Globale Erwärmung bläst Engländern Hut vom Kopf und macht Füße nass

Der Treibhauseffekt und verspätete Nahverkehrszüge - eine Klimastudie trifft auf erhitztes Medienklima

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Umweltbericht/LONDON - Leicht hatten sie es nicht, die Bewohner der britischen Inseln, in den letzten Wochen. Auf einen praktisch sonnenfreien Sommer und die Blockaden der Benzinpreis-Protestbewegung, die das Land fast zum Stillstand brachten, folgte mit grausamer Pünktlichkeit das dritte schwere Zugsunglück in drei Jahren und daraufhin eine nationale Krise des privatisierten Schienentransports. Und als wäre das Gemüt des Durchschnittsmenschen mit dem Beinahestillstand von Straßen- und Zugsverkehr nicht schon genug belastet, fegte an diesem Tiefpunkt auch noch ein Orkan über die Insel, der am vergangenen Wochenende über einen Zeitraum von 24 Stunden vor allem die Südküste ordentlich watschte, sich aber über ganz England mit schweren Stürmen und Rekordregenfällen austobte.

Als sich dann am Montagmorgen langsam die Böen beruhigten, der Regen aufhörte und schwache Sonnenstrahlen das Szenario beleuchteten, waren die Newsteams bereits in voller Teamstärke ausgerückt, standen Reporterinnen und Reporter mit Gummistiefeln und leuchtenden Regenjacken knöcheltief in braunen Lacken oder malerisch vor dem Hintergrund von Flüssen, die dramatisch am Anschlag der Dämme oder sogar darüber hinaus schwappend durch mittelalterliche Städte rauschten. Folgte man den Ausführungen der mutigen Newscaster, dann war die Nation von dramatischeren Auswirkungen der Naturgewalt gerade noch einmal verschont geblieben, die Gefahr weiterer Überschwemmungen lag jedoch in der Luft, da wieder Stürme und Regen vorausgesagt waren.

Würde man alles glauben, was Reporter in diesen Berichten sagten, dann wäre von den traditionellen Eigenschaften, auf die man sich in England viel einbildet, Gefahren trotzig zu widerstehen und dabei auch den Humor nicht einzubüßen, nicht viel übrig geblieben. Die Nation, die einst dem "Blitz" der Luftwaffe getrotzt hat, woran man sich immer gerne erinnert ("jolly good times"), schließt sich dem Trend zur Besorgniskultur an. Die wissenschaftliche Basis für zumindest teilweise betrübte Aussichten lieferte eine zeitgerecht am Montag erschienene Studie über die Klimaveränderung in Europa.

Dieser EU-gesponserte Bericht als Beitrag zu IPCC-Aktivitäten im Rahmen der Nachbereitung von Kyoto und Vorbereitung von Den Haag, wo die nächste Konferenz über Treibhauseffekt und Emissionsbeschränkungen stattfinden wird, geht von signifikante Klima-Veränderungen in Europa bis zum Jahr 2100 aus. Jährlich werde die Temperatur um zwischen 0.1 und 0.4 Grad steigen, heißt es.

Ungleiche Klimaentwicklung fördert wirtschaftliche Ungleichheit

Wenn die Projektionen der Forscher, die auf sehr komplexe Zahlenwerke gebaut sind, zutreffen, dann wird sich die Erwärmung für Nord- und Südeuropa ungleich auswirken. Nordeuropa würde wirtschaftlich profitieren, weniger Energie fürs Heizen verbrauchen, Land- und Forstwirtschaft und Tourismus würden von einem milderen Klima begünstigt werden. Neben diesen angenehmen Auswirkungen sei aber auch häufiger mit "Freak"-Wetterfronten zu rechen, mit Stürmen und mit Überschwemmungen, mit dem, was Channel4 News ein "extrem extremes Wetter" genannt hatte.

