Globalisierung der Sozialpolitik

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung plädiert für eine Neuordnung des Welthandels aus ökonomischer Vernunft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die uneingeschränkte Freiheit des Welthandels hat den Großteil ihrer Befürworter enttäuscht. Augenscheinlich führt sie nicht zu maximalem Wohlstand für alle Beteiligten, einer Anhebung des allgemeinen Lebensstandards, besseren Bildungsangeboten und effektiveren Gesundheitssystemen. Im ungleichen Wettbewerb der Industrie- und Entwicklungsländer haben diese regelmäßig das Nachsehen und zahlen den Preis in Form von miserablen Arbeitsbedingungen und Dumpinglöhnen, flächendeckender Armut und sozialen Katastrophen aller Art. Gleichwohl setzt die Welthandelsorganisation weiter auf das "freie Spiel der Kräfte", in dem Staaten zu "Standorten" umfunktioniert werden, die um niedrige Steuern, Sozial- und Umweltstandards konkurrieren.

Die globale Wirtschaftskrise hat die Forderung nach einheitlichen Regeln und Rahmenbedingungen zwar wieder salonfähig gemacht, doch beschränken sich die bisher eingereichten Vorschläge in erster Linie auf eine Domestizierung der Finanzmärkte.

Dabei wäre es höchste Zeit, über eine weltweite Sozialpolitik nachzudenken, die sich nicht auf die Behebung grober Missstände beschränkt, sondern aktivierende Elemente entwickelt, um aus den Benachteiligten des jetzigen Welthandels gleichberechtigte Partner zu machen und den Dauerzustand sozialer Ungerechtigkeit wenigstens perspektivisch aufzuheben. Ob und wie so etwas funktionieren könnte, hat Felix Ekardt, Juraprofessor an der Universität Rostock, im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung untersucht.

Kostengünstige Sozialstandards

Ekardt geht davon aus, dass die finanziellen, gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen, welche die Globalisierung mit sich gebracht hat, schon heute die Reformdebatten in den modernen Industriestaaten beeinflussen. Denn nicht nur die Entwicklungsländer kämpfen mit oft dramatischen Verteilungskonflikten. Auch die vermeintlichen Dompteure des Welthandels geraten nach und nach in den Sog eines "Kostenwettbewerbs durch Sozialabbau".

Wenn aber andere Staaten deutsche Unternehmen mit niedrigen Sozialabgaben und Steuersätzen locken und zugleich die Qualifikation der Arbeitnehmer in anderen Ländern sich nach und nach dem deutschen Niveau annähert, ist die Versuchung für die nationale Politik groß, darauf mit „kostengünstigeren Sozialstandards auch in Deutschland“ zu antworten (mit dem Argument, wegziehende Unternehmen und damit wegbrechende Unternehmenssteuereinnahmen würden den Sozialstaat unbezahlbar machen).

Felix Ekardt

Die Schwächung des Sozialstaats ist freilich nur Teil eines sehr viel umfassenderen Problems. Mit dem Kampf um Kostensenkung in allen Bereichen stehen wichtige ökologische Maßnahmen zur Disposition. Steigende Arbeitszeiten und wachsender Leistungsdruck beeinträchtigen Physis und Psyche der Arbeitnehmer, kurzfristige Entscheidungen zur Unternehmensansiedlung verschandeln Landschaftsbilder und gewachsene Gesellschaftsstrukturen, und schon bald könnten auch Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in demokratischen Systemen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Felix Ekardt befürchtet jedenfalls, dass durch die globalökonomischen Verflechtungen "Sachzwänge" ermittelt oder vorgeschützt werden, die in ein "Spannungsverhältnis zur demokratischen Idee offener Entscheidungsprozesse" treten. Zu einer ganz ähnlichen Erkenntnis kam der Zukunftsforscher Robert Jungk übrigens schon vor 57 Jahren.

Die "Eroberung der Zukunft", wie die Industrieplanung sie betreibt, reicht fast überall in die Sphäre der Politik hinein. So kann es kaum wundernehmen, dass die Industrie in wachsendem Maße versucht, auch in den politischen Bereich aktiv einzugreifen. Andererseits fragt die Politik ständig bei der Wirtschaft zurück, mit welchem Kräftepotential, sie zur Durchführung ihrer Ziele rechnen kann. Die nächste logische Etappe des Griffs nach dem Kommenden ist daher die Ausdehnung der "wissenschaftlichen Prophezeiung" in die politische Sphäre.

Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen (1952)

Untaugliche Lösungen

Um den Welthandel politischen Rahmenbedingungen zu unterwerfen und soziale Mindestvorgaben zu berücksichtigen, wurden in der Vergangenheit verschiedene Modelle diskutiert, die der Rostocker Juraprofessor mehrheitlich für untauglich hält. Hohe Sozial- oder Umweltzölle auf Waren, die in Entwicklungsländern unter "problematischen Bedingungen" hergestellt wurden, würden aller Voraussicht nach eine protektionistische Wirkung entfalten, meint Ekardt. Selbst wenn die Erlöse den Nationen wieder zur Verfügung gestellt werden, um Bildungs-, Umwelt oder Sozialprogramme zu finanzieren, sei mit praktisch unlösbaren Schwierigkeiten bei der Berechnung der Zolltarife und erheblichen internationalen Verteilungskonflikten zu rechnen.

Bedingungslose Importverbote würden ebenfalls mehr Probleme verursachen als sie beheben können, und an die Weitsicht des politisch korrekten, umfassend informierten und solidarisch eingestellten Verbrauchers mag die Studie der Hans Böckler-Stiftung ebenfalls nicht glauben. Die Vorstellung, weltweit operierende Unternehmen nur mit Hilfe von Konsumentscheidungen zum Umdenken bewegen zu können, gilt nicht nur in gewerkschaftsnahen Kreisen als schlicht unrealistisch.

Arbeitsnormen

Eine effektive Lösung sieht Ekardt dagegen in der Entwicklung internationaler Sozialstandards, die im Rahmen der Welthandelsorganisation konzipiert und umgesetzt werden. Sie müssten deutlich über die Vereinbarungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hinausgehen, die sich bisher allerdings ohnehin nur auf eine sehr allgemeine "Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit" einigen konnte .

Für die ILO gehören die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen, die Beseitigung der Zwangsarbeit, die Abschaffung der Kinderarbeit und das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf zu den sogenannten "Kernarbeitsnormen", die in insgesamt acht Übereinkommen zwischen 1948 und 1999 näher erläutert, aber weltweit nur sehr bedingt umgesetzt wurden.

Die aktuelle Studie empfiehlt an Stelle dieser unverbindlichen Absichterklärungen konkrete Bestimmungen, die im Welthandelsrecht verankert werden und damit eine "reale Rechtsverbindlichkeit" bekommen.

Die Rolle der EU

Um die Weltgemeinschaft nicht zu überfordern, soll die Europäische Union mit gutem Beispiel vorangehen und sich auf eine Vereinheitlichung ihrer noch immer sehr unterschiedlichen Sozialstandards verständigen. Ekardt denkt dabei an vergleichbare Regelungen innerhalb der Sozialversicherungen oder die Einführung von Mindestlöhnen.

Nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit darf allerdings bezweifelt werden, ob ein solcher Vorschlag realistische Chancen hat, mittelfristig in praktische Politik und Gesetzesbestimmungen umgesetzt zu werden. In Deutschland können sich nicht einmal die aktuellen Koalitionspartner auf die Einführung flächendeckender Mindestlöhne verständigen, und auch in vielen anderen europäischen Ländern ist eine Einigung derzeit nicht in Sicht.

Sozialstandards und Emissionshandel

Das zweite Plädoyer der Studie gilt einem noch ungleich ambitionierteren Vorhaben. Um das Klima- und das Weltarmutsproblem gleichzeitig und mit gegenseitigen Synergieeffekten anzugehen, wird ein globaler sozial- und umweltpolitischer Rahmenplan vorgeschlagen. Er soll bis 2050 jährlich sinkende Treibhausgasemissionen beinhalten und einen völlig neuen, weil doppelten – global zwischen allen Staaten und kontinental/national zwischen sämtlichen primärenergieverwendenden Unternehmen – Emissionshandel etablieren.

Seine globalen Handels- und nationalen Auktionserlöse kämen allen Menschen pro Kopf als Ökobonus finanziell zugute (in den Industrieländern niedriger als in den Entwicklungsländern, weil der Kauf von Emissionsrechten durch die Industrieländer von den Auktionserlösen im Norden abgezogen und den Auktionserlösen im Süden zugeschlagen würden). Neben der Lösung des globalen Klimaproblems wirkt diese globale Wohlstandshebungsstrategie wie globale Standards gegen komparative Kostennachteile.

