Globale Regulierung

Vom Nachtwächter- zum Netzwächterstaat?

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"Die sozialen Bewegungen zusammenführen, ohne zu vereinheitlichen", betitelt Pierre Bourdieu, der prominenteste der 15 Autoren und Autorinnen des Sammelbandes "Neue Wege der Regulierung. Vom Terror der Ökonomie zum Primat der Politik", seinen Beitrag und zeigt damit, dass er seine postmoderne Lektion gelernt hat. Setzte sich der Nestor der Postmoderne, Jean-Francoise Lyotard, gegen den Terror dominierender Diskurse ein, so will Bourdieu die soziale Vielstimmigkeit nicht durch die Dominanz von Nationalhymne, Kirchenlied oder der Internationale ersetzen. Energisch wendet sich Bourdieu jedoch gegen die hierzulande gern als "postmodern" kolportierte Ansicht, im "globalen Medienrauschen" sei heutzutage sowieso alles egal bzw. "kontingent", und man solle, nunmehr etwa mit Lehrstuhl, Sportwagen und Villa im Grünen gut versorgt, den lieben Marx einen guten Mann sein lassen.

Bourdieu ist die zynische Kaltschnäuzigkeit fremd, und er konzentriert sich auf die Beseitigung von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung, wie sie Viviane Forrester in "Der Terror der Ökonomie" beschrieb (Der Terror der Ökonomie). Der vorliegend Band zur Jahrestagung der Otto-Brenner-Stiftung, in dem durchaus auch notorische Deregulierer und Globalisierer zu Wort kommen, befasst sich hauptsächlich mit den Opfern der marktradikalen Wettbewerbsorgie der neoliberalistischen 90er Jahre. Er widmet sich den um ihre hart erkämpften Rechte betrogenen Arbeitern und Arbeitslosen der ersten Welt, vor allem aber den Opfern in den Staaten des Südens, den ausgebeuteten Arbeiterinnen, den gefolterten Gewerkschaftern und den verelendeten Kindersklaven in Fabriken sog. "Freihandelszonen". Kurzum, er widmet sich dem Großteil der Weltbevölkerung: Menschen, die ihrer Lebenschancen beraubt werden, nicht zuletzt durch rücksichtslose Ausbeutung auch der Natur und ihrer schrumpfenden Ressourcen (Globale Armut im späten 20. Jahrhundert).

Dies sind Themen, die in unserer auf Sex, Crime und Glamour gleichgeschalteten Medienwelt immer seltener zu finden sind, schaffen sie doch ein "negatives Umfeld" für die Werbung. Auch der Führer warb um die Gunst seiner Nazi-Untertanen einst am Liebsten im Umfeld von Defa-Schönheiten und Siegesmeldungen. Aber irgendwann kamen sie dann doch - die ersten kleinlauten Meldungen von den "Frontbegradigungen" im Osten. Die neoliberalen Globalisierer haben inzwischen ebenfalls ihr Stalingrad erlebt: die totale Niederlage ihres Überraschungscoups, des "Multilateral Agreement on Investments" MAI (Noch eine Anstrengung, ihr Globalisierer!). Eine neue Weltwirtschaftsordnung sollte das MAI werden, von der OECD, dem Club der 30 reichsten Länder, unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit in Hinterzimmern ausgekungelt. (Womöglich korrupte) Ministerialbürokraten und Gewerkschafter sollten "den Investoren", d.h. den Multis, in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag auf Jahrzehnte hinaus pauschal Herrschaftsrechte übertragen; die Souveränität der Völker, selbst Menschenrechte sollten gegenüber dem großen Geld zurückstehen.

Doch der Plan flog auf und wurde durch die Internet-Subkultur weltweit wenigstens einer politisch informierten Minderheit bekannt gemacht, trotz eines gigantischen medialen Sperrfeuers mittels zeitgleich hochgejubelter US-Präsidenten-Sexaffäre. Die Frontbegradigung infolge des MAI-Debakels läuft jetzt vor allem innerhalb der WTO-Verhandlungen, dem Versuch einer Neuordnung der Weltwirtschaft über die Welthandelsorganisation. Diese Neuordnung ist Hauptthema des Tagungsbandes.

Den großen Sieg in Sachen MAI nicht gebührend zu feiern, muss allen 15 Autoren und Autorinnen vorgeworfen werden. Wo sonst sollte ein Forum dafür zu finden sein? Wer seine Siege nicht feiern kann, landet bei einem zerknautscht-depressiven Weltbild, wie es sich in Erhard Epplers Beitrag zeigt. Eppler mag der Verve Bourdieuscher Aufforderungen zur Einberufung sozialer Generalstände nicht folgen und setzt auf katholische Soziallehre, Gemeinde und Familie.

Nach einleitenden Worten zur Politik widmet der Band vier Abschnitte den Themen Weltfinanzsystem, Arbeits- und Gütermärkte sowie neuen Wegen der Regulierung. Lafontaines gescheiterte Pläne für die Weltfinanzen werden dargestellt, eine neoliberal angehauchte Ökonomin, die noch nie von Spekulation oder Tobin-Tax gehört zu haben scheint, predigt Deregulierung, Jörg Huffschmidt hält dagegen für eine Einschränkung der Derivatgeschäfte und Ächtung der Offshore-Steueroasen.

