oder Govinda dasa. Der Tag im Tempel beginnt um 4.30 mit Vorträgen aus den heiligen Schriften und ist mit Gottesdiensten vor Statuen Krishnas durchzogen, für die Lieder gesungen und denen man vor dem Verzehr alle - immer vegetarischen - Speisen opfert.

Zentrale religiöse Praxis der Hare Krishnas ist jedoch das individuelle Murmeln eines täglichen Pensums (1728 Durchgänge) des Mantras "Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna, Krishna, Hare Hare, Hare Rama, Hare Rama, Rama, Rama, Hare, Hare". Dadurch soll die Gottesliebe des Praktizierenden erweckt werden. Hauptsächliche Tagesaktivität der Vollzeitmitglieder ist der Vertrieb der Bücher des Gründers. Prabhupada übersetzt und kommentiert religiöse Klassiker Indiens, wie die Bhagavad-Gita und das Bhagavata-Purana, Sie werden in hohen Auflagen gedruckt und im Straßenverkauf mithilfe teilweise fragwürdiger Methoden an den Mann gebracht. Ihr schwerfälliger und redundanter Stil sichert ihnen wohl mehr Käufer als Leser. Die Inhalte sind für rationalistisch geprägte Westler gewöhnungsbedürftig. So erfährt man aus dem Bhagavata-Purana, dass die Erde eine Scheibe ist und es im Universum Götter mit vier Köpfen, fliegende Städte und Milchozeane gibt. Gott Krishna selbst wird als der menschenähnliche König und Liebhaber der indischen Mythologie vorgestellt.

Das extrem theistische und anthropomorphe Gottesbild ist der Grund für die starke Polemik gegen religiöse Richtungen, die eine impersonale Vorstellung von der Transzendenz haben, wie zum Beispiel den Buddhismus oder den eher intellektuellen monistischen Hinduismus des Vedanta mit seiner Weltseele Brahman.

Prabhupada's Samadhi in Vrindavan

Mit der Zeit werden über hundert Tempel gegründet. Es entstehen Farmgemeinschaften wie New Vrindavan in West Virginia, Inseln des bengalischen Mittelalters in der westlichen Welt. Die Kinder der Mitglieder werden in Privatschulen, sogenannten Gurukulas, auf das gleiche asketische Leben, das auch ihre Eltern führen, vorbereitet. Ihre Verwurzelung in der indischen Tradition dokumentiert die Bewegung, indem sie in den indischen heiligen Orten Mayapur und Vrindavan große Tempelkomplexe errichtet. Nach eigenen Angaben hat die Bewegung im November 2011 ungefähr 16.000 eingeweihte Vollzeit-Devotees, 100.000 sogenannte "Life Members", die einer normalen Arbeit nachgehen und selbstständig wohnen und leben und 500.000 weitere Sympathisanten.

Prabhupada's Samadhi in Mayapur

Bevor Prabhupada 1977 das Zeitliche segnet, ernennt er elf seiner Schüler zu seinen Nachfolgern als Guru. Sie teilen die Welt in elf Zonen auf, in denen sie autokratisch herrschen. Hat Prabhupada seine jugendlichen Schüler, mit ihrer charakteristischen Mischung aus fanatischem Übereifer und Chaotik, noch leidlich unter der Fuchtel gehalten, sind die Nachfolgegurus mit ihrer Machtfülle als Heilige und absolute Autoritäten völlig überfordert. Es kommt zu sexuellen Unregelmäßigkeiten, eigentlich strikt abgelehntem Drogenkonsum, verstärkten betrügerischen Geschäftspraktiken und Machtkämpfen zwischen den einzelnen Führern. Einige der Skandale sind hollywoodreif: Der Guru Hamsadutta Swami fährt im Drogenrausch im Cabrio durch Berkeley und schießt mit einer Schrotflinte um sich. Kirtananada Swami, der die Farmgemeinschaft New Vrindavana in West Virginia mit Verbrechensgeldern zu einer Art Hindu-Disneyland mit einem palastartigen Tempel und überlebensgroßen Heiligenstatuen ausbaut, wird von innerhalb und außerhalb der Bewegung Kindesmissbrauch vorgeworfen und er soll den Mord an zwei ehemaligen Anhängern befohlen haben. Er wurde wegen Anstiftung zum Mord und Betrugs und organisierter Kriminalität angeklagt. Er wurde teilweise verurteilt, allerdings nicht wegen der Vorwürfe im Zusammenhang mit den Morden. Das Urteil wurde von einem Appellationsgericht aufgehoben. Er wurde 1988 von der ISKCON exkommuniziert. Mit der Zeit verlassen einige der Führer die Gruppe, um als Privatpersonen zu leben, zu heiraten oder eigene Bewegungen zu gründen. Heute sind nur noch drei der ursprünglichen elf Gurus Mitglieder der ISKCON, einer ist als Mitglied gestorben.