Für Süd- und Osteuropa wäre mit weitgehend negativen Folgen zu rechnen, mit Austrocknung, rückgängigen Ernten, unkontrollierten Waldbränden und Sommern, die so heiß sein werden, dass die Touristen wegbleiben würden. Im Endeffekt würden die bereits wohlhabenderen Gebiete und vor allem urbane Zentren wie Mailand oder London noch reicher werden, während bereits jetzt ärmere Zonen noch mehr zurückfallen. Wenig erheiternd an dieser EU- Studie ist auch die darin ausgesprochene Vermutung, dass das Zuviel an Treibgasen bereits im System gespeichert ist, so dass alle Reduktionen bei der Abgabe von Treibhausgasen von jetzt an diese Projektionen auch nicht mehr signifikant beeinflussen könnten.

Klimaveränderung im Alltag

In der mediengerechten Aufarbeitung dieser Forschungsergebnisse wurde das Unwetter, das sich in der Nacht von Sonntag auf Montag ereignet hatte, zum bereits direkt spürbaren Ergebnis des Treibhauseffektes umgedeutet. Die globale Erwärmung war nun eine unleugbare Tatsache, die uns gerade wie mit einem nassen Tuch vors Gesicht geschlagen hatte. Die Forscher von East Anglia University bemühten sich zwar, den Eindruck eines direkten Zusammenhangs abzuschwächen, aber gegen Soundbytes wie jenes von Umweltminister Meacher, der meinte, dass die jüngsten Stürme bereits erste Zeichen für den Klimawandel seien, hatten die nüchternen Forscher keine Chance. Inseluntergangsstimmung breitete sich aus.

Nun, London kann man sich sowieso leicht so vorstellen wie die Stadt in Lars von Triers "Element of Crime", eine Mischung aus moderner und frühindustrieller Stadt unter Wasser, nicht durch Zufall hat auch schon J.G.Ballard London in den Fluten eines durch globale Erwärmung angestiegenen Ozoanniveaus in Mangrovensümpfen versinken lassen. Und im Moment sieht auch alles danach aus. Während große Teile von Yorkshire und Gebiete in West- und Südengland gestern schon überflutet waren, nehmen nun auch in London die akuten Überschwemmungswarnungen zu. In einigen Stadtteilen können die Abflüsse das Wasser nicht mehr schnell genug aufnehmen, in anderen Gebieten sind es die kaum mehr bekannten weil weitgehend überbauten Flüsse Londons, die so angeschwollen sind, dass sich die Lage zuspitz. Noch mehr vorausgesagter Regen heute und morgen Freitag könnten dem System den Rest geben.

Doch wenn "hardship" wirklich in Form brauner Wassermassen an die eigene Haustüre schwappt, finden die Londoner wieder zur "coolness" zurück, die sie sich selbst gerne nachsagen. Während eines kurzen Schönwetterfensters Dienstag und Mittwoch, das in London weitgehend niederschlagsfrei blieb, hatten die Londoner, bzw. Engländer Zeit, die Nachrichten zu verdauen, die Gefahrensituation unabhängig vom "Spin" in den Medien selbst einzuschätzen und sich mit dem Unveränderlichem abzufinden. Der "good spirit" kehrte zurück.

Wem sich die Wassermassen bedrohlich näherten, der stapelte Sandsäcke, wer es bereits im Keller hatte, der schaufelte. Für die Bewohner wird das, was eben noch als eine Katastrophe imaginiert wurde, zur alltäglichen Überlebensanforderung, die zu einem gewissen Grad Anpassungsleistungen erfordert; oder zumindest Instant-Nudelsuppe, Taschenlampenbatterien und andere Güter des minimalen Überlebensbedarfs in ausreichenden Mengen gehortet zu haben. Das ist alles ein wenig lästig, aber zu bewältigen. Jedenfalls dann, wenn so wie heute für ein erträgliches Fernsehprogramm gesorgt ist - mit Futurama und den Sopranos. Wer will denn da überhaupt noch nach draußen gehen?