Die Debatte "flexibler Arbeitsmarkt" versus Flächentarifvertrag (FTV) eröffnet Heiner Flassbeck, Ex-Staatssekretär Lafontaines. Er kritisiert den Neoliberalismus als Dogmatismus einer innovationsfeindlichen Preismechanik und weist auf Vorteile der Tarifsicherheit hin. Anders Claus Schnabel, der auf eine Abwägung von Marktversagen gegen Politikversagen pocht, und die "Arbeitsplatzbesitzer" wegen ihres Kündigungsschutzes für die Massenarbeitslosigkeit in Haft nehmen will. Seine Argumentation entbehrt zuweilen jeglicher Logik, ventiliert dafür aber heftig die Ziele der Arbeitgeberseite, gestützt auf ominöse "empirische Untersuchungen". Die Regulierung der Arbeit sei einfach zu unflexibel und der Vorrang des FTV über Betriebsvereinbarungen sei problematisch. Da sollte Professor Schnabel doch besser die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dadurch voranbringen, dass er selber auf seinen unkündbaren Beamtenstatus verzichtet.

Durch die Niederlage des Neoliberalismus in Sachen MAI haben die ILO, der fast schon in Vergessenheit geratene "Weltbetriebsrat" der UNO, und die Gewerkschaften nicht nur in den WTO-Verhandlungen an Boden gewonnen. Neil Kearney von der internationalen Textil-Gewerkschaft argumentiert in diesem Aufwind für Sozialklauseln. Rainer Falk, Herausgeber des "Informationsbriefs Weltwirtschaft & Entwicklung" erwähnt als einziger immerhin das MAI und ruft zu einem "New Deal" zwischen Nord und Süd auf. Er zieht in seinem herausragend kompetenten Beitrag gegen die "Sozialklauseldebatte" in der WTO zu Felde, in der Regierungen, Gewerkschaften und Entwicklungsländer von den Multis gegeneinander ausgespielt werden. Die Entwicklungsländer müssen sich beim Einbau von Sozialklauseln in die internationalen Handelsverträge von einem weiteren Instrument des Protektionismus bedroht fühlen, wenn ihnen nicht in einem "New Deal" kompensatorische Vorteile eingeräumt werden.

Weit weniger instruktiv, dafür aber extrem langatmig befasst sich das Professorenduo Scherrer/Greven mit dem Thema der sog. Verhaltenskodizes. Diese sollen den Multis Richtlinien für soziale Standards, Arbeits- und Menschenrechte nahelegen bzw. werden von den Konzernen selbst zwecks PR postuliert. Der Aufsatz entwickelt zwar ansatzweise Kriterien zur Bewertung solcher Kodizes, schafft es aber nicht, sie systematisch auf die genannten Beispiele anzuwenden. Stattdessen referieren die Autoren ein wirres Sammelsurium von Konventionen, Pilotprojekten, Organisationen und Initiativen völlig ungeordnet in nahezu unlesbaren Schachtelsätzen: "Die Social Accountability International (SAI; bis Sommer 2000: CEP Accreditation Agency, CEPAA) ist Mitglied des International Accreditation Forums und erfüllt alle Anforderungen einer internationalen Akkreditierungsagentur auf der Basis von ISO/IEC Guide 61." Keine der Organisationen, von denen in jedem Absatz neue auftauchen, wird in ihren Hintergründen oder Beziehungen diskutiert, und was z.B. ISO/IEC etc. ist, soll der Leser wohl selber recherchieren. Der Beitrag, der nach 35 Seiten letztlich das gleiche Fazit ziehen muss wie Rainer Falk, erscheint fast als Teil jener Verwirr- und Hinhaltetaktik, mit der die Industrie die Durchsetzung globaler Sozialstandards verzögern will.

Das Schlusskapitel bestreiten ein Gewerkschafter und ein Unternehmer: Klaus Zwickel verteidigt sein nationales Bündnis für Arbeit gegen die Bourdieuschen Aufrufe zur weltweiten Solidarität, um dann aber gegen Sozial- und (!) Umweltdumping zu wettern. Klaus Steilmann setzt ökologische Appelle an seine Unternehmerkollegen neben das übliche Deregulierungslamento, fordert aber den "neuen Weltmarktplatz" Internet sicherer zu machen: Vom Nachtwächter- zum Netzwächterstaat?

Insgesamt zeigt der Tagungsband der Otto Brenner Stiftung das Aufkeimen einer lebendigen Globalisierungsdebatte von Links, als Antwort auf das Versagen marktradikaler Ideologien im vergangenen Jahrzehnt des Neoliberalismus. Der Katzenjammer der New-Economy-Spekulanten und der Schwung aus dem Niederkämpfen des MAI muss nun genutzt werden, um auch die Öffentlichkeit aus dem globalisierungstrunkenen Multimedia- und Börsentaumel wieder auf den Boden der sozialen Tatsachen zurück zu holen. Vielleicht lassen sich Elend und Umweltkrisen heute wieder nüchterner anpacken.

Bourdieu, Pierre, Eppler, Erhard u.a.: Neue Wege der Regulierung: Vom Terror der Ökonomie zum Primat der Politik, VSA Verlag, Hamburg 2001, 160 S., 24,80 DM, ISBN 3-87975-804-2.