Große Erwartungen, überschaubare Ergebnisse

Das Netz und die politische Partizipation der Massen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seitdem das Internet als politisches Medium entdeckt wurde, gilt es vielfach als eine Büchse der Pandora - sobald der Geist der digitalen Freiheit in die Welt entwichen ist, lässt er sich demnach nicht mehr einsperren und führt somit automatisch zu einer liberaleren Gesellschaft, die autoritäre Strukturen aufsprengt. Doch diese These hat den entscheidenden Nachteil, dass sie sich empirisch nicht belegen lässt. Während das Internet zweifelsohne die politische Kommunikation revolutioniert hat, blieben die großen Umwälzungen in der Realpolitik aus. Weder in demokratischen noch in autoritären Ländern konnte das Netz die übergroßen Erwartungen erfüllen, die man zu Beginn der digitalen Ära hatte.

Die Google-Doktrin - der naive Glaube an die emanzipatorische Natur des Netzes

Wenn erst einmal jeder Mensch Zugang zum Netz hat, wird dies das Ende politischer Propaganda und Unterdrückung und der Anfang einer transparenten Gesellschaft sein, in der jeder Mensch Zugang zu freien Informationen hat. So lässt sich die "Google-Doktrin" zusammenfassen, die inhaltlich auf den Utopien der ersten Cyberaktivisten fußt. Wer sich kritisch mit dieser Utopie auseinandersetzen will, muss jedoch Medium und Botschaft trennen. Wie uns die Geschichte der letzten 15 Jahre zeigt, ist das bloße Vorhandensein eines nahezu omnipräsenten Mediums wie des Internets noch kein Garant dafür, dass es auch in einem emanzipatorischen, aufklärerischen Sinn genutzt wird.

Information fließt nicht in ein Vakuum, sondern in einen politischen Raum, der bereits gefüllt ist.

Joseph Nye und Robert Keohane - Power and Interdependence in the Information Age, 1996

Der naive Glaube an die emanzipatorische Natur von Online-Communities ist jedoch erstaunlich weit verbreitet. Dabei liegen Licht und Schatten nirgends so nahe beieinander wie im Internet. Durch das Internet können Aktivisten auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung im hintersten Winkel des brasilianischen Regenwaldes aufmerksam machen. Durch das Internet können jedoch auch Leugner des Klimawandels ihre Thesen streuen und zahlreiche Anhänger finden. Durch das Internet kommen sich Menschen verschiedener Kulturkreise näher.

Durch das Internet können jedoch auch fremdenfeindliche Hetzer ihre Parolen verbreiten. Durch das Internet können Bürgerrechtler in autoritären Staaten miteinander kommunizieren und gemeinsame Aktionen gegen ihre Unterdrücker planen. Durch das Internet können jedoch auch autoritäre Staaten ihre Propaganda verbreiten und Regimegegner ausfindig machen. Wer nur die positiven Effekte der weltweiten Vernetzung betrachtet, beleidigt die Geschichte durch ein hohes Maß an Phantasielosigkeit.

Heute könnte es kein Ruanda mehr geben, da man viel schneller mitbekommen würde, was dort vor sich geht und die öffentliche Meinung schnell zu einem Punkt kommen würde, an dem man handeln müsste.

Gordon Brown

Obgleich das Medium Internet ideologiefrei ist, wird ihm vor allem von den liberalen Kräften im Westen eine signifikante Rolle in der Verbreitung demokratischer Gedanken zugeschrieben. Während der Präsidentschaft Bill Clintons investierten das Weiße Haus und verschiedene NGOs sehr viel Geld in die globale Verbreitung der Techniken, die das Internet ausmachen. Diese Investitionen waren natürlich alles andere als selbstlos. In den 90ern war das Netz im ökonomischen Sinne amerikanisch - sowohl die Hardware als auch die Software, die zusammen "das Netz" bilden, stammten damals nahezu ausschließlich aus den USA. Inzwischen surfen fast so viele Chinesen im Netz wie die USA Einwohner haben und bis auf Nordkorea verfügt jedes Land der Welt über einen freien Zugang zum Internet.

Birmanische Mönche mit Digitalkamera, chinesische Dissidenten mit Facebook-Account, twitternde iranische Studenten - all dies sind vielzitierte Beispiele, die belegen sollen, welch revolutionäres Potential die digitale Revolution auch im analogen Leben entfalten kann. "Zum Guten" haben diese onlinegestützten Proteste jedoch nichts verändert - Birma ist immer noch ein repressiver, autoritärer Staat, in China laufen die demokratischen Reformen in Zeitlupe ab und das iranische Regime ist seit den Protesten der Opposition sogar noch repressiver geworden. Auch die Regierungen haben dazugelernt und bedienen sich derselben Instrumente, um Gegenpropaganda zu streuen und Regimegegner zu identifizieren. Die Vorstellung, das Netz könnte weltweit zur Demokratisierung und zur Partizipation der Massen führen, sollte endlich auf dem Friedhof idealistischer Träumereien begraben werden.

Dabei ist der Grundgedanke hinter diesem "Cyber-Utopismus" durchaus verständlich. Jede Revolution hat ihr eigenes Medium. Lenin und Trotzki schwärmten noch von der Macht der Telegraphen, als die Iraner 1979 den Schah stürzten, nutzten sie Tonbandkassetten für ihre Zwecke. Die Bänder, auf denen die Revolutionsführer aus dem Exil ihre Mitteilungen an das iranische Volk aufzeichneten, wurden von Sympathisanten ins Land geschmuggelt und unter das Volk gebracht. Die Tonbandkassetten von heute heißen Twitter und Facebook. Weder die Russen noch die Iraner haben jedoch deshalb revoltiert, weil es Telegraphen oder Tonbandkassetten gab - die technischen Hilfsmittel waren in beiden Fällen nur ein Mittel zum Zweck.

