Grimmiges über Google Books

Buch-Digitalisate demokratisieren auch die Regionalforschung - der Google-Konzern hinkt hinterher und setzt auf Unmündigkeit

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Im zweiten Jahrzehnt des 3. Jahrtausends unserer Zeitrechnung hat der Zugang zu historischen Buchquellen über Digitalisate einen schier unglaublichen Stand erreicht. Das revolutioniert und demokratisiert namentlich auch die regionale Forschung. Bei der Recherche zu "Neuerscheinungen" kann seit geraumer Zeit kaum ein Normalsterblicher noch Schritt halten. Nicht jeder Anbieter macht es den Nutzern leicht, wie ich nachfolgend mit konkreten Beispielen aus einem Mundartprojekt zeigen werde. Manchmal sagt schon die äußere Form viel darüber aus, ob Gutes im Schilde geführt wird oder eher nicht.

Schreibgarnitur-Ablage der sauerländischen Mundartlyrikerin Christine Koch (1869-1951). Bild: www.sauerlandmundart.de

Noch vor zwei Jahrhunderten konnten Gelehrte ihre bienenfleißig erarbeiteten Wälzer zur Geschichte der eigenen Landschaft nur auf den Markt bringen, wenn ein genügend großer Kreis von Subskribenten sie unterstützte (immerhin gab es im 19. Jahrhundert für Forschende im Beamtenverhältnis bisweilen Freistellungen zur Fertigstellung von Kulturprojekten, und in diesem Zusammenhang hatte etwa der preußische "Sinn für Historie" auch seine guten Seiten). Die Unterstützer eines Buchvorhabens werden in den Vorspännen alter Geschichtswerke und Quellensammlungen - manchmal auf sehr persönliche Weise - namentlich aufgeführt. Ein Autor musste wohl viel Kraft in die Korrespondenz mit seinen potentiellen Lesern investieren. Große Auflagen kamen auf diese Weise kaum zustande.

Noch bis vor kurzem war es ein Privileg ökonomisch abgesicherter Regionalforscher, die nicht leicht zugänglichen Pionierwerke aus einer Landschaft einzusehen (denn für Bibliotheksrecherchen braucht man "Freiräume"). Heute kann jeder Interessierte auch im Bereich der weit zurückreichenden neuzeitlichen Druckerzeugnisse so viel Lesestoff abrufen, dass die qualitative Orientierung das Hauptproblem darstellt.

Auf jeden Fall ist das Monopol der historischen Narrative von privilegierten Spezialisten gebrochen. Wer möchte und genug Lebenszeit hat, kann fast auf jedem Gebiet der Regionalforschung Gegenmeinungen einholen bzw. sich auf eigene Erkundigungsfahrt begeben. Aufklärung ahoi! Natürlich bestehen noch mancherlei Widrigkeiten, z.B. beim Verständnis alter regionaler Sprachen oder bei den Drucklettern (bei jungen Lesern kann u.U. sogar ein in Fraktur gesetztes Werk aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Horror auslösen).

Attraktive Regionalangebote am Beispiel Westfalens

Angst vor einem Diktat globaler Kommunikationsmonopole muss man bei all dem eigentlich nicht mehr haben. In meinem eigenen Forschungsfeld "Westfalen" sind die regionalen Angebote jedenfalls inzwischen attraktiver und meist weiterführender als das, was die Datenflut globalgalaktischer Suchmaschinen für E-Books bisweilen zusammenbraut.

Gut gemachte Ausstellungsprojekte wie Westfalens Aufbruch in die Moderne kann man im Internet erwandern. Über das Kooperationsprojekt Digitale Westfälische Urkunden-Datenbank machen der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und die Stiftung Westfalen-Initiative seit einigen Tagen insgesamt über 85.000 Urkunden im Netz zugänglich. Wer pessimistisch meint, überall im öffentlichen Bereich habe der geistlose Ökonomismus den Kultursinn schon gänzlich zerstört, wird auch im übergeordneten Westfälischen Geschichtsportal eines Besseren belehrt.

