"Grüße aus einem traurigen Land"

Der Linke-Abgeordnete Jan van Aken, Mitglied im Kundus-Untersuchungsausschuss, über seine Reise nach Afghanistan

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Um sich selbst ein Bild über die Lage vor Ort zu machen, bereiste Jan van Aken gemeinsam mit seiner Fraktionskollegin Christine Buchholz und dem Abgeordneten von Bündnis 90/die Grünen, Christian Ströbele, Anfang Februar Afghanistan, u. a. Masar-i-Sharif, Kundus und Kabul. Auf dem Programm standen Gespräche mit Vertretern der Bundeswehr, der afghanischen Zivilgesellschaft und der UNO sowie mit Menschen aus Wissenschaft, Politik und Entwicklungshilfe. Van Akens Fazit: Notwendig ist der Ausbau nachhaltiger Entwicklungshilfe aufgrund analytischer Konzepte statt Fortsetzung des Militäreinsatzes.

Welchen Eindruck hatten Sie von der Situation im Land?

Jan Van Aken: Afghanistan ist ein Land mit massiven Problemen, nicht nur strukturell in Bezug auf Administration, Justiz und Sicherheit, sondern auch, was die wirtschaftliche Lage betrifft. Es gibt dort unvorstellbare Armut. Eine Frau aus Kundus, eine Mutter, deren Kinder bei der Bombardierung des Tanklasters Anfang September 2009 umgekommen sind, sagte: "Ich wollte, ich wäre nicht so arm, dann hätten meine Kinder kein Benzin holen müssen." Jetzt ist zu befürchten, dass die Ernte katastrophal wird, weil es zu wenig Niederschläge gibt. Das bedeutet, dass es zu einer Hungersnot kommen wird. Das alles hat mich sehr schockiert. Ich habe dann eine SMS nach Hause geschrieben "Grüße aus einem traurigen Land."

War Ihnen bekannt, dass bei der Bombardierung Kinder ums Leben kamen?

Jan Van Aken: Offiziell hieß es zunächst, es seien ausschließlich Taliban betroffen. Dann sickerte durch, dass auch Zivilisten zu Tode gekommen waren. Das hätte sich noch durch die landesübliche Kleidung erklären lassen, alles Männer mit Schnauzbart und Turban, die sind von Taliban nicht unbedingt zu unterscheiden. Allerdings taucht in den Berichten schon nach zwei Tagen ein toter zehnjähriger Junge auf, aber nur dieser eine.

Wir haben in Kundus erfahren, dass insgesamt 26 Schülerinnen und Schüler, 10-, 12-, 14-jährige Kinder, ums Leben gekommen sind. Eine Mutter sagte, nachts um eins seien ihre Kinder nicht mehr zu halten gewesen. Dieser Tankerunfall war ein Happening, hatte so eine Art Volksfestcharakter. Sie müssen sich das so vorstellen, als ob es irgendwo brennt, es gibt ein großes Aufgebot von Löschfahrzeugen, und das ganze Dorf versammelt sich, um zu gucken. Diese toten Kinder sind bis dato nirgendwo erwähnt worden. Okay, ein Kind kann in einer größeren Ansammlung Erwachsener übersehen werden, aber 26 Kinder?

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Arbeit im Untersuchungsausschuss?

Jan Van Aken: Wir müssen klären, wie es dazu kommen konnte. Irgendwer in der Kette aus Informanten und Entscheidungsträgern hat gelogen. Die Frage ist: Wer? Was sind das eigentlich für Informanten, auf die sich die Militärs verlassen? Sind die überhaupt vertrauenswürdig?

Die Bundesergierung hat sich vorgenommen, die Strukturprobleme in Afghanistan zu beheben. Im Rahmen des Programm Focused District Development (FDD) sollen die Polizei Mentoren Teams (PMT) von derzeit 123 auf 200 Beamte aufgestockt werden, die insgesamt 15.000 afghanische Polizisten ausbilden sollen.

Jan Van Aken: Die Polizei agiert quasi militärisch: Sie fahren mit Pickups, auf deren Dächern Maschinengewehre installiert sind. Sie sehen militärisch aus und verhalten sich auch militärisch. Sie sind allerdings nicht so gut ausgebildet wie die Militärs, deswegen kommen mehr von ihnen um. Durch mehr solcher Polizeieinheiten werden die Strukturprobleme sicher nicht behoben.