Die eigentlichen Gründe für die Revolution waren in beiden Fällen eher sozio-ökonomischer und politisch-partizipatorischer Natur und hatten nur sehr wenig mit der gleichzeitig vorhandenen massiven Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit zu tun. Wie Lenin und Khomeini bewiesen, muss man auch nicht unbedingt ein Anhänger liberaler, demokratischer Ideologien sein, um neue Kommunikationsmittel effektiv zu nutzen. Sollte beispielsweise im modernen Russland eine Revolution ausbrechen, bei der moderne Kommunikationsmittel genutzt würden, so dürfte es sich dabei keinesfalls um eine pro-demokratische, sondern vielmehr um eine anti-demokratische, ultranationalistische Revolution handeln.

Am Anfang war der Funke

Regierungen der industrialisierten Welt - Ihr abgehalfterten Giganten aus Fleisch und Stahl. Ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft fordere ich Euch, die Ihr für die Vergangenheit steht, auf, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid hier bei uns nicht willkommen. Wo wir uns treffen, gilt Eure Hoheitsgewalt nicht. [...] Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes schaffen. Möge sie menschlicher und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen zuvor geschaffen haben.

John Perry Barlow: A Declaration of the Independence of Cyberspace, 1996

Als das Internet laufen lernte, waren seine Pioniere voll des Optimismus. Das Netz galt in jenen Jahren nicht als Werkzeug zur Veränderung der "Offline-Welt", sondern als ein autarkes Netzwerk, in dem die Regeln und Gesetze der "Offline-Welt" nicht gelten. Es sollte ein Ort sein, der sich selbst verwaltet und in dem der freie Geist das Maß aller Dinge ist. 1990 gründeten die Internetpioniere John Barlow und Mitchell Kapor die "Electronic Frontier Foundation", mit der sie die mediale Selbstbestimmung der Bürger gegen staatliche Reglementierung und die Interessen der Wirtschaft verteidigen wollten. In den USA und Westeuropa war das Medium bereits in diesen Tagen vielfach auch die Botschaft. Im Netz wurde vor allem über das Netz gesprochen, netzpolitische Themen waren auch damals bereits der kleinste gemeinsame Nenner unter den Aktivisten.

Heute ist der vielzitierte Satz, das Internet sei ein rechtsfreier Raum, freilich absurd - vor 15 Jahren verteidigten die Netzaktivisten eben jene Rechtsfreiheit; sie waren Anarchisten im besten Sinne des Wortes. Ihren Kampf haben sie bekanntlich verloren, dennoch spuken die ersten Cyberanarchisten noch heute in den Köpfen derer, die das Internet als Werkzeug zur Demokratisierung ansehen. Das ist vielleicht zu kurz gedacht. Entscheidend für die Frage, was man mit dem Internet anstellt, hängt davon ab, wer das Netz nutzt. Wenn man liberalen Bürgerrechtlern die Chance der Vernetzung bietet, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach das Netz in einem aufklärerischen Sinne zum freien Gedankenaustausch nutzen. Die Welt besteht allerdings nicht nur aus liberalen Bürgerrechtlern.

Heute ist das Netz Volkskultur und ein Spiegel der Befindlichkeiten der Massen. In Deutschland ist nicht Telepolis, sondern Bild.de die meistgelesene Internetseite, Russen suchen bei Google nicht etwa nach den Begriffen "Demokratie" und "Meinungsfreiheit", sondern nach den neuesten Hits von Lady Gaga oder lustigen Videos und weltweit nutzen Milliarden Teenager das Netz nicht zur Information über fremde Kulturen, sondern als Kontaktbörse und Ventil ihres pubertären Dampfkessels. Die hohen Ideale der Pioniere sind nicht am Netz, sondern an dessen Nutzern gescheitert.

Die Geschichte des Netzes ist auch eine Geschichte der fortwährenden Rückzugsgefechte seiner Pioniere. Das freie Netz ist an seinem eigenen Erfolg zu Grunde gegangen. Heute verteidigen die "Digital Natives" bestenfalls noch ihre letzten Reservate gegen staatliche Reglementierungswut und die überbordenden Interessen der Wirtschaft.

Digitaler Widerstand

Wenn man bedenkt, dass die Pioniere des politischen Netzes am ehesten als Anarchisten beschrieben werden können, ist es auch kaum verwunderlich, dass die ersten politischen Aktionen, die im Internet stattfanden und nicht ausschließlich um das Thema Netzpolitik kreisten, ebenfalls anarchistisch waren.

Als erstes nutzten die Globalisierungsgegner und anarchistische Gruppen die neue Technologie auch politisch. In Mittel- und Südamerika hat diese Technikbegeisterung des linken Widerstands eine lange Tradition. Schon bei der kubanischen Revolution betrieben die Widerstandskämpfer ihre versteckten Radiostationen, mit denen sie die Stimmen und Botschaften Castros und Che Guevaras landesweit verbreiteten. In den 80ern kämpfte die Befreiungsbewegung El Salvadors mit den gleichen Mitteln gegen die rechte Junta, die ihr Land tyrannisierte. Mitte der 90er waren es die Zapatisten im Süden Mexikos, die - wiederum technologische Avantgarde - als erste Widerstandsbewegung das Internet für ihre Zwecke einsetzten.

Doch bereits damals wurde das Netz weniger zu Koordination und Information in der Konfliktregion selbst, sondern vielmehr zur Kommunikation mit Sympathisanten in den Industrienationen eingesetzt. Dank des Internets konnten sich weltweit linke und anarchistische Gruppen - meist aus dem universitären Umfeld - über den Widerstandskampf der Zapatisten in Chiapas informieren. Die Solidarisierung westlicher Sympathisanten kam den Zapatisten gleich mehrfach gelegen - ihr Kampf wurde einerseits weltweit wahrgenommen, obgleich die klassischen Medien ihnen keine Zeile widmeten und andererseits konnten auf diese Art und Weise auch signifikante Spendengelder eingetrieben werden.