Prabhupada's Palace of Gold der New Vrindaban community in West Virginia. Bild: Lee Paxton. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Anfang der achtziger Jahre wollen immer mehr Devotees die Missstände nicht mehr dulden. Die Dissidenten vernetzen sich, eine Reformbewegung entsteht. Ab 1984 werden von den Tempelpräsidenten und dem Leitungsgremiums der Bewegung weitreichende Reformen durchgesetzt. Die Zahl der Gurus wird deutlich erhöht, ihre Machtbefugnis gleichzeitig beschränkt und sie werden der verstärkten Kontrolle durch das Leitungsgremium der ISKCON, der Governing Body Commission (GBC), unterworfen. Man sucht den Dialog mit Sektenkritikern und Wissenschaftlern.

Die ehemaligen Schüler der ISKCON-eigenen Schulen berichten von Gewalt, Misshandlung und sexuellen Übergriffen. Ein ISKCON-naher Soziologe wird mit einer Studie beauftragt, die das ganze Elend offenbart. Inzwischen gib es die "ISKCON Child Protection Office", die eine Wiederholung solcher Vorfälle vermeiden soll. Die ISKCON arbeitet inzwischen mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen und Tätern wird der Zutritt zu Einrichtungen der Bewegung verwehrt.

Europa bleibt durch den dortigen, sehr autokratischen Guru Harikesha Swami lange eine "stalinistische Insel" in der sich reformierenden Welt Krishnas. Als Harikesha 1999 sich von der Bewegung distanziert und später heiratet, löst das einen heilsamen Schock aus. Inzwischen sind auch im deutschen Sprachraum die Veränderungen unübersehbar. Der kritiklose Gehorsam der früher den Gurus entgegengebracht wurde, ist einer gewissen Ernüchterung gewichen. Insgesamt scheint sich das ehemals paranoid-dualistische Weltbild, das alles in reine und tugendhafte Devotees auf der einen Seite und eine dämonisch-materialistische Außenwelt auf der anderen Seite einteilt, nach und nach zu relativieren.

Ein Bereich, in dem die Hare Krishnas ihren Kampf gegen die Moderne weiterführen, ist die Wissenschaft. Eines von Prabhupadas Feindbildern waren atheistische Wissenschaftler und Vertreter der Evolutionslehre. Er gründete das Bhaktivedanta Institute (BI) als wissenschaftliche Abteilung der ISKCON. Das Institut arbeitet mit Vertretern der Intelligent Design-Bewegung wie Michael Behe zusammen, um wissenschaftliche Beweise für das Wirken eines Schöpfers in der Natur zu erbringen.

Richard L. Thompsen (Sadaputa dasa), ein Vertreter des BI, hat in seinem Bestseller "Forbidden Archaeology" die These vertreten, dass Menschen seit Jahrmillionen auf der Erde leben, also auch zeitgleich mit den Dinosauriern, weil das in den indischen Epen berichtet wird und dass das wissenschaftliches Establishment Beweise dafür unterdrückt. Das Bhaktivedanta Institut hat mehrere Kongresse zum Thema Wissenschaft und Bewusstsein veranstaltet, zum Beispiel 1986 und 1997, an denen prominente Wissenschaftler und einige Nobelpreisträger teilgenommen haben. Meera Nanda hat die Positionen des BI als "Vedischen Kreationismus" bezeichnet.

Ein Beweis dafür, dass die Hare Krishnas weiter erfolgreich in Subkulturen wirken können, war die Bewegung des "Krishnacore" in den 1990er Jahren. Die ISKCON gewann damals zahlreiche Konvertiten aus den Reihen der Hardcore Punk-Bewegung, deren Straight Edge-Segment wie die Krishnas ein drogenfreies und vegetarisches Leben propagiert. Hardcore-Krishna-Bands wie "Shelter" und die "Cro Mags" waren in den Charts der amerikanischen College-Radios stark repräsentiert.

Ratha Yatra-Festival in Moskau (2008)

Die ISKCON ist insgesamt auf dem Weg der Reform. Ehemals mehr oder weniger ein Netzwerk von Klöstern, wird sie heute von Familien und Laienmitgliedern dominiert, die sich äußerlich von "normalen" Menschen nicht unterscheiden. Unter ihnen befinden sich viele Inder, so dass die ISKCON heute zu einer wichtigen Stimme der Hindus in der Diaspora im Westen zu werden scheint. Das Leben im Kloster als Mönch ist zur Ausnahme geworden. Die Regeln und Dogmen, die Prabhupada formuliert hat, werden teilweise vorsichtig hinterfragt. Reformerische Krishna-Jünger deuten sie als Ideal, dem man zustreben sollte. Man solle aber nicht eine Reinheit vortäuschen, die gar nicht vorhanden ist, sondern sich als schwacher Mensch annehmen. Dabei ist vor allem die Sexualität gemeint, die eigentlich nur in der Ehe erlaubt ist und auch dort nur zur Fortpflanzung unter rigiden Beschränkungen. Wie weit sich die Sexualfeindlichkeit der Gruppe, die sicher zu den wesentlichen Ursachen der Probleme der ISKCON zählt und gerade für Kinder, die in der Bewegung aufwachsen, ein große Hypothek darstellt, noch relativiert, wird die Zukunft zeigen.

Man muss sich vielleicht beeilen, die ehemals kleine und hermetische Welt Krishnas noch einmal in ihrer bisherigen exzentrischen Form zu besichtigen, bevor das bengalische Mittelalter auch mitten im Westen zu Ende ist.

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