Häng' das Parlament!

Taktisches Wählen soll das britische Wahlsystem verändern

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Angesichts der Aussichten auf ein "hung parliament” ist in den letzten Tagen vor der britischen Unterhauswahl das "tactical voting" zur Vermeidung einer Pattsituation ins Gerede gekommen. Das Mehrheitswahlrecht in den insgesamt 650 Wahlkreisen und die Konstellation mit drei relativ gleich starken Konkurrenten befördern dabei die Möglichkeiten zum "Stimmentausch" quer zu den Parteigrenzen. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2000 wurde das so genannte "Vote Swapping" über Online-Plattformen zur Vermittlung kooperationswilliger Tauschpartner organisiert - hierfür scheint es in Großbritannien bereits zu spät, doch in Zeiten der politischen Echtzeitkommunikation via Twitter oder Facebook ist auch am Wahltag noch vieles möglich.

Die Möglichkeit zur "taktischen Stimmabgabe" entgegen der eigentlichen Parteipräferenz wird inzwischen sogar von einigen Labour-Politikern propagiert. So hoffen etwa Erziehungsminister Ed Balls oder der Minister für Wales, Peter Hain, auf ein "intelligentes Verhalten" an der Wahlurne und empfehlen den eigenen Anhängern, für die Liberaldemokraten von Nick Clegg zu stimmen - sofern dadurch im Wahlkreis ein Erfolg der Konservativen verhindert wird.

Dieses im britischen Zwei-Parteien-System bislang unbekannte "Lagerdenken" und eine fehlende "Koalitionskultur" erschwert die taktische Stimmabgabe allerdings. Die Dominanz von Labour-Partei und Konservativen hatte bislang stets zu Mehrheiten geführt und ein mehr oder weniger stabiles Regieren ermöglicht – ein typischer Effekt in Zwei-Parteien-Systemen. Das Aufkommen der Liberaldemokraten als "dritte Kraft" und insbesondere die gute Performance des Vorsitzenden Nick Clegg in den TV-Debatten scheinen die Machtverhältnisse ins Wanken gebracht zu haben. In den Umfragen liegen die Liberaldemokraten (26%) nur knapp hinter Gordon Browns angeschlagener Labour-Partei (29%), die Konservativen (35%) unter David Cameron erzielen die besten Prognosewerte.

In diese Konstellation platzen nun Empfehlungen wie die der Guardian-Kolumnistin Jackie Ashley, die in einem "Bekennerschreiben" erläutert wie sie einen Stimmentausch organisiert, um in ihrem Wahlkreis die konservativen Tories zu blockieren: "Ein Freund in Streatham unterstützt für mich den Labour-Kandidaten, während ich den Liberaldemokraten in Richmond für ihn wähle."

Die durchaus emphatisch vorgetragene Empfehlung ähnelt einem Vorbild aus dem Jahr 2000: mit seinem kurzen Artikel Nader's Traders hatte damals der Rechtswissenschaftler Jamin Raskin die Möglichkeiten des "Vote Swapping" anlässlich der US-Präsidentschaftswahl skizziert. Online-Handelsplätze wie "Voteswap2000", "Win Win Campaign", oder "VoteExchange" hatten sich an Anhänger von Al Gore sowie Wähler des Verbraucheranwalts Ralph Nader gerichtet. Diese Allianz hatte einen Wahlerfolg von George W. Bush verhindern sollen. Die Websites funktionierten dabei nach dem Muster einer Kontaktbörse: kooperationsbereite Wähler wurden quer zu bundesstaatlichen Grenzen miteinander in Verbindung gebracht und konnten dann ihre Stimme für ein "Vote-Swapping" zur Verfügung stellen.

Ähnliche Angebote gibt es nun auch in Großbritannien, allerdings weniger als lagerorientierte Wählervermittlungsbörse. Die optisch unspektakuläre Plattform tacticalvoting.org hält eine "Gebrauchsanweisung" zum Stimmentausch bereit und erläutert wahlrechtliche Implikationen wie etwa das umstrittene "first past the post"-Verfahren:

Bei nur zwei Kandidaten ist das System perfekt. Jeder Kandidat braucht die Mehrheit der Stimmen, um zu gewinnen. Bei steigender Zahl der Kandidaten wird das System jedoch unfair. Gibt es zum Beispiel fünf Kandidaten, genügen dem Sieger gerade mal 20% plus eine Stimme zum Erfolg.

Doch natürlich gibt es auch Möglichkeiten zur Anbahnung eines Stimmentausches – zeitgemäß geschieht dies via Facebook, etwa in der Gruppe Voting Buddies. Als zentrale Motivation dient auch hier die Verhinderung einer verlorenen Stimme ("wasted vote"):

Du möchtest deine Stimme der Partei deiner Wahl geben – dort, wo sie auch etwas zählt? Dann brauchst du einen Stimmenpartner. Lies weiter, wenn du genauer wissen willst wie es funktioniert – ich würde sagen, es ist eine Kontaktbörse für Wähler...

Der Ton der Zielgruppenansprache macht deutlich, dass es sich hier vor allem um ein Angebot für Jung- und Erstwähler handelt. Bislang sind der Gruppe nur etwas mehr als 600 Nutzer beigetreten, jedoch ist der Stimmentauch per se ein Nischenphänomen. In knappen Wahlkreisen genügen bisweilen tatsächlich einige wenige Stimmen, um das Ergebnis zu verändern – das war schon bei der US-Wahl 2000 so, als wenige tausend Tauschstimmen im entscheidenden Bundesstaat Florida das Resultat beinahe gedreht hätten.

Noch drastischer zu Werke geht die Website hang-em.com. Auch hier können sich tauschbereite Wähler über die Wahlkreisgrenzen hinweg mit "Gleichgesinnten" vernetzen, die Motivation ist allerdings gleich die Modernisierung des ganzen Wahlsystems. Gezielt sollen Kandidaten aus den "dritten Parteien" unterstützt werden, die eine Mehrheitsbildung nach klassischem Muster verhindern:

Die Idee ist einfach. Hang'em ist eine Methode, um sich im ganzen Land zu vernetzen und Kandidaten zu wählen, die für ein "hängendes Parlament" sorgen. Wir müssen die Demokratie in Großbritannien erneuern. Sie (die Politiker) tun es nicht, also "hängen" wir sie, bis sie es tun!

Neben der Kritik am bestehenden Wahlsystem ist das "tactical voting" auch ein Effekt der fortschreitenden "Medialisierung des Wahltages", die nun auch in Großbritannien eine neue Dimension erreichen wird. Die breite Nutzung des "Social Web" durch die Politik bringt stets auch eine wählerseitige Dynamik hervor - während die Browns, Camerons und Cleggs auf Wählermobilisierung via Twitter und Facebook setzen, twittern die Wähler Fotos aus den Wahllokalen, vermelden in 140 Zeichen Ort und Zeitpunkt ihres Urnengangs oder stimmen bis zuletzt ihr konkretes Stimmverhalten mit anderen Wählern ab: die "Social Media Election" zum britischen Unterhaus erprobt auf diese Weise die Möglichkeiten des politischen Echtzeit-Internet.