Der Freiheitskampf der Zapatisten führte sogar indirekt zum ersten politischen "Cyberkrieg". Ende der 90er entwickelten die amerikanischen Sympathisanten des "Electronic Disturbance Theaters" eine Software namens FloodNet, mit der Internetnutzer ein virtuelles "Sit-in" veranstalten konnten. Auf seine Art und Weise war FloodNet ein technischer Vorläufer der heute so verbreiteten DoS-Attacken - FloodNet-Nutzer riefen kontinuierlich eine bestimmte Internetadresse auf (Die Zukunft des zivilen elektronischen Widerstands) - in den Jahren 1998 und 1999 wurden auf diese Art und Weise mit bis zu 100.000 Teilnehmern mehrfach die Regierungsseiten Mexikos und der USA aus dem Verkehr gezogen.

Im Jahre 1999 waren es die Globalisierungsgegner, die das Internet während der Proteste bei den WTO-Verhandlungen in Seattle zum ersten Mal im großen Umfang für ihre Zwecke nutzten. Bereits im Vorfeld hatten sich die unterschiedlichen Gruppen virtuell vernetzt, um in Seattle koordiniert auftreten zu können. Im Umfeld der Demonstrationen gegen die WTO-Verhandlungen entstand damals das "Independent Media Center" (Indymedia), das auch heute noch eine große Rolle beim Kampf der Globalisierungsgegner spielt.

1999 erlangte Indymedia eine Art Kultstatus, indem es als zentraler Nachrichtenknoten für die Globalisierungsgegner fungierte. Über Nacht wurde Indymedia zum Anlaufpunkt für Aktivisten und Interessierte, die Meldungen und Kommentare abseits der klassischen Medien suchten. In den Folgejahren wurde Indymedia im Umfeld zahlreicher G7- und IWF-Gipfeltreffen zur zentralen Anlaufstation für Bürgerjournalisten und Aktivisten. Indymedia publizierte nicht nur, sondern schulte die Aktivisten auch in technischen Fragen. Seitdem ist das Netz ein zentraler nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Globalisierungskritik. Doch diese erfolgreiche Partizipation ist weitestgehend auf die Kritik von Nutzern aus den demokratischen Industriestaaten beschränkt. Für den Widerstand in autoritären Staaten eignet sich ein zentraler Knotenpunkt ohnehin nicht, ist es doch relativ einfach, den Zugang zu unterbinden.

Demokratie, Freiheitskampf und die Kehrseite der Medaille

In demokratischen Industriestaaten wird das Netz sowohl zur Koordination des (meist zivilen) Widerstands als auch zur alternativen Berichterstattung genutzt. Dies wird von den Regierungen innerhalb gewisser Leitplanken auch meist geduldet. Wer außerhalb der Leitplanken agiert, muss jedoch nicht nur mit der Gegenwehr des Staates, sondern meist auch mit der Gegenwehr des Netzes selbst rechnen. So gilt es hierzulande beispielsweise als selbstverständlich, dass Fremdenfeindlichkeit im Netz nichts zu suchen hat. Angebote der NPD in sozialen Netzwerken werden von der Mehrheit der Internet-Community wie selbstverständlich abgelehnt - und die Anbieter sozialer Netzwerke folgen diesem Wunsch auch regelmäßig, da sie um ihr gutes Image fürchten. Mit den hehren Idealen der Internetpioniere hat das freilich nicht mehr viel zu tun. Die Selbstkontrolle des Netzes wurde über die Jahre durch die Gesetze der jeweiligen Nationalstaaten und durch den ökonomischen Druck der Nutzer ersetzt.

In autoritären Staaten wurden diese beiden Faktoren durch die faktisch vorhandene Option des Staates ergänzt, das Internet - oder zumindest bestimmte Teile davon - im Regel- oder Notfall zu sperren. Während der "Safran-Revolution" in Birma wurden 2007 beispielsweise das Handynetz kurzerhand abgeschaltet und der Internetzugang drastisch eingeschränkt. Die Bilder von der Niederschlagung der Proteste fanden dennoch ihren Weg ins Netz - oft wurden die digitalen Informationen zunächst physisch außer Landes geschafft, um dann von Thailand aus veröffentlicht zu werden.

Wenn ein Staat den direkten Zugang zum Netz sperrt, kann er nicht komplett verhindern, dass digitale Informationen ins Netz gelangen - der Rückkanal bleibt in einem solchen Fall aber versperrt. Im Konfliktfall kann das Netz daher auch nicht zur Koordination der Protestbewegungen beitragen, dafür aber die Weltöffentlichkeit über die Proteste informieren. Dies mag in autoritären Ländern, die um ihren internationalen Ruf besorgt sind, eine abschreckende Wirkung haben. Sowohl das Beispiel Birma, als auch das Beispiel Iran zeigen jedoch, dass diese Abschreckung nur marginal ist, wenn die betreffenden Staaten kein gesteigertes Interesse daran haben, vom Westen als Musterdemokratien angesehen zu werden.

