Grob, dumm, gewalttätig, absurd

Vier Jahre nach David Bowie startet der Regisseur David Lynch ein kostenpflichtiges Internet-Angebot: Exklusive Inhalte und das Spiel mit Nähe und Distanz

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David Lynchs Nachbarn haben es nicht leicht. In den vergangenen Wochen gab es Beschwerden über nächtliche Dreharbeiten in den Hügeln Hollywoods, nahe von Lynchs Haus. Der Regisseur drehte dort mit Naomi Waits und Laura Harring eine Folge seiner neuen Serie "Rabbits". Das wird er wohl auch weiterhin tun: "Rabbits" ist einer der exklusiven Inhalte für die Seite davidlynch.com. Und für die begeistert sich der Regisseur.

Screenshot "www.davidlynch.com"

Wer heute das Internet "eine offene Tür in den Äther" nennt, hängt entweder der Euphorie vergangener Dotcom-Tage nach, oder er heißt eben David Lynch und meint es wirklich so. Der amerikanische Regisseur hat eine Million Dollar seines eigenen Vermögens und zwei Jahre Entwicklungszeit in die Seite davidlynch.com investiert. Währenddessen wurde die New Economy beerdigt. Den Wert von Netzangeboten bemisst man heute gemeinhin mit wirtschaftlichen Kennzahlen statt visionären Versprechen. Jetzt ist Lynchs Angebot gestartet und der Schöpfer redet von allem anderen als finanziellen Plänen. Dass seine Kosten durch die monatlichen Abonnementgebühren von 9,97 Dollar zumindest gedeckt werden, hofft Lynch, voraussagen will er es aber nicht. Stattdessen spricht er von der eigentümlichen Qualität der Bilder im Netz und davon, wie Ideen sich mit ihnen verbinden.

Die Vision Lynchs ist nichts geringeres als eine neue, dem Medium Internet eigene Form des Erzählens. Die hat er zwar nie proklamiert, doch wer sich lange genug in seinem zunächst wenig zusammenhängend scheinenden Gewirr aus Tönen, Kurzfilmen, Bildern, Texten und Cartoons verloren hat, spürt Lynchs Konzept. Es ist sowohl Revolution als auch eine sehr gradlinige Fortführung seines bisherigen Werks.

Die Kontinuität hat Lynch einmal selbst beschrieben. Über die Entstehung seines Films "Mullholland Drive" sagte er einen Satz, der zugleich auch seine Art des Erzählens beschreibt:

"Es macht wirklich nicht viel aus, welchen seltsamen Weg wir gehen. Wir kommen irgendwo an, wir blicken zurück und wir sehen, dass es irgendwie so kommen musste."

Lynchs erzählt nicht in Linien, sondern in Schleifen, die sich immer wieder winden, ineinander verknoten und verbinden. Mit einigen der Fragmente auf Lynchs Netzseite assoziiert man bereits Bekanntes aus seinem Werk: die Schatten, die nicht mehr als Abwesenheit von Licht erscheinen, sondern von selbst zu kriechen beginnen, oder jene Räume, in denen die Stille beängstigend laut wird - und natürlich Ameisen.

Dieses assoziative, mäandrierende Erzählen hat Lynch bisher besonders exzessiv im Fernsehen ausgelebt. Der Plot seiner Serie "Twin Peaks" strebte auf kein Ziel hin, "Mullholland Drive" war zunächst ähnlich angelegt. Vielleicht ist Lynchs Internetprojekt zu einem kleinen Teil Fernsehen mit anderen Mitteln - und ohne Ende. Die Ähnlichkeit dieses Erzählens zu den Verschwörungstheorien, die das Netz als ihr ureigenes Medium entdeckt haben, ist verblüffend: Auch sie arbeiten mit Assoziationen, die aus unterschiedlichsten, zunächst, scheinbar nicht zusammenhängenden Quellen gespeist werden.

Bisher ist auf Lynchs Seite eine einzige Serie zu sehen: Der von Lynch gezeichnete und gesprochene Cartoon "Dumbland". Der Regisseur nennt ihn selbst "grob, dumm, gewalttätig, absurd", was er tatsächlich ist. Bei aller Bewegung und Hektik erinnert der Minimalismus der Handlungen an den über neun Jahre in US-Zeitungen erschienenen Comic-Strip "The angriest dog of the world" Lynchs. In Kürze soll die eigens von Lynch für die Seite gedrehte Serie "Rabbits" starten. In dieser "Sitcom ohne Komik" treten Naomi Waits und Laura Harring, die Hauptdarstellerinnen aus "Mullholland Drive", auf - in Hasenkostümen. Außerdem ist für dieses Jahr noch die Serie "Axxon N" angekündigt, deren Konzept "Twin Peaks" ähneln soll.

Doch neben dieser erstaunlich netzaffinen Kontinuität zu seinem bisherigen Schaffen hat Lynch auch neue Elemente in sein Konzept aufgenommen. Er experimentiert mit den neuen Formen von Identität und der besonderen Aufmerksamkeitsökonomie im Netz. Fast täglich besucht Lynch den Chatraum auf seinen Seiten und erzählt dort bisweilen auch, dass er Nahrung vorm Schlucken dreimal kaut. Hier sind die Rollen der Parteien beim Handel mit Aufmerksamkeit vertauscht: Lynch gibt sie den Abonnenten seiner Seite, die durch ihre Aufmerksamkeit außerhalb doch erst den Reiz der Figur Lynch geschaffen haben.

Screenshot "www.davidbowie.com"

Ein anderer Künstler experimentiert bereits seit 1998 mit diesen neuen Tauschverhältnissen: David Bowie nannte kurz nach dem Start seines kostenpflichtigen Angebotes davidbowie.com 1998 als roten Faden in seiner Musik, Malerei und Internet-Präsenz: "Distanz. Aber verstärkt durch das Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit." Bowie, bei dem die Inszenierung der eigenen Rolle ja immer schon ebenso wichtig war wie die der Musik, hat als erster sein Werk und damit auch seine Figur ins Netz erweitert. Es ist bezeichnend, dass die Person David Bowie auf seiner Internetpräsenz manchmal in den Plural übergeht. Die Frage, ob Bowie selbst sein eigenes Tagebuch schreibt, wird dort so beantwortet: "Fast immer. Manchmal werden sie neue Einträge schreiben, oder ältere Texte in Erinnerung an bestimmte Gefühle oder Erfahrungen nutzen."

Die Figur Lynch mit den bis oben hin zugeknöpften Hemden, dem unendlichen Kaffeekonsum und dem Faible für Donuts hat gute Voraussetzungen für eine ähnliche Erweiterung ins Netz, wie sie David Bowie seit 1998 auf davidbowie.com leistet. Manchmal erlebt man mit Lynchs Figur schon jetzt interessante Momente: Am 1. April fragte David Lynch morgens im Chat, ob wegen der globalen Erwärmung tatsächlich in diesem Jahr die Zeitumstellung aufgegeben werde. Vier Minuten später war klar, dass Lynch auf den Aprilscherz eines Freundes hereingefallen war. Keine große Geschichte, sondern eine absurde und verunsichernde Banalität, ähnlich wie Dale Coopers Diktiergerät in "Twin Peaks". Lynch ist dabei, im Netz seine Figur zum Gegenstand seiner Arbeit zu machen. Ein schönes Versprechen.