Die Universität Münster bietet in einer vorbildlich angelegten Internetbibliothek Werke aus ihrem Rara-Magazin und vieles anderes an. Ohne Gängelung und abschreckenden Schnickschnack kann man sich ein gewünschtes PDF herunterladen. Das Vorblatt enthält - zugänglich für die Kopiertaste - die bibliographischen Grunddaten und die Adresse der Datenbank. Mit Hilfe dieses Angebotes konnte ich in nur drei Tagen so viele schwer greifbare Ortschroniken sichten und in mein Arbeitsarchiv übernehmen wie sonst selbst mit moderner Fernleihlogistik in etwa zwei Monaten. Vielleicht gehört das getriebene Durchblättern und Exzerpieren seltener oder mit Kopierverbot belegter Bücher im Lesesaal einer Bibliothek bald ganz der Vergangenheit an?

Die Kommission für Mundartforschung Westfalens stellt alle vergriffenen Forschungsbeiträge frei ins Netz. Sprachzeugnisse aus 12 Jahrhunderten erschließt das von den Universitäten Münster und Bielefeld betreute Historische Digitale Textarchiv Niederdeutsch in Westfalen (NiW). Dort sind im letzten Jahr z.B. 700 Jahre alte Psalmen- und Brevierübersetzungen aus meiner allernächsten Heimat eingestellt worden. Es handelt sich vermutlich um die frühesten mittelniederdeutschen Werke dieser Art, und sie weisen kleinräumige Mundarteigentümlichen des Hochsauerlandes auf, die noch heute bestehen. Doch selbst ein Kreis von regionalsprachlich engagierten Leuten, zu dem ich selbst zähle, hatte die Texte zuvor nie zur Kenntnis genommen (was über die Editionen eines schwedischen Philologen ab 1919 immerhin möglich gewesen wäre).

Entsprechende Vermittlungen sind für das Geschichtsbild nicht unbedeutend, denn die Existenz volkssprachlicher Bibeltexte um 1300/1325 sagt im Bannkreis kirchenamtlicher Verbote z.B. auch etwas über die nahen soziokulturellen Verhältnisse zur Entstehungszeit aus. Eine Dokumentation zum Thema hatte ich gerade wenige Tage ins Netz gestellt, da gab es schon von unbekannter Seite einen vernünftigen Wikipedia-Eintrag.

Plattdeutsch geht ins Internet: Sprachprojekt für eine kleine Landschaft

Ich selbst betreue seit 1987 ein "ehrenamtliches" Mundartarchivprojekt für meine Heimatlandschaft, das aus neuen Vernetzungsformen naher Kulturszenen großen Nutzen ziehen kann und sich seit 2010 auch mit einem eigenen Internetauftritt präsentiert. Die sauerländische Mundart war noch die Muttersprache meines Vaters (Jg. 1927), doch heute kann man die Kinder, die im ganzen Kreisgebiet mit ihr groß werden, wohl an einer Hand abzählen. Da es viele Doppelselbstlaute, Wortzusammenziehungen und andere Eigentümlichkeiten gibt, können selbst Niederdeutschsprecher aus anderen Landschaften das Sauerländer Platt nur schwer verstehen.

Während ein befreundeter Sprachwissenschaftler sich vor allem um hörbare Tonzeugnisse des kurkölnischen Gebietes kümmert und hierzu auch für den Westteil der Landschaft schon eine stattliche CD-Kollektion vorliegt, widme ich mich der literarischen Seite des kulturellen Sprachgedächtnisses. Gedruckte Bücher erschließen nur einen Teil der viel größeren mundartlichen Schreibkultur. Verschlossene Archivbesitztümer sind nun aber eine tote Angelegenheit. In einer Reihe "daunlots", die zugegebenermaßen noch ein besseres Layout benötigt, wird der Quellenfundus zur kostenlosen nichtkommerziellen Nutzung erschlossen. Unzählige ungedruckte Manuskripte könnten hier - soweit es der Atem zulässt - erstmals ediert werden.

Allerdings steht den revolutionierten Möglichkeiten des regionalen Kulturgedächtnisses in diesem Fall eine kaum noch vorhandene Sprachkompetenz auf Nutzerseite gegenüber. Beim Sauerländer Heimatbund, der im Übrigen ein ganzes Jahrhundert seiner Druckschriften in einem Digitalarchiv anbietet, ist zumindest das Standardwörterbuch für zwei Kreisgebiete frei abrufbar. Eine Übersetzungsmaschine bleibt wohl auch in 100 Jahren noch Utopie, denn der Programmierer müsste neben einem fremden grammatischen Kosmos die Varianten von unzähligen verschiedenen Lokalmundarten berücksichtigen. Wer könnte (sich) das leisten?