Das Netz übt seit Jahren eine nahezu magische Anziehungskraft auf oppositionelle und revolutionäre Kräfte aus. Dabei zieht sich das Band von den serbischen Anti-Milosevic-Gruppen der 90er über die simbabwischen Mugabe-Gegner der 2000er bis hin zu den aktuellen Revolutionen in der arabischen Welt. Ob das Netz autoritäre Regierungen gefährdet oder sogar stützt, ist dabei meist eine Frage, wie viel diese Regierungen vom Netz verstehen. Die Kehrseite des digitalen Widerstands lässt sich anhand der Demonstrationen im Umfeld der Präsidentschaftswahlen 2006 in Weißrussland zeigen. Auch die Gegner von "Europas letztem Diktator" Alexander Lukaschenko nutzten soziale Netzwerke, um ihre Aktionen zu koordinieren und der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Den in Russland und Weißrussland sehr populären Bloggingdienst "LiveJournal" lesen jedoch nicht nur Regimegegner, sondern auch die Sicherheitskräfte, die dank der öffentlichen Planung bereits vor Ort waren, um die Demonstranten in Gewahrsam zu nehmen.

Je öffentlichkeitsorientierter der digitale Widerstand ist, desto größer ist die Gefahr, dass er von der Gegenseite unterlaufen wird. Geschützt durch die vermeintliche Anonymität des Netzes ist es für Sicherheitsdienste oder regimetreue Freiwillige nicht sonderlich schwer, Zugang zu virtuellen Widerstandsgruppen zu erhalten. Digitale Dissidenten können sich sicher sein, dass ihre Aktivitäten nicht nur von Freunden verfolgt werden.

Sicherheitslecks bei Dienstanbietern stellen eine weitere Gefahr für Webaktivisten dar. Wer Plattformen wie Facebook für seine Aktionen nutzt, sollte sich auch darüber im Klaren sein, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Kampfgefährten in Gefahr bringt. Waren Widerstandsgruppen früher derart informell organisiert, dass es für den Gegner sehr schwer war, sie zu unterlaufen, bieten vor allem die auf Öffentlichkeitswirksamkeit ausgerichteten Cyberaktivisten eine derart offene Flanke für staatliche Infiltrationsversuche, dass es naiv wäre zu glauben, diese Gruppen seien nicht schon längst massiv unterlaufen. David Bandurski, China-Analyst an der Hong-Kong-University, schätzte im Jahre 2008 die Zahl der "50-Cent-Army" auf 280.000 Mitglieder - jeder Aktivist erhält pro regierungsfreundlichen Beitrag in einem Blog oder sozialem Netzwerk 50 Cent.

Von China lernen heißt siegen lernen - die iranischen Basij, eine paramilitärische Freiwilligenorganisation der Revolutionären Garden, kündigte ebenfalls im Jahre 2008 an, dass sie 10.000 Freiwillige für den digitalen Guerilla-Kampf rekrutieren wollten. Ähnliche Bewegungen sind weltweit zu beobachten - angefangen bei Nigeria, über den Sudan bis in jede zentralasiatische Republik haben die Regierungen Helfer rekrutiert, die im Netz Regierungspropaganda betreiben und Regimegegner digital herausfordern. Technisch ausgereifter ist da schon das "Megaphone-Desktop-Tool" der Gruppe "GIYUS" (Give Israel Your United Support), mit dem Sympathisanten des Staates Israel weltweit zu Online-Abstimmungen und -Diskussionen geleitetet werden, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.

Dabei ist jedoch festzuhalten, dass sich Cyberaktivismus und Widerstand in autoritär regierten Ländern keinesfalls immer im Einklang mit den liberalen oder gar demokratischen Idealen der Internetpioniere befinden. Im Libanon sind die meisten Cyberaktivisten keineswegs Anhänger des prowestlichen Saad Hariri, sondern Sympathisanten der Hisbollah. In Russland benutzt die ultranationalistische DPNI GoogleMaps, um die Wohngegenden von Minoritäten in russischen Städten zu visualisieren und den eigenen Anhängern so zu zeigen, wo "Handlungsbedarf" besteht.

Während der Unruhen in Thailand nutzten im Jahre 2008 königstreue Ultras eine Denunziationsseite der Behörden, um regierungskritische Seiten zu sammeln, die sich dann in einem Filter wiederfanden. Dabei gingen die Sympathisanten des Königs mit großem Elan an ihre Aufgabe - binnen 24 Stunden wuchs der Filter auf 5.000 Internetseiten an. Diese Form des "Crowd-Censoring" zeigt, dass soziale Netzwerke auch sehr effektiv im Sinne einer Zensur eingesetzt werden können. Dummerweise vergaß die Regierung offensichtlich, den Vertrag für die Domain protecttheking.net zu verlängern, so dass nun ein Liverpooler Geschäftsmann unter der königstreuen Adresse Finanzprodukte verkaufen kann.

Technisch versierte Internetaktivisten greifen auch gerne zu gezielten Angriffen auf die Internetseiten des politischen Gegners. So wurden beispielsweise bereits mehrfach die Seiten der birmanischen Oppositionsbewegung im Exil und die Seiten weißrussischer, russischer und kasachischer Oppositioneller durch DoS-Attacken aus dem Netz geworfen. In keinem dieser Fälle stand die jeweilige Regierung unter konkretem Tatverdacht - in allen dieser Fälle tat die Regierung jedoch nichts, um die Cyberattacken auf die Opposition zu unterbinden.

Iran - The Revolution will not be twittered

"The Revolution will be twittered" - unter dieser Überschrift eröffnete der amerikanische Blogger Andrew Sullivan am 19. Juni 2009 eine ganze Reihe von Blogbeiträgen, in denen er seinen Landsleuten über die aktuellen Entwicklungen der "Grünen Revolution" - also den Ausschreitungen nach den vermeintlich gefälschten iranischen Präsidentschaftswahlen - berichtete.

