Griechenland: Tod auf dem Schulhof

Eine verirrte Kugel erschüttert Griechenland und löst Pogromstimmung aus

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Der Tod eines elfjährigen Schülers lässt im Großraum der griechischen Hauptstadt zahlreiche Gegensätze aufbrechen. Die Situation in und um der auch aufgrund der Sparpolitik zum Ghetto gewordenen Vorstadt Athens Menidi droht zu eskalieren. Im Fokus stehen Roma, Drogendealer und ein archaischer Brauch. Viele, vor allem betont männlich auftretende Bewohner Griechenlands lieben es, zum Feiern oder Trauern mit ihren Waffen in die Luft zu schießen.

Genau dies wurde dem Elfjährigen zum Verhängnis. Er befand sich am Donnerstagabend auf einem Schulfest an seiner Grundschule. Zum Abschluss eines Schuljahres sind solche Feste üblich. Die Kinder führen gemeinsame Sketche auf, singen Lieder, treiben Sport und werden dabei von ihren Eltern begleitet. Bei dem Elfjährigen handelte es sich um den Sohn einer ebenfalls an der Schule unterrichtenden Lehrerin. Das Fest war im Gang, als kurz vor dem Auftritt der Gruppe des Elfjährigen dieser unvermittelt umfiel. Weil sich am Kopf des Kindes eine stark blutende Wunde zeigte, und weil dieser in der Nähe eines Bordsteins umgekippt war, gingen alle davon aus, dass er bei einem Ohnmachtsanfall unglücklich gestürzt sei. Die laute Musik des Festes hatte alles andere an Tönen der Umgebung übertönt.

Mit einiger Verspätung traf der Rettungswagen ein, das ohnmächtige Kind wurde notärztlich versorgt und in das Kinderkrankenhaus Athens gebracht. Dort wurde nach knapp einer Stunde erfolgloser Wiederbelebungsversuche der Tod des Kindes attestiert. Auf der Sterbeurkunde wurde als Todesursache eine durch einen Sturz hervorgerufene Kopfwunde dokumentiert.

Wie in Griechenland für einen Todesfall, der außerhalb eines Krankenhauses oder unabhängig von einer bekannten Vorerkrankung eintritt, gesetzlich vorgeschrieben, wurde der Leichnam für eine Obduktion in die Gerichtsmedizin überstellt. Der Gerichtsmediziner staunte nicht schlecht, als er am Freitagmorgen im Kopf des Kindes ein 9 mm Projektil einer Schusswaffe fand.

Menidi, das unbekannte Ghetto

Plötzlich wurde der Öffentlichkeit bekannt, wie es um Menidi steht. Dort und im angrenzenden Agia Varvara, das mit dem kalifornischen Santa Barbara nur den Namen gemein hat, wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Roma, die aus anderen Teilen Attikas vertrieben worden waren, angesiedelt. Dazu kamen griechischstämmige Aussiedler aus der früheren Sowjetunion und ethnische Russen, Armenier und Georgier. Seitens des Staats und der Regionalverwaltung Attikas wurde Menidi stiefmütterlich behandelt, wie nun alle Verantwortlichen zugeben.

Die Polizeiwachen dort und im benachbarten Zefyri sind mit zwanzig Jahre alten Toyata Landcruisern als Streifenwagen ausgestattet. Die extrem reparaturanfälligen Fahrzeuge, deren Motoren teilweise bereits mehr als eine Million Kilometer auf dem Buckel haben, wurden den Griechen von der EULEX geschenkt, als sie für den Einsatz im Kosovo nicht mehr einsetzbar waren.

Auf einem ähnlichen Stand der Technik befindet sich die übrige Ausstattung der lokalen Polizeidienststellen. Die Arbeit für die Polizei wird noch weiter erschwert, weil im Rahmen der Sparmaßnahmen Planstellen abgeschafft wurden und die verbleibenden Beamten alles versuchen, um an andere Orte oder Einsatzstellen versetzt zu werden. Statt in Menidi Streife zu fahren, bewachen sie lieber Politiker oder die Akropolis.

Bürgerschutzminister Nikos Toskas gab denn auch zu, dass sich bis vor einem Jahr kein Polizist auf Streife in Menidi oder einer der übrigen Gemeinden in Westattika getraut habe. Er räumte ein, dass der Staat hier versagen würde und dass eine schnelle Lösung, die Toskas Meinung nach einer Dauer von zwei Jahren entspricht, nicht möglich sei. Denn, so Toskas, nicht das autonome Exarchia, sondern vielmehr Westattika sei die Hochburg der Drogenkriminalität.

Tatsächlich kann jeder interessierte Beobachter täglich registrieren, wie öffentliche Busse voller Drogensüchtiger nach Menidi fahren. Dort müssen die Süchtigen nicht in einer Straßenszene den Blicken von verdeckten Fahndern aussetzen, aber auch nicht lange suchen. Sie folgen einfach ihrem Gehör. Die einzelnen Drogenclans weisen sie mit Schüssen in die Luft darauf hin, dass es neue Ware gibt oder dass noch Stoff da ist. Weil das in die Luft Ballern auch von nicht mit dem Drogenhandel beschäftigten Zeitgenossen ausgeübt wird, sind die nach den Waffengesetzen eigentlich verbotenen Schüsse für Außenstehende nicht leicht zu entschlüsseln.

Der Polizist Spilios Kriketos vom Gewerkschaftsverband der Polizei meint, dass Menidi einfach das Pech habe, dass kein namhafter Politiker oder Prominenter dort wohnen würde. Der zynischen Feststellung schloss sich eine Selbstkasteiung an. Die Polizei sei moralisch verantwortlicher Mittäter am illegalen Geschehen in Menidi, meinte.