"Die so genannten Schutztruppen sind Kampftruppen, nichts anderes"

Umfragen zufolge fordern 69% der Befragten den Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan. Trotzdem wird derzeit im Bundestag über die Aufstockung der Truppen um 850, von 4.500 auf 5.350 Soldaten debattiert. Ist das nicht reichlich widersinnig?

Jan Van Aken: Das ist widersinnig, und es ist auch noch gar nicht so klar, ob der Antrag auf Aufstockung des Bundeswehrkontingents im Bundestag so durchgewunken wird. Die Linke stimmt natürlich geschlossen dagegen, aber auch bei den Grünen und in der SPD gibt es starken Widerspruch dazu, und selbst in FDP und CDU ist mit Gegenstimmen zu rechnen. Das könnte sehr, sehr knapp werden.

Nun soll ja die Aufstockung einhergehen mit einem geänderten Auftrag: Laut Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg soll das Engagement stärker auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte ausgerichtet werden.

Jan Van Aken: Egal, wie der Einsatz genannt wird, es ist und bleibt ein Kriegseinsatz. Die so genannten Schutztruppen sind Kampftruppen, nichts anderes. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet. Von den derzeit dort stationierten deutschen Soldaten ist nur ein geringer Teil zur Ausbildung der Afghanischen Nationalarmee (ANA) eingesetzt. Die anderen sind notwendig, um die Ausbildungsmaßnahmen militärisch zu flankieren. Das wird bei den 850 Soldaten, die jetzt zusätzlich nach Afghanistan geschickt werden sollen, nicht anders sein. Wenn ein militärischer Aufbauhelfer sich von A nach B bewegen will, dann wird er begleitet von einer Kolonne von vielen Schützenpanzern und Dutzenden schwer bewaffneter Soldaten. Ist doch klar, wofür der Großteil der Soldaten eingesetzt würde.

Nach offizieller deutscher Lesart sind in Afghanistan reine Schutztruppen stationiert. Das führt zu einigen Kuriositäten. So bekam die Transall-Maschine, mit der wir nach Kundus geflogen sind, keine Starterlaubnis, weil die Sicht in Kundus nicht klar genug gewesen wäre. Trotzdem zu fliegen wäre technisch machbar gewesen, für den Piloten auch kein Problem. "Aber", so wurde uns von dem Befehlshabenden gesagt, "wir fliegen nach Friedensregeln." Da die ganz Mission so "friedlich" war, flog die Transall dann im Sturzflug den Flughafen in Kundus an. Eine normale Landung wäre viel zu gefährlich, weil sie dann viel zu lange eine viel zu große Angriffsfläche für die Aufständischen bieten würden. Und wir wurden im Flugzeug entsprechend "friedlich" ausgerüstet: Schusssichere Westen, Helme, etc.

Die Frage Truppenabzug wird hierzulande kontrovers diskutiert. Auf welche Meinung sind Sie bei Ihren afghanischen Gesprächspartnern gestoßen?

Jan Van Aken: Das ist kein großes Thema in Afghanistan. Aber wir haben natürlich nachgefragt. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass unsere afghanischen Gesprächspartner durchaus unterschiedlicher Meinung waren. Grundsätzlich scheinen die deutschen Soldaten dort hohes Ansehen zu genießen. Das wurde uns mit traditionell guten Beziehungen zwischen Afghanistan und Deutschland erklärt. Diejenigen, mit denen wir gesprochen haben, gehören fast alle zur Bildungselite des Landes. Die haben Verwandte in Deutschland, oder selbst hier studiert, oder zumindest in Europa.

Ganz oft wurde auf die Frage nach Truppenabzug geantwortet, die Deutschen mögen die Afghanen nicht mit den US-Soldaten alleine lassen. Einige unserer Gesprächspartner sagten, die führten Krieg "wie gegen Tiere". Scheinbar haben sie vor denen richtig Angst. Aber es gibt auch andere Stimmen, und der stellvertretende Vizepräsident Amanullah Paiman brachte das auf den Punkt: "Mehr Soldaten, mehr Probleme."