Sullivan ist jedoch kein Nahost-Experte, sondern ein libertärer Journalist, der auf seinem Blog lediglich wiedergab, was er in verschiedenen sozialen Netzwerken aufschnappte. Damit war die "Twitter-Revolution" geboren. Nahezu alle klassischen Medien - und selbstverständlich auch fast alle Blogs - griffen Sullivans These auf, so dass sich weltweit der Eindruck einstellte, die Aufstände in Iran seien tatsächlich die erste Revolution, bei der das Internet eine zentrale Rolle spielt. Mark Pfeifle, ein ehemaliger Sicherheitsberater von George W. Bush, schlug Twitter wegen dessen Rolle bei der "Grünen Revolution" sogar für den Friedensnobelpreis vor. Bei näherer Betrachtung sind diese Thesen jedoch nicht haltbar.

Schauen Sie Sich beispielsweise die durch Twitter angetriebene "Grüne Revolution" in Iran an, bei der soziale Netzwerk-Technologien mehr zu einem Regimewechsel beitrugen als die jahrelangen Sanktionen, Bedrohungen und das Geschachere in Genf zusammen.

Aus dem Leitartikel The Clinton Internet-Doctrin im Wall-Street-Journal

Die Stimmen aus Iran, die im Jahre 2009 über Twitter und soziale Netzwerke auf die Welt einprasselten, stammten nicht von Bauern auf dem Lande oder Hilfsarbeitern aus den Hafenanlagen von Bandar Abbas. Verfasser der fast ausschließlich englischsprachigen Textnachrichten waren meist gebildete, technikaffine Studenten, die eher der gehobenen Mittelschicht angehören. Eine Studie des Web-Analyse-Dienstes Sysomos fand sogar heraus, dass die wenigstens Tweets zur "Grünen Revolution" überhaupt aus Iran kamen. Vor den Wahlen 2009 nutzten lediglich 8.654 Iraner Twitter - während der Unruhen stieg diese Zahl auf 19.235 an, wobei noch nicht einmal das verifizierbar ist, da viele Sympathisanten in Europa und den USA ihre virtuelle Herkunft im Twitter-Netzwerk nach Teheran verlegten, um die iranischen Behörden zu verwirren.

Überprüfungen des TV-Senders Al Jazeera, der die sozialen Netzwerke bei seiner Berichterstattung sehr umfangreich einbindet, ergaben, dass während der Proteste lediglich 60 aktive Twitter-Accounts auch nachweislich aus Iran berichteten - nachdem die iranischen Behörden gegen das Netzwerk vorgingen, sank diese Zahl auf sechs. In einem Land mit rund 23 Millionen Internetnutzern ist dies eine verschwindend geringe Minderheit, die indes in den westlichen Medien als Stimme des Volkes dargestellt wurde.

Dabei ist es verständlich, dass westliche Nachrichten- und Internetkonsumenten sich eher auf die Seite der reformhungrigen Generation stellen. Bilder von attraktiven, modisch gestylten jungen Männern und Frauen, die auch in der eigenen Nachbarschaft leben könnten, wirken nun einmal sympathischer, als Bilder von bärtigen Männern mit abgetragenen Anzügen, die Ahmadinedschad unterstützten. Die Werte, für die in Iran die Jugend aus besserem Hause auf die Straße ging, sind - oberflächlich betrachtet - westliche Werte. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung - dafür gingen auch schon unsere Vorfahren auf die Straße.

Die populären Twitter-Kanäle, auf denen während der "Grünen Revolution" Informationen verteilt wurden, waren jedoch keine Kommunikationskanäle, in denen sich die Oppositionellen koordinierten. Wäre dies ihr Zweck gewesen, hätte man sie in Farsi gehalten, um so möglichst viele Iraner zu erreichen. Man twitterte aber auf Englisch - es ging also weniger um die interne Kommunikation, sondern mehr um die Medienwirklichkeit der Auslandspresse. Und in diesem Punkt war die "Twitter-Revolution" ein durchschlagender Erfolg.

Der Westen hat sich bei seiner Betrachtung nicht auf das iranische Volk, sondern auf die westlichen Technologien konzentriert. Twitter war zwar wichtig, um der Welt mitzuteilen, was passierte - aber die Rolle von Twitter wurde auch maßlos überbewertet.

Hamid Therani, der iranische Koordinator des Netzwerks Global Voices, 2010

Zeitungen wollen gefüllt, Nachrichten gesendet und Onlinemedien mit Content versehen werden - wenn nur eine Konfliktpartei Bilder und Nachrichten anbietet, so hat sie die besten Chancen, dass ihre Ziele medial besser wahrgenommen werden. China sperrte während der Aufstände in Tibet Journalisten aus, während die (Exil-)Tibeter twitterten, was das Zeug hielt. In den Medien setzte sich die tibetische Sicht der Dinge durch - Falschmeldungen, Manipulationen und Enten inklusive. Als Russland im Georgienkrieg ausländischen Journalisten den Zutritt zu den Konfliktgebieten verbot und Georgien professionelle PR-Agenturen für sich arbeiten ließ, nahm die Welt vor allem die georgische Perspektive wahr - Falschmeldungen, Manipulationen und Enten inklusive.

Ein Nachrichtenmedium, mit dem man die öffentliche Meinung beeinflussen kann, ist für diverse Akteure von Interesse - nicht nur im Falle Iran. Sowohl Exilanten als auch Geheimdienste, PR-Agenturen oder Trittbrettfahrer jeglicher Art können über Twitter die öffentliche Wahrnehmung eines Konfliktes beeinflussen. Anonymität ist Grundlage des Konzepts, als politische Waffe wird Twitter daher eher noch an Bedeutung gewinnen. Die chinesische Regierung lernte schnell aus den Ereignissen in Iran und sperrte 2009 Twitter vorsorglich zum 20. Jahrestag des Aufstands am Tiananmen-Platz.