Vom Nutzen der großen Buchmaschinen

Überregionale Netzangebote sind für regionale Kulturprojekte von großem Nutzen. Gute Literaturdatenbanken wie z.B. diese oder diese wissen über einen nahen Autor manchmal mehr als der zuständige "Ortsheimatpfleger" (zu viele Wikipedia-Einträge bleiben leider immer noch hinter einschlägigen Netzlexika zurück). Für die besagte "daunlots"-Reihe finde ich bei "Wikimedia" nicht selten hervorragendes lokales Bildmaterial: alles frei. Ohne Suchmaschine würde man uns auch nicht finden (Google sei ausdrücklich bedankt).

Da wir außerdem schon genug Mühe haben, die noch unveröffentlichten Literaturmanuskripte und weitere Sprachzeugnisse zu erschließen, ist es nur willkommen, wenn andere - womöglich eben auch Konzerne - die Digitalisierung gedruckter und längst gemeinfreier Mundartwerke aus alten Zeiten übernehmen (das Projekt "Sauerlandmundart" will ja gerade auch exemplarisch zeigen, dass die Welt der Sprache immer größer bzw. "kleiner" ist alle gedruckten oder bereits digitalisierten Erzeugnisse). Wir kümmern uns derweil auch gerne um solche Autorinnen und Autoren, die über ihre Dorfgrenzen hinaus niemanden interessieren und auch nicht unbedingt interessieren müssen (für die Sozialgeschichte des Kleinraums wäre freilich eine Ausklammerung solcher plattdeutschen Zeugnisse fatal).

Friedrich Wilhelm Grimme (1827-1887) - Quelle: Chr.Koch-Mundartarchiv (gemeinfrei)

Friedrich Wilhelm Grimme - der "erste Sauerländer" als Beispiel

Ein gutes Beispiel für entsprechende Internetpräsenz ist nun Friedrich Wilhelm Grimme (1827-1887), wegen seiner Konstruktion einer selbstbewussten regionalen Identität - jenseits überkommener Verächtlichmachungen und Minderwertigkeitskomplexe - auch "der erste Sauerländer" genannt. Dieser bedeutsamste Pionier der sauerländischen Mundartliteratur eröffnete mit plattdeutschen Werken schon ab 1857/58 eine populäre Bücherkultur in dem ansonsten noch denkbar "rückschrittlichen" kurkölnischen Sauerland. Gelobt wurden seine heiteren Kurzgeschichten u.a. 1874 von Ferdinand Freiligrath, da sie eine - für die "neuen" preußischen Landesherren anarchisch anmutende - Kleineleutelandschaft mit trinkfestem "Klerikerproletariat" vorführten, der man unter "Bismarcks Eisenritt" keine lange Lebensdauer mehr zutraute (in Wirklichkeit haben dann die neuen katholischen Fundamentalisten Fröhlichkeit, Toleranz und egalitären Freiheitssinn in der Landschaft z.T. noch mehr bedroht als die Preußen).

Grimmes plattdeutsches Gesamtwerk besteht aus vier Schwank-Sammlungen (Sprickeln un Spöne 1858/59, Spargitzen 1860, Grain Tuig 1860, Galantryi-Waar'! 1867), fünf Lustspielen (De Koppelschmid 1861, Jaust un Durtel 1861, De Musterung 1862, Ümmer op de olle Hacke 1865, De Kumpelmentenmaker 1875) und zwei sich in Episoden entfaltenden Prosawerken (Lank un twiäß düär’t Land 1885, Schwanewippkens Reise düär Surland un Waldeck 1886). Mit einer einzigen Ausnahme, auf die ich noch zurückkommen werde, sind diese Titel seit einiger Zeit - vorzugsweise über frühe Sammeleditionen - im Netz frei zugänglich.

Uns Sauerländern wird auf diesem Schauplatz viel Arbeit abgenommen, denn eine echte Gesamtausgabe zum plattdeutschen Grimme ist nie veranstaltet worden. Bei den unendlich vielen Auflagen der einzelnen Grimme-Werke bleiben nur für den Spezialforscher noch Wünsche offen. Ob Grimme z.B. einen bestimmten judenfeindlichen Schwank erst nach seinem Treffen mit dem gegen "die Juden" hetzenden Paderborner Bischof Konrad Martin (1812-1879) in eine neue Buchauflage hereingenommen hat, das kann man nach wie vor nur durch konservative Quellensichtung beantworten. Wer wissenschaftlich arbeiten will (und sich mit den Betrüger-Standards der neuen Von-Guttenberg-Ära nicht anfreunden kann), kommt trotz Netz ja bei vielen Dingen um Fußwege und Handschriftliches nicht umhin.