Welchen Eindruck hatten Sie von den deutschen Soldaten, mit denen Sie vor Ort gesprochen haben?

Jan Van Aken: Diese Gespräche haben mich sehr überrascht. Als überzeugter Pazifist und Zivildienstleistender hatte ich das Bild von Soldaten als völlig unkritische Befehlsempfänger. Dieses Bild musste ich gründlich revidieren. Diejenigen, mit denen wir gesprochen haben, und das waren Soldaten mit unterschiedlichen Dienstgraden, machten einen extrem reflektierten Eindruck auf mich, als ob sie durchaus hinterfragen, was sie da tun. Natürlich können sie nicht die Entscheidungen aus Berlin ignorieren, aber sie scheinen sich bei der Umsetzung schon kritisch damit auseinanderzusetzen.

Kleine Anekdote am Rande: Mir war aufgefallen, dass die Soldaten dort alle Palästinensertücher trugen. Ich habe dann gewitzelt, "das ist ja wie in den 80er Jahren, als die Linken alle mit Palitüchern rum liefen, um ihre Solidarität mit den Palästinensern zu demonstrieren". Das habe mit politischer Gesinnung nichts zu tun, wurde mir geantwortet, sondern sei einfach der beste Schutz gegen den Sand. Deshalb werden die Tücher standardmäßig mit der Bundeswehrkleidung ausgegeben.

"Sagt mal Eurer Regierung, dass sie mit den Mördern und Folterknechten in unserer Regierung aufräumen soll"

Sie sagten, über Truppenabzug werde an sich nicht diskutiert. Welche Themen waren Ihren Gesprächspartner wichtiger?

Jan Van Aken: Ein wichtiges Thema ist die Korruption im Land, dafür steht die Regierung von Präsident Hamid Karsai. Die besteht größtenteils aus ehemaligen Warlords, die nur ihre Interessen vertreten. Uns wurde mehrfach gesagt: "Sagt mal Eurer Regierung, dass sie mit den Mördern und Folterknechten in unserer Regierung aufräumen soll."

Das fände ich nun reichlich kolonialistisch, wenn die Bundesregierung sich anmaßen würde, die afghanische Regierung zu besetzen. Aber im Grunde genommen ist das richtig, so lange die Korruption nicht abgeschafft wird, und immer dieselben Kräfte die immer gleichen Stammesfehden führen werden, wird sich nichts ändern in Afghanistan.

Gibt es denn politische Kräfte, die ein solches Vakuum, das dann ja zweifelsohne entstehen würde, füllen könnten?

Jan Van Aken: Es gibt sehr wohl politische Gruppierungen und auch Persönlichkeiten jenseits der althergebrachten Machtstrukturen, jenseits von Warlords und Taliban. Beispielsweise haben sich 16 Abgeordnete zu einer Fraktion zusammen geschlossen, die sich "Der 3. Weg" nennt. Deren Sprecherin ist eine Frau. Außerdem bekam Ramazan Bashardost bei den letzten Parlamentswahlen 10%. Das klingt nicht viel, aber er bekam sie in allen Landesteilen. Er hat keine fragwürdige Vergangenheit, lebt in einem Zelt vor dem Parlament und hat Wahlkampf in allen Landesteilen gemacht. Das ging völlig problemlos, weil er Ehrlichkeit und Souveränität vermittelt. Er ist ein Hazara, die von jeher mit den Paschtunen verfeindet sind, aber er konnte selbst im Paschtunengebiet unbehelligt Wahlkampf machen und bekam auch dort 10% der Stimmen. Das zeigt, dass ein ziviles Leben möglich ist.

Derzeit wird hierzulande ein Ausstiegsprogramm für Talibankämpfer diskutiert. Wie nahmen Ihre Gesprächspartner diesen Vorschlag auf?

Jan Van Aken: Das ist ähnlich wie die das Thema Truppenabzug: Es spielt eigentlich dort keine Rolle. Wenn wir nachgefragt haben, sind wir auf ziemliches Unverständnis gestoßen. Wir wurden gefragt, warum diejenigen, die gekämpft, gefoltert und gemordet haben, dafür belohnt werden sollen, dass sie tun, was alle Menschen tun sollten: friedlich leben? Diejenigen, mit denen wir sprachen, fanden das sehr ungerecht der großen Mehrheit der Menschen in Afghanistan gegenüber. Was Ihnen allerdings gefallen würde, wäre, wenn die Gelder in Projekte fließen würden, von denen alle profitieren.