Auch die iranischen Machthaber haben aus ihren Fehlern gelernt. Wenige Wochen nach den Ausschreitungen übernahmen die Revolutionsgarden für stolze acht Milliarden Dollar die Mehrheit am größten nationalen Mobilfunkunternehmen - private Mitbieter wurden aufgrund der sicherheitsrelevanten Bedeutung des Unternehmens ausgeschlossen. Im Umfeld der "Grünen Revolution" wurden zahlreiche Internetaktivisten festgenommen, viele von ihnen sitzen noch heute in Haft. Am 24. Januar 2011 wurden zwei Aktivisten gehängt, weil sie Videos von der "Twitter-Revolution" im Internet verbreitet hatten.

Die Solidarität der westlichen Internetnutzer dauerte nicht lange an. Als klar wurde, dass die iranischen Behörden die Aufstände niederschlagen konnten, löste der Tod von Michael Jackson die "Grüne Revolution" bereits als populärstes Twitter-Thema ab.

China - Zensur und nationale Lösungen

China hat mit 300 Millionen aktiven Internetnutzern die zahlenmäßig größte Netzgemeinde. Auch in China wird das Internet massiv zensiert. Das nationale Kontrollsystem mit dem Namen "Projekt Goldener Schild" wurde bereits 1998 mit tatkräftiger Hilfe westlicher Technologieunternehmen gestartet und wurde seitdem fortwährend weiterentwickelt. China sperrt dabei ganze Domains, einzelne IP-Adressen und benutzt auch verschiedene inhaltssensitive Filter. So sind die Seiten verschiedener westlicher Medien und alle Seiten, die sich für den Dalai Lama oder die Sekte Falun Gong einsetzen, vom Boden der Volksrepublik China aus nicht zu erreichen. Da die genannten Seiten bei den chinesischen Internetnutzern nicht sonderlich populär sind, fällt diese Form der Zensur im Alltag jedoch kaum auf.

Probleme mit der staatlichen Zensur haben vor allem chinesische Blogger. Ihnen wird durchaus zugestanden, politische Kritik zu äußern - es gibt jedoch einen sehr genauen, inoffiziellen Code, was wie weit kritisiert werden darf. So stellt es gemeinhin kein Problem dar, wenn Blogger Fälle von Korruption bei den lokalen Parteikadern aufdecken. Verboten ist jedoch jegliche Form der Fundamentalkritik an der Volksrepublik beziehungsweise der kommunistischen Partei, sowie jegliche Sympathiebekundung für den Dalai Lama und Falun Gong. Um die Behörden zumindest im kleinen Bereich zu täuschen, ist es in China populär, bestimmte Codewörter zu benutzen. So wird beispielsweise das chinesische "Domestic Security Department" - ein Teil des Inlandsgeheimdiensts, der sich vor allem um Menschenrechtler und Dissidenten "kümmert" - oft als "Panda" bezeichnet. In vielen Fällen haben diese Codes jedoch nur eine begrenzte Lebensdauer - sobald die Behörden den Code geknackt haben, müssen sich die Dissidenten einen neuen ausdenken.

Auch in China gab es im letzten Jahrzehnt zahlreiche Fälle, bei denen das Netz eine kritische Masse erreichen konnte, die eine potentielle Gefahr für die Behörden darstellte. China hat jedoch aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und bezieht das Netz mittlerweile ein. So wurde beispielsweise im Jahre 2009 ein 24 Jahre alter Bauer namens Li Qiamong wegen illegalen Holzschlags verhaftet. Nach seiner Verhaftung starb Li im Gefängnis und seinen Eltern wurde mitgeteilt, er hätte sich den Kopf eingeschlagen, als er mit anderen Häftlingen Verstecken spielte. Der Todesfall wurde durch ein Blog publik und binnen weniger Tage gab es 100.000 Kommentare. Anstatt das Blog zu zensieren, luden die Behörden die Internetnutzer ein, sich an einer Kommission zu beteiligen, die Lis Tod untersuchen sollte. Später kam zwar heraus, dass diese Kommission eine Alibi-Veranstaltung war, die vor allem aus regierungsfreundlichen Journalisten bestand, aber da hatte sich das Netz schon beruhigt.

Während China hart gegen unbequeme politische Inhalte vorgeht, halten sich die Behörden ansonsten mit Zensur eher zurück. Nachdem man im Jahre 2009 kurzzeitig hart gegen Internet-Pornographie vorgegangen ist, nahm man diese Verbote schnell wieder zurück. Die Behörden erkannten, dass man mit einem Pornographie-Verbot das Volk keinesfalls beruhigen kann.

Vielleicht glauben sie, dass Internetnutzer, die sich ein wenig Pornographie anschauen können, sich nicht mehr so sehr für politische Fragen interessieren.

Michael Anti, ein bekannter chinesischer Blogger, 2009

Chinas besonderes Zensurinteresse gilt jedoch nach wie vor Internetangeboten von westlichen Unternehmen. Sowohl Google, als auch YouTube, Facebook und Twitter waren bzw. sind in China gesperrt. Was in Deutschland wohl einen Volksaufstand auslösen würde, wird in China jedoch kaum wahrgenommen, da diese Dienste in China ohnehin nicht sonderlich populär sind. Chinas Zensur hat nicht nur etwas mit Meinungsfreiheit, sondern auch sehr viel mit einer protektionistischen Wirtschaftspolitik zu tun.

Das chinesische Google heißt Baidu und hat in China einen Marktanteil von 75,4%. Chinas Twitter heißt Sina Weibo und hat mehr als 100 Millionen Nutzer. Chinas Facebook heißt Qzone und verfügt über gigantische 480 Millionen Nutzer - dabei wird es nur noch vom chinesischen Instant-Messaging-Dienst Tencent QQ geschlagen, der über 680 Millionen Nutzerw hat. All diese Unternehmen sind mittlerweile Milliarden wert und haben westlichen Konzernen den Einstieg in den lukrativen chinesischen Markt verbaut. Facebook zählte im Jahr 2009 gerade einmal 14.000 chinesische Nutzer - das ist ein Marktanteil von 0,00046 Prozent.