Rückständigkeiten bei Google Books und anderen

Im geschilderten Fall - es geht durchweg um gemeinfreie Titel - hat die recht erfolgreiche Suche bei großen Internetanbietern noch einen besonderen Hintergrund. Im 19. Jahrhundert wanderten viele Sauerländer - darunter in zwei Schüben auch Vorfahren meiner Familie - nach Übersee aus, weil das karge Land sie nicht ernährte oder die Webstühle nichts mehr einbrachten. Für niederdeutschsprechende Auswandererszenen in den USA wurde Mundartliteratur ein wichtiges Bindeglied, und so kann man in berühmten US-Universitätsbibliotheken heute Spezialitäten auch aus dem Sauerland vorfinden.

Aber Google Books ist geizig. Wirklich abrufbar sind dort nur fünf von den oben genannten elf Mundarttitel Grimmes. Den Rest muss man sich anderswo zusammensuchen, denn Google Books informiert die Nutzer - zumindest in diesem Fall - nicht über alternative oder ergänzende Angebote. Einmal in der "Maske" dieses großen Kulturwohltäters eingeloggt, ist man in Wirklichkeit gefangen und wird leicht blind für alle hilfreichen Darbietungen, die das Netz sonst noch bereithält. Die Mehrzahl der restlichen plattdeutschen Grimme-Titel habe ich übrigens auf dieser Seite der Hewlett-Packard Development Company gefunden, die unter dem Gesichtspunkt meiner sehr speziellen Forschungsinteressen bei ganz exakten (!) Sucheingaben noch manch andere echte Rarität bereithält (und in ihren sorgsam gefertigten Digitalangeboten auch keine Hände mit Gummihandschuhen etc. zeigt). Allerdings kann man hier in keinem einzigen Fall etwas speichern oder ausdrucken, es sei denn man überlistet die Seitenumblätter-Funktion und kopiert sich jede einzelne Seite als Graphik. Ob diese für Textarbeiten völlig untaugliche Form der Präsentation wirklich im Interesse der angegebenen Kooperationspartnerin (University of California Libraries collection) ist?

Google Books ist nun nicht nur geizig, sondern auch angeberisch. Präsentiert werden nämlich unendlich viele Buchtitel, deren Aufruf dann zeitraubend ins Leere führt - und zwar auch dann, wenn der Konzern dank der ihm offenstehenden Bibliothekstüren über entsprechende Digitalisate verfügt (wir wollen Unlogik und Unglaubwürdigkeit der angegebenen Gründe für das Unterverschlusshalten von weltweit gemeinfreien Texte nicht weiter thematisieren, sie sind zu offenkundig). Der einzige Nutzen liegt bei diesem ganzen Windsortiment auf Seiten von Google, denn die Lesevorlieben eines eingeloggten Nutzers können wunderbar auch da erfasst werden, wo Google selbst nichts anderes anbieten kann oder will als eine Attrappe mit z.T. notdürftigen bibliographischen Angaben oder Kaufadressen.

Der einzige im Netz nicht abrufbare plattdeutsche Einzeltitel aus dem Gesamtwerk von F.W. Grimme heißt "Galantryi-Waar'!" (er ist in keinem der frühen Sammelbände des 19. Jhs. mit aufgenommen). Fahndet man über die Google-Suchmaschine nach ihm, verweisen je nachdem die allerersten fünf oder gar sechs Suchergebnisse und dann weitere auf den ersten Seiten auf - wer hätte es gedacht - Google Books. Das kann man ja alles mal mit viel Muße anklicken … und am Ende weiß man, dass Google Books die "Galantryi-Waar'!" in zwei verschiedenen Digitalisaten vorliegen hat, aber die Nutzer nicht reingucken lässt. Es handelt sich um abweichende Auflagenexemplare aus der University of California (digitalisiert: 21.4.2009) und der Pennsylvania State University (digitalisiert: 3.6.2009). - Was die angebotene schmale Suchfunktionsmaske bei einem Text mit sauerländischen Diphtongen und sonstigen Sprachspezialitäten eines kleinen Kirchspielgebietes erbringen soll, darüber kann man viel nachsinnen.