"Die Bundeswehr muss raus aus Afghanistan"

Karsai kündigte auf der Sicherheitskonferenz in München an, sein Land werde 2015 selbst in der Lage sein, für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Spräche das nicht dafür, diese Bestrebungen mit entsprechenden Maßnahmen, z. B. Ausbildung von Polizei und Armee, zu unterstützen?

Jan Van Aken: Wie ich schon sagte, was von der Regierung als Ausbildungsmaßnahme verkauft wird, ist nichts weiter als eine Verstärkung der militärischen Operationen. Damit wird letztendlich gar nichts stabilisiert, sondern die Lage wird immer instabiler werden.

Sie haben in wenigen Tagen viel erlebt in Afghanistan, haben Vorurteile abbauen, Bilder im Kopf revidieren und Klischees über Bord werfen müssen. Nach all diesen Erfahrungen und den Eindrücken durch die Gespräche, die Sie geführt haben: Was würden Sie sagen, ist Ihr Fazit aus dieser Reise?

Jan Van Aken: Zunächst einmal musste ich feststellen, dass die Realität dort überhaupt nicht mit dem durch westliche Medien und führende Politiker gezeichneten Bild übereinstimmt. Wir haben am Tag vor unserer Abreise noch im Kanzleramt gesessen und mit Frau Merkel, Herrn zu Guttenberg, Herrn Westerwelle und anderen Politikern geredet. Das war ein ganz anderes Land, über das wir dort gesprochen haben, als das, was wir dann kennen gelernt haben.

Ganz grundsätzlich würde ich sagen, nach Abwägung all der Argumente dafür und dagegen: Die Bundeswehr muss raus aus Afghanistan. Das Land befindet sich seit Jahrzehnten im Krieg, durch noch mehr militärische Operationen wird es nie zur Ruhe kommen. Um eine Zivilgesellschaft aufzubauen wäre es nötig, alle im Land agierenden Kräfte einzubeziehen, auch die Taliban. Diese Forderung ist hierzulande nicht salonfähig, aber ohne sie wird es nicht gehen. Nur wenn sie in den Wiederaufbau des Landes und die Rekonstruktion der politischen Strukturen einbezogen werden, gibt es eine Chance auf dauerhafte Waffenruhe.

Diese Bemühungen müssen durchaus von außen unterstützt werden, aber durch den Ausbau nachhaltiger Entwicklungshilfe, und nicht durch Truppenverstärkung. Die Gelder, die für das Militär ausgegeben werden sollen, müssen zu Entwicklungshilfegeldern umgewidmet werden.

Wird es möglich sein, Entwicklungshilfe zu leisten, ohne sie mit militärischen Maßnahmen zu flankieren?

Jan Van Aken: Schon sehr lange beklagen Nichtregierungsorganisationen (NGO), dass sie in Kriegsgebieten, insbesondere auch in Afghanistan, durch militärische Operationen zur Zielscheibe von bewaffneten Aufständischen würden und somit bei ihrer Arbeit gefährdet seien. Nachdem, was ich gesehen habe, ist das tatsächlich so.

NGOs haben einen ganz anderen Arbeitsstil als die Militärs. Wir haben mit Vertreterinnen und Vertretern der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) gesprochen, die arbeiten mit dem Tribal Liaison Office (TLO) zusammen, die einen Analyseplan für die entsprechende Region erstellen: Was für Gruppen gibt es da überhaupt? Wer redet gerade mit wem warum nicht? Wer schießt gerade warum auf wen? Wer hat da das sagen? Wenn diese Strukturen durchschaut werden, ist es möglich, alle einzubeziehen und gemeinsam Projekte zu entwickeln, die alle wollen, und die allen nützen. Ganz ohne militärische "Unterstützung". Da kommt dann auch kein Taliban-Kommando und zerstört alles wieder. Auf diese Weise ist in der Region Kandahar z. B. eine Mädchen-Technik-Schule entstanden. Dieses Konzept scheint mir Erfolg versprechender, als mehr Soldaten zu schicken.