Russland - iOpium für das Volk und DoS-Attacken

Einen vollkommen anderen Ansatz zur Kontrolle des Internets hat Russland gewählt. Oligarchen, die dem Kreml nahe stehen, und der Staatskonzern Gazprom besitzen oder kontrollieren nahezu das komplette russischsprachige Internetangebot (Runet). Ähnlich wie in China haben auch in Russland und dem russischsprachigen Bereich der ehemaligen Sowjetrepubliken heimische soziale Netzwerke die marktbeherrschende Stellung übernommen. Diese Netzwerke lassen sich dabei relativ leicht von kremltreuen Interessengruppen kontrollieren. Als sich im Dezember 2010 nach den umstrittenen Wahlen in Weißrussland Protestgruppen formierten, verschwand eine Onlinegruppe, die einen der Oppositionskandidaten unterstützte und für die Organisation der Proteste wichtig geworden war, über Nacht aus Vkontakte, dem russischen Pendant zu Facebook.

Die beste Form der Internetkontrolle ist die Kontrolle, die nicht einmal wahrgenommen wird. Russland zensiert nur sehr selten Internetangebote, da dazu nicht einmal die Notwendigkeit besteht. Die russische Internetstrategie hat sich auf Brot und Spiele, mit einer besonderen Konzentration auf die Spiele, verlagert. Mit Sex, Crime und Gossip werden die Internetnutzer sehr erfolgreich ruhig gestellt. Der durchschnittliche russische Internetnutzer debattiert nicht mit Gleichgesinnten über die Segnungen der Demokratie, sondern chattet im Chatroulette (Russland bekannteste Online-Innovation), bloggt auf LiveJournal, schaut sich die "Tits Show" auf russia.ru an oder lädt sich illegale Musik von einem der zahlreichen russischen oder weißrussischen Server herunter, die von den lokalen Behörden geduldet werden.

So lange sich die Nutzer mit Unterhaltungsangeboten die Langeweile vertreiben, ist eine Zensur auch gar nicht nötig. Liberale Demokraten nutzen zwar das Internet, werden jedoch kaum wahrgenommen. Wenn der Staat zur Zensur greift, dann meist bei ultranationalistischen Gruppierungen, die jedoch auch nach deutschen Gesetzen keine Chance hätte, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen.

Die Herren des Kreml nutzen das Netz aktiv. Präsident Medwedew bloggt beispielsweise "selbst" auf LiveJournal und vermittelt zumindest den Eindruck, als gehe er auch aktiv auf die Beschwerden im Kommentarbereich ein. So wurden bereits häufiger korrupte Beamte aufgrund einer Anzeige im Blog des Präsidenten gemaßregelt. Es sollte jedoch auch erwähnt werden, dass auch einige Beschwerdeführer, die sich online an den Präsidenten wandten, von ihren Vorgesetzten gemaßregelt wurden. Medwedew und Putin beherrschen die Kunst der Partizipationssimulation perfekt.

Anstatt missliebige Seiten zu zensieren, werden diese Seiten immer häufiger Opfer von DoS-Attacken. Neben oppositionellen Zeitungen musste beispielsweise auch die Internetseite des ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski aufgrund von DoS-Attacken vom Netz genommen werden.

Cyberattacken sind in Russland ohnehin sehr populär. Als es zwischen Estland und Russland 2007 zu Spannungen kam, setzten angeblich russische Hacker über Wochen große Teile des estnischen Internets kurzerhand außer Betrieb (DoS-Angriffe auf Internetseiten der estnischen Regierung). Ein Jahr später mussten während der russisch-georgischen Krieges verschiedene georgische Seiten nach DoS-Attacken ihren Dienst einstellen. Es ist nahezu unmöglich, die Urheber dieser Attacken ausfindig zu machen - vor allem dann, wenn die Behörden daran kein gesteigertes Interesse haben.

Netzstrategien

Westliche Regierungen haben ein vitales Interesse daran, das Netz als Werkzeug zur Demokratisierung zu stärken. Im Januar 2010 rief US-Außenministerin Hillary Clinton die große Internetagenda aus (Wiederentdeckung der Menschenrechte).

Wir wollen diese Werkzeuge in die Hände der Menschen legen, die sie dazu benutzen, um Demokratie und Menschrechte voranzutreiben.

Hillary Clinton - 2009

Der Plan zu dieser Agenda ist verständlich. Präsident Obama verdankt seinen Wahlsieg zumindest zum Teil Internetaktivisten, die für ihn die Werbetrommel rührten, und seit den Aufständen in Iran war das Internet - zu Unrecht - als Werkzeug des Widerstands in aller Munde. Die große Internetagenda der USA geriet jedoch zum katastrophalen Flop. Clintons große Worte wurden lediglich von den Think Tanks und einigen Technikfirmen in den USA begierig aufgenommen - was verständlich ist, schließlich freute man sich auf die erhofften Schecks aus dem Weißen Haus.

Doch in der Praxis floppte die Agenda. Die einzig nennenswerte Unterstützung kam einem technischen Dienstleister aus dem Umfeld der chinesischen Sekte Falun Gong zu Gute, der sich über einen Scheck im Gegenwert von 1,5 Millionen US$ freuen durfte. Doch sogar diese "Großtat" brachte nur Ärger - China mokierte sich, und selbst die Falun-Gong-Anhänger waren erbost, hatten sie doch eigentlich um 4 Millionen US$ gebeten.