Editorische "Glanzleistungen" und Kommerz versus Kommunikation

Noch aufschlussreicher ist ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem Bereich der Mundartforschung. Der Markaner Johann Friedrich Leopold Woeste (1807-1878) hat u.a. auf Anregung von Jacob Grimm ein Westfälisches Wörterbuch erarbeitet, das nach seinem Tod fehlerhaft 1882 und dann in einem von E. Nörrenberg handschriftlich korrigierten und erweiterten Klischee-Nachdruck noch einmal 1930 erschienen ist. Zumindest in Südwestfalen kann man auf dieses Pionierwerk noch immer nicht verzichten.

Und nun fängt der Ärger an: die Google-Suchmaschine zeigt bei den ersten Ergebnissen wieder nur die eigene "Google-Book-Attrappe" oder eine Fundstelle auf der Digital Library of Free Books mit [PDF-]Verweis auf die "Google-Book-Attrappe" (und mit unbrauchbarer "Nur-Text"-Variante) an. Fast möchte man schon kapitulieren, aber auf der guten Digital Library of Free Books selbst wird man mit etwas Geduld sogar zweimal fündig: da ist die Ausgabe von 1882 im PDF-Format (abspeicherbar in zwei Qualitäten).

Warum strampelt man sich bei diesem auch überregional bedeutsamen Titel auf dem Feld von Google Books so ab? Hängt das etwa mit der dort in appetitanregender Vorschau präsentierten Ausgabe "BoD - Books on Demand, 1930" zusammen? Da gibt es was zu kaufen, und es handelt sich dabei wirklich um eine verlegerische Glanzleistung: Der "Europäische Hochschulverlag Bremen" fungiert als Verleger auf dem gezeigten Auszug. Das Titelblatt ist schön farbig und tauft den Autor (Johann Friedrich Leopold) kreativ in "Franz Woeste" um. Und wer meint, da Google Book bei der Präsentation ja die Jahreszahl "1930" angibt, er würde sich die bessere, überarbeitete Fassung anschaffen, sieht sich bald getäuscht (abkopiert ist die Auflage von 1882). Der Verlag entschuldigt sich noch im Impressum eigens, dass er auf eine alte Papiervorlage zurückgreifen musste, weil es keine elektronische gibt (wer hätte es gedacht). Nein, nein, man hat sich schon Mühe gemacht und nicht etwa vor dem Drucken aus dem Netz einfach eine Produktvorlage heruntergeladen.

Hier verführt Google Books mit einer fatalen bibliographischen Falschangabe "1930" und der Verlinkung von sechs (!) Händleradressen zum unsinnigen Kauf einer 49,90 Euro teuren Scharlatanerie. Der Menüpunkt "In einer Bibliothek suchen" führt zu Worldcat ins Leere ("Gängelung ins Nichts") - aber eben nicht zu den beiden kostenfrei abspeicherbaren PDF-Ausgaben der 1882er Auflage in der Digital Library of Free Books (darunter ein exzellenter Scan der University of Toronto). Die 1930er Auflage scannt vielleicht auch später niemand, weil sie wie ein handschriftlich bearbeitetes Einzelexemplar aussieht. Ich überlasse es jedem, sich selbst einen Reim auf das ganze Ärgernis zu machen. Um eine große Ausnahme handelt es sich wohl kaum.

Johann Friedrich Leopold Woeste (1807-1878) - Repro: Bürger- und Heimatverein Hemer

J.F.L. Woeste war ein evangelischer Theologe, der mindestens acht Sprachen beherrschte (hier ein kostenfreies "daunlot" zu ihm). Wegen seines Unabhängigkeitsstrebens und mangelnder "Rechtgläubigkeit" entschied er sich gegen eine Kirchenbeamtenlaufbahn und für ein "Privatgelehrtenleben" (so nannte man damals anspruchsvolles freies Forschen). Seine Liebe zur Philologie finanzierte er sich mit Unterrichtsstunden und Übersetzungsdienstleistungen.

Das erste Buch "Volksüberlieferungen aus der Grafschaft Mark" (1848) - bei Google frei abrufbar - ließ Woeste auf eigene Kosten drucken (die Ausgaben wurden nie gedeckt). Diesem Mann, so beweist seine Bibliographie, ging es um die Mitteilung von Entdeckungen. Die Erzeugnisse seiner geistigen Regsamkeit sind heute frei, keiner braucht damit auch nur einen einzigen Pfennig zu verdienen.