Und diese Kostennachteile kämen sonst mit steigender Arbeitsproduktivität in den Entwicklungs- und Schwellenländern verstärkt auf die OECD-Staaten zu (und dies nicht mehr nur in einigen „einfachen“ Produktionsbereichen).

Felix Ekardt

Anschließend sollen weitere Sozialstandards vereinbart und Handelspräferenzen stärker genutzt werden. Will sagen: Wenn sich Entwicklungsländer auf Sozialstandards verpflichten, werden ihnen Handelsvorteile und bei Einhaltung sogar geldwerte Leistungen gewährt.

So könnte dieser globale sozial-ökologische Gesamtansatz zum Musterbeispiel eines Kompromisses zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Norden und Süden werden – und zwar mit einer starken Relevanz gerade in sozialpolitischer Hinsicht. Die vorgeschlagenen Ansätze senken den Ressourcenverbrauch, schonen das Klima, begünstigen zugleich einen Innovationsschub in der Wirtschaft, reduzieren die Energieimportabhängigkeit und stabilisieren langfristig die Energiepreise (ebenfalls ein sozialer Aspekt). Nicht zuletzt aber wird so der Sozialstaatlichkeit in den OECD-Staaten und der Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern parallel ein guter Dienst erwiesen, indem der „Wettlauf um die Standards“ abebben wird und zugleich die sozialen Folgen des Klimawandels abgefedert werden.

Felix Ekardt

Das utopische Potenzial

Das Versprechen einer "globalen Wohlstandshebungsstrategie" unterscheidet sich formal betrachtet kaum von den Heilsangeboten des freien Welthandels, die sich in den vergangenen Jahren als fadenscheinig und unrealistisch erwiesen haben. Ist es also wahrscheinlich, dass die Sozialpolitik humanitäre Werte und Handlungsfelder zurückgewinnen kann, die von der Wirtschaftspolitik im Zuge der Globalisierung verspielt oder für bedeutungslos erachtet wurden?

Felix Ekardt glaubt an eine Kehrtwende und hält ein "System von Globalstandards", wenn es denn rechtlich verankert wird, auch nicht für utopisch. Immerhin ständen bis Ende 2009 völkerrechtliche Verhandlungen über einen neuen globalen Klimaschutzvertrag auf dem Programm. Für diesen gäbe es bisher wenig ambitionierte Vorschläge, doch die Notwendigkeit in der Weltgemeinschaft zu verhandeln könne - mit der Finanzkrise im Hintergrund - zu überraschend positiven Resultaten führen. Eine stärkere Einrahmung des globalen Marktes stehe schließlich ohnehin auf der Agenda.

Der oben bereits zitierte Robert Jungk würde Ekardt vielleicht recht geben, weil er den Begriff "utopisch" ohnehin nicht abwertend verstanden wissen wollte und der Entwicklung entsprechender Vorstellungen, Ideen und Planspiele viel abgewinnen konnte.

Wollen wir menschlichere, lebendigere, produktivere Lebensumstände schaffen - und dies ist die große Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte - dann ist das Erfinden, Durchdenken und experimentelle Durchspielen möglicher, wünschbarer, humaner Zukünfte von erstrangiger Bedeutung. Wir sollten Werkstätten und Probebühnen schaffen, in denen die "Welt von morgen" in ersten Strichen skizziert, kritisiert, in verbesserter Form modelliert, abermals diskutiert und derart auf vielfache Weise dargestellt werden könnte.

Robert Jungk

Jungk hatte dabei übrigens nicht nur die soziale und wirtschaftliche Zukunft des Planeten im Blick, sondern auch und gerade die Weiterentwicklung demokratischer Entscheidungsprozesse.

Das demokratische Entwerfen von Zukünften erweist sich derart als ein hervorragendes pädagogisches Mittel gegen politische Gleichgültigkeit, deren Ursache - wie sich jetzt erkennen lässt - zu einem beträchtlichen Teil darin zu suchen ist, dass die meisten zu wenig an der aktiven Entwicklung gesellschaftlicher Gedanken und politischer Strategien beteiligt werden. Sie sind eben auch auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in die passive Rolle des "Konsumenten", der "Mitmacher", der "Mitläufer" gedrängt worden. Und zwar selbst dann, wenn die politischen Formationen, denen sie beigetreten waren, sich demokratische Ziele setzen.

Robert Jungk