Wie schwierig Clintons Agenda umzusetzen ist, zeigt das Beispiel "Haystack" (Heuhaufen), das als zentraler Punkt der Agenda gedacht war. Haystack sollte eine Wundersoftware werden, mit der Nutzer in Ländern mit einer aktiven Internetkontrolle ihre Spuren wirkungsvoll verschleiern können. So groß der Plan, so bitter der Reinfall. Als Haystack zum ersten Mal in Iran einem Feldtest unterzogen wurde, scheiterte es auf ganzer Linie. Haystack versagte nicht nur beim Umgehen der Filter, sondern brachte darüber hinaus auch seine Nutzer in Gefahr.

Es stellte sich heraus, dass der Heuhaufen, in dem die Nadel zu suchen ist, gerade einmal aus einer Handvoll Strohhalmen besteht und die Nadel auch noch ihre genauen GPS-Koordinaten sendete. Zum Glück wurde Haystack nicht - wie ursprünglich geplant - von 5.000 Iranern, sondern von gerade einmal ein paar Dutzend Iranern getestet, die sich seitdem in akuter Gefahr befinden.

Das Netz als Demokratiesimulation

In Deutschland dient das Internet - neben der Verbreitung von Pornographie und Raubkopien - auch dem politischen Aktivismus. Zwar ist dieser Aktivismus oft auch regierungs- oder gar systemkritisch, aber die Politik braucht deshalb sicher keine schlaflosen Nächte zu haben. Im Gegenteil - auch in Deutschland erfüllt das Netz die Rolle einer Demokratie- beziehungsweise Partizipationssimulation.

Vor allem bei netzaffinen Bürgern sind beispielsweise Online-Petitionen der letzte Schrei. Mit einem Mausklick kann man sich politischen Forderungen anschließen, so als würde man bei StudiVZ sein Gegenüber "gruscheln"; welche dieser beiden Cyberaktivitäten sinnvoller ist, mag umstritten sein. Online-Petitionen ermöglichen es dem Petenten lediglich, bei Erfolg vor dem Petitionsausschuss des Bundestages vorzusprechen - einen bindenden Charakter haben derlei Petitionen freilich nicht.

Zu trauriger Berühmtheit gelangte dabei eine Online-Petition, die sich im Jahr 2010 gegen das vermeintliche Verbot von Heilpflanzen richtete. Diese Petition ging durch Blogs und Foren und wurde schlussendlich von mehr als 120.000 Menschen unterzeichnet. Dumm nur, dass der Inhalt der Petition nichtig war, da die Regierung überhaupt kein Verbot von Heilpflanzen plante. Wie sich später herausstellte, hatte die Petitionsführerin sich bei ihrer Petition inhaltlich auf einen Artikel bezogen, den sie auf einer dubiosen Verschwörungstheoretikerseite gelesen hatte.

Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Online-Kampagnen kommen auch auf, wenn man sich vor Augen hält, dass selbst große Facebook-Gruppen es nicht schaffen, ihren Online-Aktionismus ins Offline-Leben zu überführen. Die Gruppe Save the children of Africa, deren einziger Zweck das Sammeln von Spenden für verschiedene Hilfsprojekte in Afrika ist, verfügt beispielsweise über stolze 1,9 Millionen Mitglieder - an Spenden konnte sie jedoch gerade einmal 13.812 US$ einsammeln, das sind weniger als 1 Cent pro Mitglied.

Ähnlich verhält es sich mit der in Deutschland sehr populären Facebook-Gruppe "Wir wollen Guttenberg zurück". Obwohl diese Gruppe zum Höhepunkt der Guttenberg-Affäre über mehr als 570.000 Mitglieder verfügte, erschienen bei den groß angekündigten Solidaritätsdemos in verschiedenen deutschen Großstädten gerade einmal ein paar hundert Unterstützer, die ihrerseits sogar noch zahlenmäßig in einem Heer von Spöttern untergingen.

Solange die Netzbewohner aber online Petitionen zeichnen oder sich online mit Facebook-Gruppen solidarisieren, kommen sie wenigstens nicht auf die "dumme Idee", ihre Forderungen auf der Straße kundzutun. Trotz großer Partizipation wird das politische Netz in Deutschland abseits rein netzpolitischer Themen inhaltlich weder von den Medien noch von der Politik überhaupt wahrgenommen.

Ernüchterung

Das Internet ist kein rein politisches Medium, das den Menschen zu einem Homo Politicus erzieht. Meist ist eher das Gegenteil der Fall - Pornographie, Raubkopien und oberflächliches Amüsement, das Netz ist ein Aggregator allzu menschlicher Bedürfnisse. Die Studie eines saudischen Forschers offenbarte, dass 70% aller Handyinhalte von saudischen Jugendlichen weder islamistische Propaganda noch demokratische Denkschriften, sondern - wen mag es verwundern - pornographischen Inhalts sind. Autoritäre Staaten dulden daher auch oft lächelnd den Betrieb von Servern mit Raubkopien auf ihrem Staatsgebiet. Wenn die Jugend im Netz nach nackten Brüsten sucht oder die neusten Computerspiele zockt, kommt sie zumindest nicht auf dumme Ideen.

Für Aktivisten und Menschen, die ohnehin bereits hochgradig politisiert sind, ist das Internet ein ideales Medium um sich auszutauschen und um Aktionen zu koordinieren. Die "Gefahr", dass dieser Aktivismus ansteckend sein könnte, hat sich jedoch im Rückblick auf die letzten 15 Jahre als unbegründet erwiesen.

Nye und Keohane hatten 1996 Recht, als sie sagten, dass Information nicht in ein Vakuum fließt, sondern in einen politischen Raum, der bereits gefüllt ist. Der Funke, mit dem die Internetpioniere einen Flächenbrand liberaler Gedanken verbreiten wollten, ist verglimmt. Heute ist die Begeisterung der Ernüchterung gewichen. Das Internet ist nur ein Instrument - weder gut noch böse, weder politisch noch apolitisch.