Das digitale Kulturgedächtnis ist fragil

Angemerkt sei noch, dass Google Books bei der Angabe von "ähnlichen Büchern" mitunter wirklich Humor unter Beweis stellt. Am 16.12.2011 habe ich als eingeloggter Nutzer die "Chronika van Iserliaun" (Chronik von Iserlohn) eingegeben und bekam unter der "Chronika"-Attrappe als Empfehlung noch die "verwandten" Titel "Thomas Urban: Polen" und "Craig Unger: Die Bushs und die Sauds" mitgeliefert. Dieses Ergebnis habe ich abgespeichert, sonst glaubt mir ja hinterher keiner.

Zeitgemäß wäre es, dass Raritäten nicht doppelt gemoppelt angeboten werden und andererseits wirklich schwer greifbare, aber längst gemeinfreie Druckerzeugnisse kostenfrei ins Netz kommen. Die ULB Münster etwa besitzt das mutmaßlich einzige Exemplar eines in der Fernleihe nicht beziehbaren sauerländischen Mundartbüchleins "Foilen un Reyme" von 1903 (wegen dieser exklusiven Verfügbarkeit konnte Google Books bislang auch keine "Attrappe" zum Titel anbieten). Nach unserem diesbezüglichen Hinweis hat die ULB Münster den überregional nur für wenige Mundartliteraturgeschichtler interessanten Titel digitalisiert - und nun können ihn sich die Eversberger, Bödefelder und andere im Handumdrehen auf die Festplatte holen.

Zu wünschen bleibt, dass auf uneigennützige und nicht kommerzielle Kommunikationsförderung zielende Angebote bald so zahlreich sind, dass Google Books entweder lernt oder unbedeutsam wird. Übrigens erzielt die "Nur Text"-Transformation von alten Drucktypen bei Google Books z.T. schon erstaunliche Ergebnisse und könnte - wenn sie nicht nur fragmentarisch ausgeführt würde - bereits jetzt sehr verlockend sein.

Es gehört nun freilich ein mutiger Glaube dazu, der digitalen Archivierung auf Zukunft hin zumindest eine ebenso zuverlässige Nachhaltigkeit zuzutrauen wie den alten Materialien Pergament, Papier etc. Das digitale Kulturgedächtnis ist fragil. Auf mich wirkt es jedenfalls ziemlich naiv, mit einer sicheren Verfügbarkeit elektronisch gespeicherter Kulturinformationen etwa auf drei Jahrhunderte hin zu rechnen - und das ist bezogen auf das herkömmliche Bibliothekswesen nur ein sehr kleiner Zeitraum. Man braucht für eine gesunde Skepsis an dieser Stelle nicht einmal Cyberwar-Szenarien zu bemühen.

Gesetzt den Fall, wir brächten es zuwege, rund 500 veröffentlichte und unveröffentlichte Tonträger zur sauerländischen Mundart ins Netz zu stellen oder zumindest auf CD zu bannen, sodass Interessierte aus fast jedem Dorf jeweils ihre "ausgestorbene" Lokalmundart zumindest noch hören könnten: trotzdem wäre vielleicht in wenigen Generationen eine alte Schallplatte das bedeutsamste erhaltene Tonzeugnis der Region. Daten können verfliegen. Überzeugende technologische Lösungen gibt es nicht. Vorerst bleibt da alles eine Glaubenssache …

Umso bedeutsamer ist die Notwendigkeit, Nutzungen nicht vom Server großer Anbieter abhängig zu machen, sodass man eben jeweils nur beim Besuch eines digitalen Konzernleseraums klüger werden kann. Wer im Sinne der Logik moderner Kommunikationstechnologie an das gemeinschaftliche Kulturgedächtnis denkt, gewährleistet breite Möglichkeiten zum Abspeichern oder auch Ausdrucken. Konzerne allerdings wollen Profit machen, das ist doch klar. In ihrem Interesse liegt es, Menschen unmündig und abhängig zu halten. Wo unverbesserlich das alte Denken von Vorvorgestern waltet, könnte u.a. auch Regionalität subversiv sein.

Alle Angaben zu Abrufergebnissen im Internet beziehen sich auf den 15. und 16. Dezember 2011.